Gedanken eines philosophischen Lastträgers

Hans F. Geyer

 

Gedanken eines philosophischen Lastträgers

 

Zur Phänomenologie des 20. Jahrhunderts

 

Zürich: Origo Verlag 1962

 

 

INHALT

Wie heisst unser Jahrhundert?

Der Lastträger

Über die Existenzphilosophie

Die «Wiederholung»

Idyll und Terror

Der Bürger

Die Philosophie als Tauromachie

Die Wissenschaftskirche

Der «Dieb in der Nacht»

Varia Kurzessays

Varia Aphorismen

 

 

VORWORT

Unter meinen französischen Maximen, die im April-Heft 1961 der «Nouvelle Revue Française» publiziert wurden, steht folgender Aphorismus, den ich als Motto dieser kleinen Sammlung voranstellen möchte:

Je vis dans deux mondes, le monde de ma profession, le monde de ma vocation. Je porte deux noms, je possède deux existences. L'un des noms est l'anonyme de l'autre. Double anonymat au lieu du simple anonymat de M. Teste.

 

Wenn ich also zwischen Beruf und Berufung lebe, so will das nicht heissen, dass ich «neben» meinem Beruf philosophieren würde, sondern es bedeutet vielmehr, dass meine Philosophie sowohl den Beruf wie die Berufung begreift und umgreift, ja, die Ausübung meines Berufs ist ein Teil meiner «Lebensphilosophie», da sie eine für die Entstehung der Philosophie wesentliche Gemütsstimmung schafft, nicht der Qualität, wohl aber der Funktion nach zu vergleichen der Apathie der alten Stoiker oder der Ataraxie der antiken Skeptiker. Es geht mir um das «Gedankenexperiment» meines Lebens, das bisher seinen Niederschlag gefunden hat in dem ungefähr 1900 Druckseiten starken Manuskripts meines «Philosophischen Tagebuchs». Man wird sagen: der Berg hat eine Maus geboren! Nun, wenn der Leser es nur will, so wird ihn die Maus zum Berge führen.

 

H. F. Geyer

 

 

Wie heisst unser Jahrhundert?

 

Diogenes Laertius erzählt, dass unter den Philosophen Athens einer gewesen sei, den sie den Lastträger nannten. Er hätte während des Tages Lasten getragen, abends aber Philosophie getrieben.

 

MAN KANN NUR LEBEN und sterben mit seinem Jahrhundert, man kann stark, man kann schwach sein nur mit ihm. Wie heisst unser Jahrhundert, welches ist sein Wesen?

 

Es heisst Fragment, sein Wesen ist das Fragmentarische. Wenn man dem Sinn der modernen «Formzertrümmerung» nachgeht, in Musik, Malerei und Bildhauerei sowie in der Literatur, so wird man darin so etwas wie ein Schicksal unseres Jahrhunderts erblicken, aber auch ein Mass seines höchsten und echtesten Könnens. Wir leben wieder in jener Frühzeit (genau: in jener frühen Spätzeit, die damals schon eine frühe Spätzeit war) von der Empedokles spricht, und sehen umherirren einzelne Augen und Glieder, die ihre Ergänzung und ihr Ganzes suchen. Aber die Bruchstücke passen zueinander. Es entsteht also doch wieder ein Ganzes, jedoch anderer Art.

Welcher Art ist nun dieses Ganze? Welcher Art ist die Form, die diesem Ganzen entspricht? Man kann sagen, dass es eine Form mehr innerer als äusserer Art ist, eine Form, die der Stimmung des Ganzen sehr viel verdankt. Die Fragmente erscheinen aufgereiht wie die Perlen einer Perlenkette auf dem Leitfaden der Stimmung. Das Ganze, vorgegeben und vorverwirklicht in der Stimmung, entsteht ständig, wird und entwickelt sich weiter von Fragment zu Fragment.

Die Zeit des übersehbaren Ganzen, entsprungen einer kulturellen Einheit, ist vorbei. Es muss alles neu geschaffen werden. Deshalb ist eine Abgeschlossenheit des Werkes im alten Sinne gar nicht mehr möglich. Es würde dies bedeuten: eine Realisation über die Möglichkeit der Realisation hinaus. Das Werk tritt damit in innige Gemeinschaft mit dem Leben. Es wird zum eigentlichen Lebenswerk und Werkleben. Die Zeit (und zwar eine sehr ausgedehnte und umfassende Zeit) tritt sowohl als die Dimension des Werkes wie als die Dimension des Lebens auf und immer mehr als die dieselbe Dimension beider. Damit kommen wir in der Literatur zu dem, was die Franzosen das livre absolu» nennen, zu verstehen zugleich als Lebenswerk und als Werkleben. Nicht mehr wird das Werk ferngehalten vom Leben, nicht mehr das Leben ferngehalten vom Werk, die Form ist nicht mehr, was über dem Leben thront, sondern sie wird Form aus dem Leben selbst, zugleich aber neu geschaffene Form, also nicht überlieferte, voraussehbare.

 

Mit dem Fragmentarischen meine ich nicht wenig, ich meine damit geradezu die absolute Grösse des Fragments. Und ich meine damit zwar nicht die Vollkommenheit, wohl aber die umfassende Vollständigkeit, die zu erlangen das systematisch Zusammenhängende nicht hoffen kann.

 

Fragmentarische Zeiten sind immer auch zukunftsträchtig, so die Zeit Christi. Das Neue Testament ist ein Aphorismus, eine Verkürzung, ein Beispiel. Die Systeme kommen nachher.

 

Man ist im Begreifen unserer Zeit schon recht weit gekommen, wenn man einsieht, inwiefern das Fragmentarische und das Vollständige, das System und das Vollkommene zusammengehören. Die Kehrseite des Vollkommenen ist die Unvollständigkeit, die Kehrseite des Vollständigen das Fragmentarische. Man könnte dieses Verhältnis auch so ausdrücken: das Vollkommene ist ein geschlossenes, das Vollständige ein offenes, über sich hinausweisendes Fragment.

 

Es ist der Versuch einer Phänomenologie des 20. Jahrhunderts, der Versuch, dessen Gesamtphänomen in den Blick zu bekommen.

 

Es geht gar nicht um irgendeine Zeit, nicht wie bei Heidegger um irgendeine Zeit der Weltgeschichte, nicht wie bei Jean Paul Sartre und Ernst Bloch um irgendeine Phase marxistischer Entwicklung, sondern um die qualifizierte Zeit unseres Jahrhunderts. Wir können gar nicht in die Zukunft blicken, wenn wir keinen Standpunkt haben, wenn wir nicht wissen, wo wir stehen.

 

Was hat denn die Weltgeschichte, was hat der Marxismus mit unserm Jahrhundert zu schaffen? Es ist wahr, dass unser Jahrhundert der Weltgeschichte angehört, es ist wahr, dass ihm die Lösung auch des marxistischen Problems obliegt. Aber weder das eine noch das andere trägt viel zu seiner Beschreibung bei, zur Beschreibung der intimsten Wirklichkeit und Möglichkeit des Seins unserer Zeit.

 

Ein Jahrhundert kommt - vor allem in seinem Bewusstsein - meistens erst in seiner zweiten Hälfte zu sich selbst. Vieles sowohl im politischen wie im kulturellen Leben der ersten Hälfte des zwanzigsten gehört eigentlich noch dem neunzehnten Jahrhundert an.

 

So vielleicht der erste und der zweite Weltkrieg, so vielleicht Thomas Mann.

 

Zweifellos gehört der zweite Weltkrieg philosophisch gesprochen dem 19. Jahrhundert weniger eindeutig an als der erste. Da der Nationalsozialismus doch den Sprengstoff für den Zweiten Weltkrieg geliefert hat, so ist es wohl erlaubt, ihn ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken.

Die Rassenlehre (Gobineau, Darwinismus, Houston Stewart Chamberlain) ebenso die damit verbundene Romantik (rassische Prophetie mit Akzent auf den Wagneropern) auch der naive Anspruch naturwissenschaftlicher Exaktheit (Schädelmessung) sind 19. Jahrhundert. Ich erinnere an die Ironie Hegels, mit welcher er in der «Phänomenologie» die Phrenologie Galls glossiert hat: der Geist sei ein Knochen. Was aber beim Nationalsozialismus eindeutig zum 20. Jahrhundert gehört, was auch nach dem Zeugnis von Ernst Bloch als Überraschung wirkte, das war die Verbindung von Nationalismus und Sozialismus. Das gab es noch nicht, das war neu. Das Neue, so lange es sich noch nicht erschöpft hat, wirkt ja immer recht bestechend. Der Nationalsozialismus fiel damit in die Flanke der Sozialisten, in die Flanke der Kommunisten. Diese hatten nichts davon geahnt, sie hätten sich nicht träumen lassen, dass so etwas möglich wäre!

 

Bei Thomas Mann verhält es sich ähnlich. Er bemüht sich um das 20. Jahrhundert vor allem in seinem Alterswerk «Dr. Faustus». Es ist ein mit grosser Anstrengung geschriebenes, aber auch bis zum äussersten verkrampftes Werk. Der «Chronist», d. h. die fiktive, etwas altfränkische Person, die Thomas Mann einsetzt, um die ganze Geschichte zu berichten, sagt einmal selbst: Ich schreibe schlecht. Thomas Mann möchte das 20. Jahrhundert mit den Kategorien des 19. begreifen, so Originalität, Genialität, Einzigartigkeit, Einsamkeit, Verstiegenheit, Romantik. Aber Thomas Mann ist viel zu gescheit, um sich damit zu begnügen, es gelingt ihm, die «Pädagogische Provinz» Goethes in die richtige Beziehung zu unserer Zeit zu bringen. Dieser Begriffskonstellation verdankt der Roman seine besten Stellen. Es wäre vor allem zu nennen die Schilderung von Beethovens Schöpferqual, woraus sich die ganz «unhumanistische» (wohl aber echt humanitäre) Folgerung ergibt, die Thomas Mann daraus zieht, nämlich dass eine «Originalität», die solche Opfer fordere, keine Zukunft mehr habe, ganz einfach deshalb, weil hier keine Entwicklung mehr möglich ist: diese Opfer können nicht mehr überboten werden. Rein negativ gesehen also, hat Thomas Mann einen Beitrag zur Phänomenologie des so. Jahrhunderts geleistet.

 

Es gibt Zeiten, die im Zeichen der Diastole (Ausdehnung, Zersplitterung, allgemeine Menschlichkeit, Humanismus, Individualismus) stehen. Ich bin überzeugt, dass das 20. Jahrhundert im Zeichen der Systole lebt (Konzentration, Humanität anstatt Humanismus, Sozialismus anstatt Nationalismus, Praxis anstatt Theorie, Technik anstatt Wissenschaft).

Aber gerade diese Entwicklung mag erklären, warum im schärfsten dialektischen Gegensatz dazu das literarische 20. Jahrhundert eingeleitet wurde durch grosse Vertreter der «diastolischen» Richtung, so etwa: Proust, Thomas Mann, Hofmannsthal, Rilke. Sowohl bei Ernst jünger wie bei Franz Kafka kündigt sich die «neue Enge» schon deutlich an, die wahre und klassische «angustia» unseres Jahrhunderts. Die diastolische Philosophie hat ihr Recht, sie ist unser «Prinzip Hoffnung», aber sie wird uns keinen Engpass ersparen, den wir nicht mutig erobern.

Die Politik ist dem allgemeinen Geiste vorangegangen: ich nenne den Faschismus, den Bolschewismus. Zu bedauern ist nur, dass diese Richtung dem Moloch so viele Menschen und so viel Menschlichkeit geopfert hat und noch opfern wird, so dass die Bewegung der Systole, der Konzentration überhaupt verdächtig erscheint und verdächtigt werden kann. Die Kehrtwendung Ernst Jüngers vom «Arbeiter» zu den «Marmorklippen» ist in dieser Hinsicht charakteristisch.

Es ist meine Überzeugung, dass die Menschlichkeit auch dann bewahrt werden kann, wenn die Aufgaben, die die Gesellschaft stellt, recht ernst genommen werden. Die massvolle Mitte zwischen Individuum und Gesellschaft muss auf eine neue Art und Weise, auch mit neuen Mitteln behauptet werden (als Antwort auf die Herausforderung unseres Jahrhunderts!), ja sie muss neu gefunden und erfunden werden. Weder eine liberale, noch eine sozialistische, noch eine kommunistische Philosophie kann uns diese Aufgabe abnehmen. (Ludwig Hohl warnt in diesem Zusammenhang vor den «vor langer Zeit Erlösten»).

 

Für das im Zeichen der Systole stehende Zeitalter könnte man auch den Ausdruck «ethisch bestimmte Epoche» verwenden, dagegen wäre das im Zeichen der Diastole stehende als «ästhetisch bestimmt» anzusprechen. Das Ästhetische geht auf den Intellekt, das Ethische auf den Willen. Jenes geht auf Betrachtung aus (wissenschaftliche, poetische, philosophische), dieses auf Entscheidung, auf Handeln, auf die Tat (religiöse, philosophische, politische), jenes gehört der theoretischen Vernunft, dieses der praktischen an. Kein Mensch aber kann rein ästhetisch (als rein Betrachtender), kein Mensch auch rein ethisch (als rein Handelnder) leben. Die Mischung der beiden Lebensprinzipien des Ethischen und des Ästhetischen ist zu vergleichen der Mischung des Sauerstoffs und des Stickstoffs in der Luft. Zu viel Sauerstoff (entsprechend einer tyrannisch ästhetischen Dominante) und der Mensch «verbrennt», zu wenig Sauerstoff (entsprechend einer annähernd absoluten Vorherrschaft des ethischen Prinzips) und der Mensch erstickt.

 

Erstickungssymptome im Osten, Verbrennungssymptome im Westen.

 

Freilich ist diese Einteilung nicht durchaus richtig, denn es gibt mindestens einen mächtigen Faktor, ein mächtiges Element, das sich quer durch alle politischen Fronten hindurch manifestiert: es ist die moderne Industrie. Auch sie ist vorwiegend ethisch bestimmt und geht eigentlich auf Handlung aus, die Betrachtung hat nur insofern Interesse für sie, als sie der praktischen Absicht dient (etwa als wissenschaftliche Technik).

Aber diese moderne Industrie ist ein rein rationales Gebilde, deren Ursprung nur begünstigt wurde durch religiöse Entwicklungen, ein rein rationales Gebilde, das sich sein Ziel selbst setzt und nach eigenen Gesetzen vorwärts schreitet. Seine Ethik steht nicht im Zusammenhang mit einer Religion, es fehlt ihm also auch das Mass des Menschen, woraus folgt, dass die moderne Industrie ständig versucht, den Menschen als Mittel, als blosses Material für ihre Zwecke zu verwenden. Industrie und Technik, als an sich sinnlose rationale Gebilde, müssen wieder in «Dienst» genommen werden, d. h. die Verbindung zwischen industrieller und technischer Ethik und der Religion muss wieder hergestellt werden, was aber nur geschehen kann, wenn die Religiösen unserer Zeit ihre ästhetische Haltung aufgeben, wenn sie aufhören, sich der Wahrheit (etwa der Offenbarung) nur zu erinnern, wenn sie sich dort wieder zur Tat aufraffen, wo sie sich jetzt rein betrachtend verhalten.

 

Im ästhetischen Zeitalter (dem Zeitalter menschheitlicher Diastole) wird nicht weniger Energie verausgabt als im ethischen Zeitalter (dem Zeitalter menschheitlicher Systole) es ist also im strengen Sinne kein weichliches, kein effeminiertes Zeitalter. Gerade auch noch in seiner Weichheit und Effeminiertheit bewährt sich ein «Gesetz der Erhaltung der Energie», denn diese Symptome zeigen nicht den Mangel, sondern vielmehr die Zersplitterung der Energie an. Das ästhetische Zeitalter dehnt sich aus wie die Sterne, welche aus festen Kernen sich in ungeheure Gasgloben verwandeln, wogegen im ethischen Zeitalter der umgekehrte Prozess einsetzt, der Prozess der Zusammenziehung der erst feurigen, dann dunkel-ernsten Konzentration.

Im ästhetischen Zeitalter «explodiert» der Mensch gleichsam - oft mit katastrophalen geschichtlichen Folgen. Wir haben schon verschiedene solche menschheitliche Supernovae kennengelernt: das 5. Jahrhundert der antiken Griechen, die römische Kaiserzeit, das 18. Jahrhundert Frankreichs. Die Entwicklung im ethischen Zeitalter ist naturgemäss sehr viel weniger spektakulär; im Zeichen der Konzentration, der steigenden Intensität und innerlichen Versenkung zieht sich der Mensch auf einen Kern von unerhörter Festigkeit und Härte zurück, ein Prozess, der im Mittelalter wohl ein Jahrtausend gedauert hat.

 

Für Oswald Spengler, Jean Paul Sartre und Ernst Bloch gilt, dass sie unser Jahrhundert prospektiv bereits in der Kontinuität ihres zeitlichen Bewusstseins aufgelöst haben. Aber unser Jahrhundert ist ein harter Kieselstein, es lässt sich nicht einfach so auflösen, nicht im Scheidewasser dieser Geister.

 

Teilhard de Chardin sagt: «Tout ce qui monte converge.» So möchte ich auch meine Aphorismen als aufstrebend und konvergierend ansehen. Was tut's, wenn es mir nicht gelingt, der Kathedrale das Dach aufzusetzen? So bleibt sie offen unter den Sternen, wie mein System offen bleibt. Andere werden vollenden, was ich begonnen habe. Man soll sich hüten vor der «falschen Vollendung» des geschlossenen Systems, die gewaltsam und über jedes mögliche menschliche Wissen hinaus «abrunden» und «fertigmachen» will. Man glaube an die Zukunft, an die Kommenden.

 

 

Der Lastträger

 

Die deutsche Philosophie ist eine ganz grosse, aber in sich zutiefst fragwürdige Erscheinung. Niemand empfindet mehr Ehrfurcht vor ihr; wenn ich in die Kathedrale der deutschen Philosophie eintrete, lasse ich es nicht fehlen an allen Gesten, welche sowohl meine Bewunderung wie meine Frömmigkeit zum Ausdruck bringen sollen, denn, wenn man es sich richtig überlegt, waren die deutschen Philosophen die kühnsten und entschlossensten, zähesten und folgerichtigsten Gottsucher aller Zeiten.

 

Aber ach! Diese eigentlich faustische Zerfallenheit von Sinnlichkeit und Geist! Es gab in der ganzen deutschen Philosophie kaum einen praktizierenden Philosophen, eher noch in der französischen. Was mir am deutschen Philosophieprofessor, am deutschen Philosophen am meisten missfällt, ist, dass sein Leben neben der Lehre vorbeigeht, dass er lebt, wie wenn nichts geschehen, wie wenn er nichts gelehrt hätte. Wem wird dann seine Lehre fruchten, wenn sie nicht einmal ihm selber etwas nützt? Dem Leben des Philosophen sollte etwas von der Bekenntnistreue einwurzeln, wie sie sich bei den antiken Stoikern, Zynikern und Epikuräern findet. Ein Philosoph sollte nicht leben wie ein gewöhnlicher Bürger. Freilich müsste die Haltung eine ganz andere sein, denn der monolithische Block der antiken sittlichen Individualität ist einmalig und unwiederholbar.

 

Lichtenberg sprach von den Gedanken, die von einem Buch, am Kopf des Autors vorbei, in ein anderes eingehen. Ich möchte von den Gedanken sprechen, die von dem einen Kopf am Leben vorüber in den andern Kopf eingehen.

 

Eine Philosophie von Kopf und Herz bedeutet: die Gedanken, die der Kopf denkt, mass das Herz mit jedem Schlage durchhalten. Der Einwand gegen die Philosophie der Moderne, die Philosophie der christlichen Ära überhaupt: sie ist zu intellektuell, zu sehr nur vom Kopf her, was nicht zuletzt auf den unheilvollen Einfluss der scholastischen Philosophie zurückzuführen ist. Die antiken Philosophen dachten mit Kopf und Herz. Dies gilt sogar noch für Platon und Aristoteles, was durchaus für die grosse Kraft der Tradition spricht.

 

Diogenes Laertius erzählt, dass unter den Philosophen Athens einer gewesen sei, den sie den Lastträger nannten. Er hätte während des Tages Lasten getragen, abends aber Philosophie getrieben.

 

Nicht als Lehrer, nicht als Pfarrer, nicht als Professor verpflichtet, keiner Institution, nicht dem Publikum hörig, sein eigener Mäzen, frei wie der Vogel in der Luft sein, frei wie es der antike Philosoph war, sich seine Gedanken zu machen über das Wesen der Dinge - so lohnt es sich als zweiter Lastträger des Diogenes Laertius mit seiner Hände Arbeit die Philosophie zu ernähren.

 

Saint-Simon spricht in seinen Memoiren von dem «,je ne sais quoi' en Larochefoucauld» im Zusammenhang mit den Intrigen der Fronde, an denen dieser beteiligt gewesen sei, ohne sich zu sehr zu engagieren. Es ist genau dieselbe Stimmung, die ich dem praktischen Leben gegenüber empfinde, es ist die Stimmung eines von dem Leben in den Bann gezogenen Aphoristikers, der doch dem Leben nicht ganz gehören kann und deshalb durch dessen Kategorien nicht zureichend definiert wird (je ne sais quoi). Er ist hier und doch nicht hier, er ist nah und doch fern, er steht im Leben und doch ausser ihm, er ist im Diesseits und doch im Jenseits, immanent zugleich und transzendent. Im wesentlichen doch eine faszinierende Existenz! Ich möchte um alles in der Welt nicht auf meinen Beruf verzichten und auf meine Gedanken.

 

Woraus folgt, dass der Aphoristiker vielleicht einsamer ist als irgendein anderer Mensch, weil er, der das Leben so liebt, in keiner festen Lebensgemeinschaft steht, er ist weder reiner Wissenschafter und Philosoph, noch praktisch tätiger Mensch im eigentlichen Sinne, er steht in einem gewissermassen ironischen Verhältnis sowohl zur Theorie wie zur Praxis und wird deshalb gerne von den einen wie den andern über die Achsel angesehen. Sie werden in ihm ein «je ne sais quoi» mehr fühlen als erkennen, das sich ihrem Blick entzieht; die Perspektive des Aphoristikers erschliesst eben einen Horizont zwischen den Horizonten, sein Lichtkreis schneidet die Lichtkreise und das Dunkel der andern.

 

Lichtenberg schwärmt von dem Busen seiner Geliebten und stammelt: so viel, so viel davon ist da! So möchte ich vom Leben sprechen, dem ich verpflichtet bin, von den vielen Mühen, Sorgen und Ängsten, die es mir bringt, wie ich es besitze, wie es mich besitzt, immer mehr und noch mehr kommt dazu: so viel, so viel davon ist da! Ich liebe es, ich hänge an diesem Busen.

 

Wir sind heute Poeten, Philosophen, Künstler, oder Ärzte, Kaufleute, Schuster mit einer reinen Ausschliesslichkeit und einem bisher unerhörten Ernst, kennen aber nicht mehr jenes halkyonische Gefühl, das aus der gegenseitigen Interferenz, der gegenseitigen Durchdringung von verschiedenen Interessensphären, von verschiedenen Berufs- und Berufungssphären entsteht: so Shakespeare und Molière als Dramatiker und Theaterunternehmer, Goethe als Dichter und Staatsminister, Stendhal als Soldat, Diplomat und Schriftsteller. Die Werke dieser grossen Männer übersprudeln von einem absichtslosen Leben, von einer zufälligen Notwendigkeit, die zugleich überrascht und bezwingt: was durchaus die erwähnte Interferenz erklärt.

 

Es herrscht hierzulande die Auffassung, dass man für die geistigen Obliegenheiten nicht genug Zeit haben könne. Ein etwas gutmütiges Prinzip, das die vorwärtstreibende und aufstachelnde Not vermissen lässt. Man sollte es einmal mit der Erkenntnis versuchen, dass man nicht wenig genug Zeit haben könne. Solange die Konversation, geistesgeschichtlich gesehen, dem geschriebenen und auf der Universität gesprochenen Wort einen kräftigen Widerpart hielt, war die Zeit immerhin noch knapper, beschränkt nämlich durch Ort und Gelegenheit, heute müssen wir uns entschieden gegen den alles verdünnenden Einbruch eines Meeres von Zeit wehren.

 

Berufsleute wie Shakespeare und Molière hatten wenig Zeit zur Verfügung, man merkt es ihren Dramen an, sie sind so gedrungen wie gelungen, bei Goethe aber kann man beinahe zusehen, wie sehr das Zuviel an Zeit geschadet hat.

 

Wer wenig Zeit hat, wird bald genug bemerken, dass er viel Zeit hat, das schöpferische Kaleidoskop schiesst mit Blitzesschnelle zusammen. Wenig Zeit und viel Zeit in diesem Sinne widerspricht sich nicht, vielmehr lässt sich der Widerspruch auflösen im Begriff der Zeitraffung, worunter zu verstehen ist, dass lange Zeiträume, die anders ausgefüllt waren, trotzdem wirksam werden in dem einen, sehr kurzen Moment der Schöpfung.

 

Wir müssen nicht nur in der Zeit arbeiten, sondern auch die Zeit für uns arbeiten lassen.

 

Damit komme ich zum Schluss, dass einige Zeitgenossen so viel Zeit brauchen, weil sie es nicht verstehen, verschwenderisch mit der Zeit umzugehen.

 

Den ganzen langen Atem eines Lebens in die Philosophie hineinnehmen.

 

Obwohl ich Valérys Teste nicht erfunden habe (er hat mich auch nicht erfunden) glaube ich, dass Teste Börsenagent ist, so wie ich Kaufmann (oder Gottfried Benn Arzt). In Zukunft werden wir wohl um eine fundamentale Zweiteilung unserer Existenz nicht mehr herumkommen: die Zeit der reinen Bildung ist vorbei.

 

Ich tue mir nichts darauf zugute, die Erfolglosigkeit ertragen zu können, das wird jeder vermögen, der sich darauf versteht, mit sich selbst in Frieden zu leben. Aber den Erfolg? Hier gleichmütig zu bleiben, ist doch viel schwerer. Die Gegenkräfte, welcher der Erfolg, oder auch nur die Aussicht auf Erfolg in einigen schöpferischen Menschen wachruft, sind so stark, dass der eine oder andere unter ihnen - wie es mit ballistischen Raketen geschieht, an denen man einen Fehler entdeckt - sein Werk noch in der Luft, statu nascendi, zerstört. Gegen den Erfolg kann eigentlich nur helfen: eine Art von göttlicher Gleichgültigkeit.

 

War es bei Valéry anders? Es war bei ihm sehr lange so. Er hatte Angst vor dem «grossen Mann», vor dem Idol. Diese Angst hat gerade heute ihre tiefere Berechtigung, da die Gefahr besonders gross ist, durch die Weichenstellung des Erfolgs auf ein ausgefahrenes Geleise geleitet zu werden.

 

Es ist ja gar nichts Neues! Das gab es alles schon einmal (vor 2000 Jahren). Es kommt nun einmal darauf an, mit dieser typisch deutschen Vorstellung aufzuräumen, dass Philosophie Theorie wäre. Aber ist sie denn so sehr deutsch? Sie ist europäisch, ja sie ist abendländisch! Abendländisch allerdings nach Christi Geburt, d. h. modern ...

 

Was ist denn eigentlich dieses ganze Werk? Oder was wird es sein, wenn es einmal gedruckt vorliegen sollte? Es ist die «Publikation der literarischen Krücke», des Lehrgerüstes eines Lebens, das als solches auch andern dienen kann.

 

Die Philosophie als im Leben Darzustellendes, die Philosophie als Gestalt. Ich will nicht, dass sich die Philosophie in die Bücher verkrieche, dass sie nur eine Art des Sehens, Erkenntnis der Erkenntnis sei, nur «le voir du voir» ...

 

Pensée de derrière la tête. Pascal meint, man müsse einen geheimen Gedanken im Hintergrunde haben, während man wie alle Welt spricht. Pascal ist einer der wenigen Dialektiker unter den französischen Philosophen und damit ein Vorläufer der Philosophie des deutschen Idealismus. Bei Kant heisst dieser Gedanke im Hintergrund etwa «Ding an sich», bei Hegel die «List der Vernunft».

Aber es ist offensichtlich, dass sowohl im Falle von Pascal wie auch bei der Philosophie des deutschen Idealismus dieser Hintergedanke in der einen Richtung geht: nämlich von der Philosophie zur Wirklichkeit. Wäre es nicht möglich, den Spiess umzudrehen, die Richtung um 180 Grad zu ändern, und, ohne die erste Richtung preiszugeben, nicht nur von der Philosophie zur Wirklichkeit, sondern auch von der Wirklichkeit zur Philosophie hin zu denken? Nietzsche hat es versucht, aber nicht durchgeführt (er ist im Ästhetischen stecken geblieben). Damit stünde man an der Nahtstelle von Geist und Leben, gleichweit entfernt von Gedanken und Tat, beide schauend, denkend und tuend, weder im Gedanken noch in der Tat aufgehend. Blind ist, wer nur denkt, ohne zu handeln, blind aber auch, wer nur handelt, ohne zu denken. Deshalb arbeite ich in der Industrie.

 

Es gibt Arbeiterpriester, warum nicht auch Arbeiterphilosophen?

 

Aus dem Zusammenhang geht zwanglos hervor, dass weder Marx noch Lenin Arbeiterphilosophen waren.

 

Die heutige Situation kann vielleicht nicht besser gekennzeichnet werden als durch die Gegenüberstellung folgender Tatsachen: Schopenhauer war froh, aus dem Kontor entlassen zu werden, um der Sklaverei eines bürgerlichen Berufes zu entrinnen, und ich bin froh, meinen bürgerlichen Beruf ausüben zu können, um der Unfreiheit einer literarischen Existenz zu entgehen.

 

Das «Philosophische Tagebuch», auf 6000 Seiten bemessen, ist eigentlich ein Unternehmen, das einem Angst machen könnte, und auch eine Bürde, die mir gehörig den Rücken drückt. Freilich will ich damit nicht sagen, dass ich die Absicht hätte, so viel zu schreiben, vielmehr stelle ich nur fest, wie ich bisher schreiben musste und wie viel noch geschrieben werden könnte, wenn die Quelle so fliesst wie bisher. Fliessen wird sie so lange, als ich das Leben lebe, welches ich als «philosophisches» kennzeichnen möchte. Denn das Literarische war bei mir immer sekundär, ich definierte es schon als «Abfall» des philosophischen Lebens, was aber ohne Geringschätzung verstanden werden soll, vielleicht wäre es noch genauer als ein «Abfallen» zu bezeichnen, als ein Herunterfallen der Früchte vom goldenen Baume des Lebens.

Freilich ist die Fülle der Gesichte oft geradezu beängstigend, so dass die Frage nahe liegt, ob ich mich denn nicht ausschliesslich dem literarischen Philosophieren widmen möchte? Für den ganzen Tag wäre reichlich genug Arbeit vorhanden. Aber wie lange würde dann die Quelle noch fliessen, d. h. wie lange würde sie noch so fliessen? Das ist es eben, was ich meine, wenn ich sage, dass das literarische abhängt von meinem philosophischen Leben.

Gäbe ich meine jetzige Existenz auf, d. h. den Standpunkt, den ich einnehme zwischen Denken und Handeln, so würde sich mein Philosophieren zuerst unmerklich, dann aber immer deutlicher verändern. Bald würde die Fülle der Gesichte schwinden, eine unvermeidliche systematische Anstrengung des Philosophierens würde anheben, wobei mit Druck und Röhren herausgepresst wird, was eben herauszupressen ist. Diese Art des Philosophierens ist möglich und sie kann fruchtbar sein, es gibt aber solcher Philosopheme schon genug. Nein, die Einzigartigkeit meines Unternehmens beruht gerade auf dem Verzicht einer Ausschöpfung der Möglichkeiten.

 

 

 

 

 

Über die Existenzphilosophie

 

In Frankreich hat die Mode auch eine geistige Tragweite, die nicht unterschätzt werden darf. So könnte man Sartre den «Dior der Philosophie» nennen, da er es so ausgezeichnet verstanden hat, den Franzosen die Lehre Heideggers auf den Leib zu schneidern.

 

Frankreich ist heute auf dem Wege, zur geistigen Provinz zu werden - mindestens ist seine Abhängigkeit von der deutschen Philosophie dort, wo sein Geist die relativ höchste Spannung erreicht, geradezu bemühend. Nicht, dass ich nicht wünschte, dass die Franzosen den Deutschen noch näher wären! Originalität kann kein Ziel sein, wenn sie nicht ein Ziel sein muss, das Beste ist sogar die Identität - aber die ursprüngliche. Da wurde gesündigt, die Franzosen haben sich den Stil der deutschen Universitätsphilosophie aufzwingen lassen - et le style, c'est l'homme. Hat die Sorbonne über den französischen Geist gesiegt? Die Werke Jaspers, Heideggers und Jüngers sind ja eigentlich nur theoretische Prolegomena zu einer wirklichen Lebensphilosophie. Diesen Beitrag hätte Frankreich leisten können, es war dazu prädestiniert.

 

13. 10. 60. Ich lese gegenwärtig zum zweiten Male Heideggers «Sein und Zeit» und werde darauf ebenfalls zum zweiten Male «L'être et le néant» von Sartre vornehmen. Wenn man von Kierkegaard her kommt, sieht man ein, wie sehr beide Philosophen der Ursprünglichkeit ermangeln, wie diskursiv sie verfahren. Ihr grosser Herr und Meister bleibt Kierkegaard, der sich zu ihnen verhält wie die ursprüngliche Anschauung zur spätern und schwächern Spiegelreflexion eines entfernteren Begreifens. Heidegger und Sartre zu lesen bedeutet für einen ernsthaften Philosophen ein «divertissement» im Sinne Pascals, Zerstreuung auf hoher Ebene allerdings, aber trotzdem - divertissement.

 

Die Kategorie der Zerstreuung auch in der Philosophie als solche zu erkennen, ist deshalb so wichtig, weil die Zerstreuung die Feindin der philosophierenden Notwendigkeit ist, weil in ihr das «eins tut not» für ewig ausgeschlossen ist und bleibt.

 

Die Rangordnung nicht aus den Augen verlieren. Primäre Philosophen waren in der nähern Vergangenheit Kierkegaard, Schopenhauer und Nietzsche, sekundäre Philosophen sind in der Gegenwart Heidegger, Jaspers, Sartre. Primär nenne ich die Philosophie, die gleichsam mit einem Sprung ins Dasein tritt, sekundär die abgeleitete (diskursive). Die Unterscheidung hat unmissverständlichen, obwohl fliessenden Charakter.

 

Die Freiheit ist der Sprung, der Sprung aber muss notwendig sein.

 

Sartres erstaunlicher dialektischer Apparat läuft oft leer, drischt leeres Stroh. Da fehlt es ganz einfach am geistigen Instinkt, der allein das Gefühl dafür vermittelt, was im höhern Sinne nützlich ist und was nicht.

In der Abstraktion, besonders der fortgeschrittenen, verhalten sich die Franzosen oft weiblich zum Begriff, sie verlieren sich an ihn, vermögen ihn nicht mehr zu beseelen. (Von hier aus fällt ein Streiflicht auf das interessante Phänomen der weiblichen Pedanterie). Die dialektische Entwicklung macht sich dann selbständig, wird zur klappernden Maschine, die Resultate auswirft, die keinen Sinn haben.

 

Es ist nicht nur amüsant, es ist geradezu possierlich zu sehen, wie peinlich Heidegger es vermeidet, Kierkegaard zu zitieren. Ja, wenn er überhaupt nicht zitieren würde! Aber er zitiert reichlich und mit offenbarem Wohlgefallen.

Es war Heinrich Heine, der von dem reinlichen «Zitatengärtlein» der Göttinger Professoren sprach. Im Zitatengärtlein Heideggers reihen sich Pflanze an Pflanze, Blatt an Blatt, Blüte an Blüte, die unter der Pflege und Anordnung des Meisters zu kunstvollen Inkunablen von «Sein und Zeit» heranwachsen. Warum aber fehlen gerade jene Blüten eigenster Form und Farbe, welche der Pflege gar nicht bedürften? Man versteht viel eher, dass Sartre Kierkegaard nicht (oder kaum) zitiert, denn Sartre hat schliesslich Heidegger. Und Heidegger hat Kierkegaard. Oder etwa nicht?

 

Diejenige geistige Unredlichkeit des Dreigestirns Heidegger, Jaspers und Sartre, die ich am wenigsten gut ertrage, ist, dass sie von Existenz fabulieren, ohne auch nur einen Versuch zu machen, sich der Existenz zu nähern. Sie philosophieren «über» Existenz. Du mein lieber Gott! Über Existenz soll man nicht nur philosophieren, man soll sie auch haben. Da ist mir denn doch Kierkegaard mit all seiner willkürlichen und unwillkürlichen Absurdität noch lieber. Bei Kierkegaard geht die Rechnung nicht auf. Bei jenen geht sie auf. Das ist die wirkliche Überlegenheit Kierkegaards.

 

Ihre Philosophie ist nicht eigentliche Lebensphilosophie, eigentliche Existenzphilosophie, mit Anteil am Leben, mit Anteil an der Existenz, sondern Theorie des Lebens, Theorie der Existenz.

 

Wo, wenn nicht hier, wäre die Gelegenheit gewesen, die versunkene und verschüttete Tradition der antiken Lebensphilosophie in einem ganz neuen Sinne wieder aufzunehmen und fortzusetzen!

 

Innerhalb des Bereiches eines sekundären Philosophierens möchte ich Sartre die Palme vor Heidegger zuerkennen, der immerhin für jenen die Bahn gebrochen hat. Sartre ist unvergleichlich viel subtiler und versatiler als Heidegger, dessen Stil geradezu gotisch wirkt gehalten gegen die schillernde Dialektik Sartres. Steif wie eine Holzschnitzerei wirkt auch die Daseinskonzeption Heideggers, womit er sich entfernt vom «Cogito» Descartes', dem Springquell des Lebens im Bewusstsein.

 

Sartre sieht den Geist als ein tanzendes Irrlicht in der «Diaspora des Bewusstseins».

 

Dass auch Sartre, ganz wie Descartes, das Reich seiner Philosophie auf den kleinen, sauber erhellten Kreis des «Cogito, ergo sum» beschränkt (nur, dass es bei ihm «Sum, ergo cogito» heisst) deutet doch auf eine zwingende Gewalt der französischen Überlieferung hin. In unruhiger Bewegung, wie die Projektion einer Taschenlampe, tanzt der kleine helle Kreis bald hierhin, bald dorthin, um wenigstens die Illusion einer Omnipräsenz zu schaffen.

 

Sartres Philosophie ist eine recht merkwürdige Mischung von Materialismus mit einem unverantwortlichen Springinsfeld von Subjektivismus. Wenn man sich überlegt, wie das Reich seiner Gedanken im Felde der französischen Überlieferung liegt, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich hier wieder einmal mehr zusammen findet, was die französische Existenz von jeher kennzeichnet: eine sehr scharfe, klare, unerbittliche Einschätzung materieller Möglichkeiten zusammengehend mit einer erstaunlichen Emanzipation des «moi gratuit» von der unveränderlich und ewig, ja geradezu ägyptisch seiend erkannten materiellen Welt.

 

 

 

Die «Wiederholung»

 

An E. B. 25. 9. 60. Es ist wohl an die acht Jahre, dass ich Ihnen über die «Wiederholung» Kierkegaards schrieb. Das Vorhaben ist seither liegen geblieben und vielleicht dadurch nicht schlechter geworden. Heidegger hat einseitig nur die «Einsamkeit» des kierkegaardschen Existenzbegriffs übernommen, er kommt über die geniale Erinnerung des Genialen nicht hinaus (seine Konzeption des «Man») und geht damit immer noch auf dem jetzt wirklich sehr ausgetretenen Pfade Schopenhauers und Nietzsches.

Auch Kierkegaard kann ich nicht durchaus folgen. Wer wollte denn seinen «Saltomortale» zurück ins Jahr eins heute noch mitmachen? Denn so war doch wohl eigentlich seine Wiederholung gemeint. Aber nicht auf den eigentlichen, sondern sehr viel mehr auf den uneigentlichen Sinn einer Philosophie baut ihre Fortbildung, ihr Leben in der Idee auf. Man «verrät» einen Philosophen? Damit hat man ihm den grössten Dienst getan. Man «stiehlt» ihm sein Eigentum? Damit hat man es ihm erhalten.

 

Die Schöpfung entspringt der Wiederholung wie die Pflanze dem Erdreich. Und wie der Same der Pflanze in der Erde lag, so der Same der Schöpfung in der Wiederholung.

 

Ursprung der Schöpfung ist die Wiederholung, die Schöpfung ist aber auch Ursprung der Wiederholung. Der «Sprung» in der Schöpfung, das überraschend Neue ist nur möglich aus und mit der Wiederholung, die Ausdauer in der Wiederholung nur aus und mit der schöpferischen Begeisterung.

 

Denn dieser plötzliche Sprung wurde sehr allmählich, geduldig und langsam vorbereitet in der harten Arbeit der verändert-verändernden Wiederholung.

 

In der Wiederholung erhält das «Man» eine Bedeutung, über die sich Heidegger sehr wundern würde.

 

In ihrem Kampf gegen das Uneigentliche verfehlen sie das Eigentliche. Sie wollen die Wiederholung nur in der Erinnerung, d. h. sie wollen nicht den «Sprung». Der Sprung ist aber auch ein Entwicklungsgesetz der Biologie und heisst dort Mutation.

 

Die Eigentlichkeit der Existenz, das Absurde, das Paradox, die Angst, sie hatten ihr späteres Schicksal, nicht aber die Wiederholung. Der Grund ist auch darin zu erblicken, dass die Lehre von der Wiederholung wohl der am schwersten zu verstehende Teil der kierkegaardschen Philosophie ist. Das andere Gold lag mehr an der Oberfläche.

 

Wie die Politik zum Schicksal der Philosophie wird. Die kierkegaardsche Philosophie ist die Philosophie eines Menschen, der in einem Kleinstaat lebte. Es ist nicht verwunderlich, dass gerade jener Teil seiner Philosophie, der nur in einem Land gedeihen konnte, das keine grosse Rolle unter den europäischen Staaten spielt, in Deutschland und Frankreich, diesen mächtigen Nationalstaaten, nachher zu kurz gekommen ist - nämlich beispielsweise die Wiederholung. Dagegen wurde immer mehr und bis zum Überdruss die Behauptung und Durchsetzung der ihrer selbst bewussten Existenz betont. Kein Echo in den Kleinstaaten Europas, denn dort wurde nicht philosophiert.

 

Es fehlt bis heute sozusagen das philosophische Bewusstsein des Kleinstaates.

 

Die «erste Wiederholung» ist Wiederholung im elementaren Sinne, sie ist die mechanisch-lebendige, bewusstunbewusste, unverändert-veränderte und verändernde Arbeit des Geistes der Menschheit an sich selbst. Über ihr schwebt leichter, göttlicher, beschwingter, feuriger, näher der Sonne, aber ferner dem nährenden Erdreich die «zweite Wiederholung», die unmittelbar schöpferische. Ihr Reich ist die Erinnerung, Erinnerungen des schöpferischen Menschen an eigene und fremde Schöpfungen. Die erste Wiederholung schafft Stufen der Fruchtbarkeit für die zweite.

Auf je einer Stufe findet kein Sprung mehr statt, wohl aber ein kontinuierliches Sichentfalten, Wachsen und Blühen des bereits im Erdreich Angelegten. Aus sich selbst aber kann der schöpferische Geist der zweiten Wiederholung nur beschränkt leben, und immer wieder muss der Mensch in den Hades der ersten Wiederholung hinabsteigen, um dort Lethe zu trinken, was ihm die Kraft des Vergessens verleiht, aus welcher allein der «Sprung» möglich wird.

 

Disjecta membra poetae. Wir sehen heute nur noch die einzelnen Teile des grossen Poeten, der die Menschheit ist. Es war doch einst so, dass Religion, Kunst, Poesie und Arbeit des Menschen ein Ganzes bildeten. Wenn es einst so war, so ist es heute noch so. Aber wir sehen es nicht mehr. Dieser Zusammenhang is unserm Bewusstsein entschwunden. Die Wiederholung, also die redintegratio in statum pristinum, würde darin bestehen, dieses Bewusstsein wieder zu erringen und die Prüfung, welche uns die Zerfallenheit unserer Tätigkeiten auferlegt, so zu bewältigen, dass es uns gelingt, im Menschen die Menschheit wieder zu finden.

 

Aber dazu wird es nötig sein, in die Nacht des Hades hinunterzusteigen, in die Nacht der ersten Wiederholung. Haben wir diese grosse Mühe und Arbeit hinter uns, dann wird eine neue Ära der Schöpfung und der schöpferischen Freude beginnen.

 

 

 

Idyll und Terror

 

Rousseau stellt für uns Schweizer (und wenn ich sage Schweizer, so meine ich alle Schweizer ohne Unterschied der Sprache, der Religion, der Kultur, denn hier geht es einfach um das Leben, das totale Leben, das das unsrige ist) einen Mythos, ein Symbol dar vergleichbar dem Doktor Faustus der Deutschen, dem Sonnenkönig des vorrevolutionären Frankreichs, der Souveränin des elisabethanischen England. Rousseau ist die edelste, wesentlichste Verkörperung der schweizerischen Seele, in ihm spricht sich aus, was man ihr Absolutes nennen könnte.

Wenn die Franzosen, die Deutschen, die Engländer verehren, steigen sie die Stufendes Thrones, des Altars hinan und verneigen sich, knien nieder; wenn uns Schweizer diese mächtige und anonyme Kraft, die allein den Menschen zur Person machen kann (denn wir sind Personen und werden persönlich einzig und allein durch die Wirkung dieser unbekannten Kraft) wie mit einer Riesenfaust packt, dann steigen wir nicht empor, wir steigen hinab, der König des Throns, der Gott dieses Altars sind für uns nicht der König dieses Volkes, der Gott dieser Priester, nein, der König wird zu einem Begriff, er verliert seinen Körper, löst sich auf in der Menschheit, jeder Mensch, irgendein Mensch wird zum König und trägt in sich den göttlichen Funken.

Die Vorstellung eines anarchischen Naturzustandes (und das anarchische Element im schweizerischen Nationalerbe kann nicht geleugnet werden) ist der Ausdruck dieser äussersten gedanklichen Freiheit, welche nur das Unbestimmte duldet und sich gegen das «Distinguo» des Philosophen wie der Gesellschaft auflehnt; eine Freiheit, die sich ganz allgemein gegen die bestimmte Kontur, die bestimmte Erscheinungsweise des Körperlichen empört, denn Konturen und Körper sind es, welche die Seele in Gefangenschaft halten.

 

Über die Idylle. An einem Sommertag, blauschimmernd wie ein köstlicher Diamant, in den Voralpen, hatte ich das Gefühl, in der Idylle zu leben. Gefühle sind oft Vorläufer des Begreifens, ja sie bieten mitunter die einzige Möglichkeit, zum Begriffe zu kommen. Wenn ich nun entwickle, was in der Intensität des Gefühls enthalten war, so muss ich erst noch tiefer hinabsteigen und eine physische Sensation beschreiben, die zum Anlass wurde des Gefühls.

Es war in einer Waldlichtung, die den Blick freigab auf einen See, die sommerliche Hitze linderte wohltuend eine Brise, die durch den Wald strich und etwas von der Frische und vom Geheimnis von Waldeskühle und Waldesdunkel mitbrachte. Da mich meine Wanderung bereits in eine beträchtliche Höhe über den See geführt hatte, vermittelte die Brise, die mir die nackte Haut koste, ein Gefühl von unendlicher Leichtigkeit, des Schwebens auf Windesfittichen über der Landschaft, es schien, als ob die Seele ihre Flügel ausbreiten könnte, um aus einem allgegenwärtigen Medium den Geist der Landschaft aufzunehmen, in sich einzuatmen, zusammen mit der leichten Brise, die nun zum Symbol wurde des göttlichen Atems.

Damit verband sich natürlicherweise ein Gefühl moralischer Leichtigkeit, der Unschuld wie am ersten Tage, der Unschuld des ersten Menschen, nichts stand zwischen dem Menschen und der Natur, weder bedrohte die Natur den Menschen, noch suchte der Mensch sie für seine Zwecke auszubeuten, das Paradies war wieder da, es war da im lebendigen Schauer dieser Brise, der sich meiner erschauernden Haut mitteilte. Es wurde mir bewusst, dass das Gefühl der Idylle weit über die Literaturgattung hinausgeht, die vielleicht nicht einmal ihr reinster Ausdruck ist.

Die Idylle scheint dort nicht möglich zu sein, wo auf irgendeine Weise nach Macht gestrebt wird. Es ist deshalb bezeichnend, dass die Idylle beispielsweise sowohl im alten Griechenland wie in der Schweiz als Literaturgattung erst nach dem grossen politischen Zeitalter auftritt, in der hellenistischen Epoche und am Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Auch in einem Grossstaat kann die zitternde Leuchtkraft der Idylle nicht gedeihen, vielmehr leisten eine gewisse politische Zersplitterung, welche allgemein ein Gefühl der Freiheit von Zwecken schafft, und militärische Machtlosigkeit der Idylle Vorschub.

Aber auch die physische Geographie, die Beschaffenheit der Erdoberfläche ist ein wichtiger Umstand, denn es kann dort kein idyllisches Gefühl entstehen, wo grosse zusammenhängende und ununterschiedene Land- und Wassermassen das Individuum erdrücken. Dadurch nämlich wird das Gefühl der Intimität zwischen Landschaft und Mensch, der heimlich-intimen Entsprechung zwischen der einmaligen Stimmung und dem einmaligen Ort zerstört. Inseln können idyllisch wirken, denn sie unterbrechen die Wassermassen und schaffen einen Ruhepunkt für Leib, Seele und Geist, der mit umso grösserer Erleichterung begrüsst wird, je länger er entbehrt werden musste. Aber auch eine reich gegliederte Küste mit vielen Buchten und Wasserarmen, die zudem noch mässig gebirgig ist, mag idyllisch stimmen, wie wir überhaupt dort auf günstige Bedingungen treffen, wo Erde, Luft und Wasser ineinander vorstossen, sich gleichsam umarmen und vermählen, aber nicht zu mächtig, denn dann wirkt die Landschaft nicht mehr idyllisch, sondern heroisch.

Der Mensch hat in seinen Träumen verschiedene Möglichkeiten des Paradieses entwickelt, die Idylle ist eine unter ihnen. Die Idylle ist vielleicht die zugleich friedlichste und erdennaheste Vorstellung des Paradieses. Nichts Harmloseres als die Idylle, und doch hat sie als Wunschbild die ungeheuersten Wirkungen hervorgebracht. Sie erregte die edelsten und die schlimmsten Leidenschaften im menschlichen Busen, anstatt des Friedens der Seele brachte sie Revolutionen über Revolutionen, Krieg über Krieg, anstatt leibliche Befriedigung die grössten Entbehrungen.

Wer den Zweck will, der muss auch die Mittel wollen und - täuschen wir uns nicht darüber - der Zweck ist die Idylle, sagen wir «das Idyll». Denn gerade weil das Ziel so nahe schien und so unzertrennlich verknüpft mit dem Begriff der menschlichen Würde, gingen die Wogen der Empörung umso höher, der Empörung darüber, dass der Mensch, jeder Mensch nicht haben sollte, was ihm seiner Natur und seiner Bestimmung nach zukam. Das Idyll, das Rousseau so meisterhaft und so durchaus verlockend zu schildern verstand, rief die grösste Unrast hervor, das Idyll Rousseaus machte eigentlich der Idylle den Garaus, die Welle, die nach dem Erscheinen seiner Schriften durch die Gesellschaft ging und geht, hat ihre Ufer noch nicht erreicht. Die hellenistische Idylle konnte diese Wirkung nicht haben, nicht zuletzt deshalb, weil die Antike den Begriff der historischen Entwicklung und den damit verbundenen Erlösungsbegriff noch nicht kannte.

 

Idyll und Terror. Es ist bekannt, dass der Student Robespierre Rousseau kurz vor seinem Tode in seiner Pariser « Ermitage» besuchte. Robespierre an der Schwelle Rousseaus, der nachmalige Meister der Guillotine beim Philosophen des guten Wilden, das ist höchst bedeutsam! Auf die Idylle am Genfersee folgt der Terror der französischen Revolution. Auch die griechische Tragödie beruht ja darauf, dass ihre Charaktere ihr Glück wollen, gerade darauf gründet ihre tragische Spannung, wollten sie ihr Unglück, so wäre von einer tragischen Spannung nichts mehr zu merken. Moderner ausgedrückt: der Mensch will die Idylle und erreicht den Terror. Also nicht aus einer Art von romantischer Unglücksverfallenheit geht der Mensch ins Verderben, nicht aus Asketismus, nicht weil er das Glück für verächtlich hält, sondern aus wirklicher Verblendung, weil er eben nicht anders kann.

Die «tragische Grundhaltung», wie sie sich bei Nietzsche und in der Nachfolge Nietzsches bei Ernst Jünger findet, ist spät und reflektiert, ja sie lässt eigentlich die tragische Spannung vermissen, weil ihr die Glückserwartung fehlt. Auf diesem Grund von Griesgrämigkeit wächst keine echte Tragik. Dazu braucht es doch sehr viel mehr spontane Lebensfreude, wie sie die alten Griechen auch hatten (ihre Feste zeugen davon). Nietzsche und Jünger wissen um das notwendige Unglück (incipit tragoedia), aber das notwendige Unglück ist beinahe schon ein Glück, da man es doch erwartet. Aus Nietzsche spricht ein Mensch, der das Glück nie kennengelernt hat, was weiss er von Unglück, was weiss er von Tragik? Diese Art von «Ökonomie der Unlustgefühle», die er predigt, hat nichts weniger als tragischen Charakter.

Und Jünger? Er verdirbt sein ganzes Werk dadurch, dass er so spät zur «gefahrenumwitterten» Idylle gelangt, denn die Idylle kommt naturgemäss vor dem Terror, die «Marmorklippen» vor dem «Arbeiter», Rousseau und das Rokoko vor der französischen Revolution, noch weiter zurückgreifend: die idyllische Jugend des Galiläers vor seinem Kreuzestod. Galiläa ist eine idyllische Gegend, ähnlich wie der Genfersee Rousseaus, dem der See Genezareth zur Seite zu stellen wäre (ein schöner Gebirgssee in gesegneter Gegend, wie ihn die Reisenden beschreiben). Hier also ist einmal mehr die Landschaft zur Philosophie, ja zur Religion geworden. Diese Annäherung von Jesus Christus, dem mächtigsten geistigen Einfluss vor dem 18. Jahrhundert, an Rousseau, dem mächtigsten geistigen Einfluss nach dem 18. Jahrhundert, in der Perspektive von Idylle und Terror, ist, das darf ich wohl sagen, ein Angelpunkt meines Denkens, und ich hoffe, darauf zurückzukommen.

 

Die «Natur» Rousseaus, die «Natur» des Marquis de Sade. Es sind nur zwei Abstraktionen der Vorstellung des «natürlichen Menschen» überhaupt - der seinerseits nur in der Abstraktion lebt - aber wirklich auch lebt, denn er ist in diesem Sinne eine Realität. Man muss nicht nur mit ihm rechnen, man hat auch Ursache, vor ihm sehr auf der Hut zu sein. Es ist die Abstraktion des «guten Wilden» und die Abstraktion des «schlechten Wilden», die beiden abgetrennten Hälften der Vorstellung des «natürlichen Menschen», d. h. des Menschen ohne Mitmenschen, des Menschen, dem jeder Wunsch erfüllt wird, dem nichts widersteht, der schaltet und waltet im Reiche seiner Imagination wie er will, das Gute mit Schrecken verbreitet, das Schreckliche gut macht.

Es ist die Vorstellung, die Valéry «Esprit» nennt, d. h. die Flucht der Triebe in den Geist, die untrennbar ist vom Zustand des zivilisierten Menschen, untrennbar aber auch (wie man über Valéry hinaus sagen könnte) vom Zustand des Menschen überhaupt, denn es gibt ja den «natürlichen Menschen» unserer Imagination auch im Naturzustande nicht.

 

Ich glaube übrigens, dass meine Herleitung des Marxismus von Rousseau noch einmal Schule machen wird. Dasselbe gilt auch für den Faschismus, nur, dass dieser mehr dem Naturmenschen des Marquis de Sade und Nietzsches verbunden ist - beides ist übrigens schwer voneinander zu trennen.

Man muss tief in die eigene Brust hinabsteigen, um zu sehen, was ich sah (und auch muss dort noch etwas zu sehen sein). Das vermag freilich ein Philosoph nicht, der keine Leidenschaften hat. Man muss sein können: der gute Wilde Rousseaus, der schlechte Marquis de Sades, nichts Menschliches darf einem fremd sein, man muss sein können: die ganze Menschheit - soweit es einem einzelnen Menschen überhaupt möglich ist. Versuche, die ganze Menschheit zu sein, etwa bei Shakespeare, Hegel, Nietzsche, auch bei Joyce.

 

 

 

Der Bürger

 

Von den drei Ständen der Nationalversammlung, welche die französische Revolution vorbereiteten, der Geistlichkeit, der Aristokratie, des Bürgertums hatte allein das Bürgertum seine Existenz auf Sand gebaut, sie gründete im Gegensatz zu den sichern Pfründen der Geistlichkeit und den Einkünften der Aristokratie aus Landbesitz und hohen Beamtenstellen auf den fliessenden Qualitäten eigener Geschicklichkeit, auf Mitarbeit und Beteiligung in der Wirtschaft, auf Geld, das oft in kühnen Spekulationen erworben und wieder verloren wurde. Zu dieser grössern äussern Gefährdung kam noch die grosse innere durch die neuen Ideen, die damals in der Luft lagen. Die innere und äussere Gefährdung der bürgerlichen Existenz, welche nicht nur zu dieser, sondern eigentlich zu allen Zeiten das bürgerliche Leben charakterisiert, hat dazu geführt, dass das Bürgertum aus dieser Not heraus nach Sekurität strebt, es bedarf der Sekurität eben mehr als die andern Stände. Aber wann hat es sie je erreicht?

 

«My house is my castle», sagt der Engländer, vielleicht der typischste Bürger aller Zeiten. Sein Haus ist des Bürgers Festung, wo er vor den Luftgeistern, die ihn verfolgen, Zuflucht sucht, sein Haus ist der Fix-, der Ruhepunkt in einem Dasein, in dem alles fliesst, in dem nichts mit Händen zu greifen ist, in dem durch die jahrhundertelange ökonomische Entwicklung, deren Träger vorzüglich der Bürger war, alles in Abstrakta aufgelöst wurde. Dieser abstrakte Charakter des bürgerlichen Besitzes, sei er nun geistiger Art in Gestalt von Ideen, oder materieller Art in Gestalt der komplizierten Eigentumsverhältnisse der modernen Wirtschaft, erklärt vielleicht, warum durch den Bürger eigentlich die grosse Angst in die Welt gekommen ist, aber auch der Heroismus, der diese Angst überwindet.

 

Verglichen mit der Tapferkeit des Bürgers ist die Tapferkeit des Aristokraten eine Spielerei, die Laune eines streitenden Kindes. Man denke an die soziologische Rolle des Duells.

 

Dass der Bürger die Extreme in die Mitte zurücknimmt, das steigert die Gefahr, aber auch das Gefühl der Gefährdung bis zur Unerträglichkeit.

 

Extreme ohne die Mitte bedeuten die Isolierung der Gefahr, die zur bloss geistigen oder bloss physischen verkümmert, versinnbildlicht durch den ersten und den zweiten Stand, durch die Geistlichkeit und die Aristokratie.

 

Die Burg des Bürgers ist aber auch das Symbol der durchgehaltenen Mitte, seiner eigentlichen geistigen Burg.

 

Luther: eine feste Burg ist unser Gott. Auch diese Burg war noch die Burg des Bürgers, die bürgerliche Reformation ging der bürgerlichen Revolution voraus, die bürgerliche religiöse Erneuerung der bürgerlichen politischen.

 

Philosophie der Mitte. Mit der Mitte ist eine heroische Mitte gemeint, welche die Extreme gebändigt in sich enthält, nicht die Mitte eines nur beruhigten, nur satten Bürgertums. Damit die Extreme in der Mitte sich wirksam erhalten können, müssen sie periodisch heraustreten, um dann wieder in die Mitte zurückgenommen zu werden.

 

Das Entlassen der Extreme und ihre Zurücknahme in die Mitte.

 

Evolution.

 

Die Evolution, deren Motor die in der Mitte gebändigten Extreme sind, braucht mehr Selbstüberwindung und mehr Willenskraft als die Revolution aus der Macht und dem Vermögen der frei für sich seienden Extreme.

 

Revolution begriffen als misslungene, d. h. ungebändigte, steuerlose Evolution.

 

Die Revolution kommt zustande durch äusserste Erstarrung der Gegensätze, der einander unversöhnlich gegenüberstehenden Extreme in sich. Es bedarf dann einer Explosion, welche die Extreme wiederum befreit, sie beweglich macht, es ihnen ermöglicht, sich zu mischen. Eine ständige freie Beweglichkeit der Extreme, die in ihrem Einfluss sich die Waage halten und so die Mitte im Spannungsfeld zwischen sich eigentlich erschaffen, ermöglicht die Evolution, verhindert also den verheerenden Ausbruch, verhindert die Explosion, die mit grösster Geschwindigkeit und sehr unvollkommen nachholen will, was allzulange versäumt wurde.

Die Bewegung der Extreme in der Evolution ist genauer diese: erst behaupten sie sich in ihrer ganzen Starrheit gegeneinander, aber diese Starrheit ist nur der Kunstgriff, dessen sie sich bedienen, um die Entwicklung in Fluss zu bringen, die extremen Forderungen werden einander immer mehr angeglichen, bis sie sich in einer Mitte treffen, bei der es uns nun freilich sein Bewenden nicht haben kann. Denn aus dieser Mitte müssen die Extreme alsbald heraustreten, weil die Bewegung zur Mitte veranlasst wurde durch die Gegenseite, durch ein Hin- und Herüberziehen also, von welchem dann zu recht gesagt wird, dass es niemanden befriedigte.

Diese Unzufriedenheit mit dem Erreichten ist aber nichts weniger als die Unruhe des Lebens selbst, dem Heraustreten aus der Mitte muss ein neues Eintreten folgen usf. Die Mitte jedoch, in welcher sich die Extreme vereinigen, ist der historische Entschluss, welchem die Tat auf dem Fusse folgt, sie ist die Verwirklichung der Idee, das fleischgewordene Wort. Nicht freilich die Idee der streitenden Parteien, nicht das fleischgewordene Wort von deren Führern, sondern die Idee der Geschichte, die Idee der historischen Wirklichkeit selbst. Aber es ist die Aufgabe der Extreme, nur flüchtig in die Mitte der Wirklichkeit einzugehen, denn würden sie mit ihr verschmelzen, wäre die Vernunft der Parteien diese Wirklichkeit und diese Wirklichkeit die Vernunft der Parteien, so würde das Leben stillstehn.

 

Da bei der Evolution jeder einzelne Schritt überlegt werden kann auf seine Tragweite, nicht zuletzt auch auf den materiellen Aufwand hin, den er verursacht, so ist ein Rückschlag sehr viel weniger zu befürchten als bei der Revolution, welche durch einen unmöglichen Sprung in die Zukunft und einen ebenso extremen Rückfall in längst überwunden geglaubte, primitivere Zustände die Menschenwürde gefährdet. Die Evolution wird charakterisiert durch eine ständige ruckweise Vorwärtsbewegung, jeder einzelne Ruck wird wie eine Revolution empfunden und oft auch so verschrien, aber da gilt, dass die kleine die grosse Revolution verhindert.

Die gelungene Evolution bedeutet, dass sich Geist und Leben durchdringen, die Reflexion ist ganz nahe am Leben, es wird geplant, aber nicht in allzuferne Zukunft. Die Revolution aber bedeutet den Einbruch einer aus seelischer Emotionalität geborenen Unbedingtheit in eine durchaus bedingte Welt, einen momentanen Aufstand der leidenschaftlichen Seele wider den Geist; dieser aber rächt sich bald genug, die anarchischen Leidenschaften werden von einem tyrannisch-mechanischen Geiste in härteste Zucht genommen, die Revolution beginnt mit seelischer Entflammtheit und endet mit der Diktatur des kalten Polizeistaates. Die Revolution also entfernt sich zwiefach von der Mitte des Lebens: als Alleinherrschaft der nur fühlenden, nur leidenschaftlichen Seele und als Alleinherrschaft des kalten, abgetrennten, für sich seienden, unmenschlich berechnenden Geistes: auf das entfesselte «Weib», auf die «Pétroleuse» folgt in der Revolution die Mathematik der Macht.

 

 

 

Die Philosophie als Tauromachie

 

Philosophische Impressionen auf Mallorca. Man zeigte uns hier auf der Insel vom Autocar aus das Kloster, das Raimundus Lullus vor ca. 600 Jahren auf einem weithin sichtbaren Berg (ähnlich langgestreckt wie der Etzel am Zürichsee) errichtet haben soll. Vielleicht auch ein «Ungeheuer der Moral» (so bezeichnete Nietzsche bekanntlich den Kirchenvater Augustinus) denn wie Augustinus lebte er ein leichtes Leben mit Frauen bis zu seinem dreissigsten Jahre, um sich dann ganz und gar seiner missionarischen und philosophischen Tätigkeit zu widmen.

Aber Nietzsches Spiegel ist auch ein Zerrspiegel, denn es handelt sich hier um eine Umkehr, die in diesen Breiten gar nicht anders möglich ist als eben so scharf und unbedingt. Hier gibt es keine Halbtöne, hier liegt die Grenze des klösterlichen Schattens wie eine gezogene Linie neben dem übermenschlich heissen und weissen Lichte. Hier ist bereits Afrika: die Drohung der Wüste liegt über dem ganzen Lande, jeder kleine, von einem Luftzug aufgeregte Staubwirbel zeugt davon. Es hat gar keinen Sinn, eine Harmonie von Körper und Geist dort fordern zu wollen, wo sie klimatisch und physiologisch ganz ausgeschlossen sind. Dem würde in Spanien ja wohl das Nebeneinander von Klöstern und Stierkampfarenen entsprechen, wobei in den Klöstern der «innere Stier» bekämpft, verfolgt und erlegt wird.

Aber darin hat Nietzsche sicherlich recht: es ist Grausamkeit, sehr viel Grausamkeit dabei, sei es nun in den Klöstern, sei es nun in der Arena. Diese Grausamkeit, die wohl aus Afrika stammt, hat sich im letzten spanischen Bürgerkrieg ausgetobt: eine Million Tote! Don Quixote ist gestorben, es lebt Sancho Pansa, der gut verdienen will und auf Mallorca auch gut verdient. Aber hat in Mallorca Don Quixote überhaupt nie gelebt? Doch, denn davon zeugt das Kloster Lulli auf einsamer Bergeshöhe und die ungeheuerliche logische Temerität der «Ars magna», die Leibniz mit seiner «Mathesis unversalis» fortgesetzt hat. Die Tradition ist nicht tot, denn die Logistik will mutatis mutandis dasselbe.

 

Es kommt darauf an, auch in den äussersten Situationen des Lebens so viel Besinnung zu bewahren, dass das, was als Paranoia erscheinen mag, plötzlich rational werden kann, plötzlich die Fessel des Begriffs erträgt. Dieses Irrationale ist gleichsam der Stier der spanischen Arena, den es mit einem grossen Aufwand an List und Gewandtheit zu bezwingen gilt. Tauromachie als die Kunst des Begriffs!

 

Die Aufgabe des Philosophen? Er rette die Wahrheit vor den «Hörnern des Stiers».

 

Die Ratio besetzt heute Positionen, die sie nicht lange mehr wird halten können. Das erkennt man wohl am besten an der zeitgemässen - und wie sehr aufklärerischen - Ausdehnung des Begriffes der Paranoia, ja der Verrücktheit überhaupt, wobei auch so ziemlich alles ergriffen wird, wovon die Zukunft der Menschheit in einem mehr mittelbaren Sinne abhängt. Jesus Christus würde heute wohl Insasse einer Anstalt für Nervenkranke sein, anstatt ans Kreuz geschlagen zu werden. Man wird einwenden: es geht nicht an, das Jahr zweitausend ohne Vermittlung neben das Jahr eins zu stellen. Womit man durchaus recht hat.

Richtig aber ist ebenfalls, dass es eine Ewigkeit des Jahres eins gibt, vor welcher auch der fliegende Punkt der Zeitgeraden «Jahr zweitausend» zu bestehen hat. Hat unsere Zeit diese Prüfung bestanden? Ich möchte es verneinen. Es herrscht vor eine allgemeine Ängstlichkeit kritisch-rationaler Prüfung, die sich vor jeder mehr persönlichen Verantwortung zurückzieht, und es gibt immer wieder sowohl in der Philosophie wie in der Religion solche Verantwortlichkeiten säkularen, ja millenären Ausmasses. Wenn man die Person eliminiert, dann wird man auch die Religion eliminieren und kann sich bequem in die wissenschaftliche Kontemplation der Taten, die andere taten, zurückziehen.

 

Im Werke Dürrenmatts, vor allem in seinem Drama «Die Physiker», im Zeugnis Robert Mächlers «Das Jahr des Gerichts», in Ernst Blochs «Prinzip Hoffnung» sowie in meinem «Paranoia-Aphorismus» finden sich merkwürdige Entsprechungen. Dürrenmatt beweist einen gesunden geistigen Instinkt, wenn er drei Atomphysiker, die sich allerdings irr stellen, in einer Nervenheilanstalt einsperren lässt. Der Geist wird immer verdächtigt, er wird nur dann entschuldigt (wenn auch nicht verstanden) wenn er nützlich ist. Er steht von vornherein unter dem Verdacht der Narrheit, ja der Verrücktheit, wenn er nicht nachweisen kann, dass man ihn braucht. Der Geist aber ist so wenig nützlich, dass man sagen könnte, er erhebe den Anspruch, diejenigen zu benützen, die ihn benützen zu können glauben, man möge es nun als die »List der Vernunft» definieren oder auch anders.

Die Atomphysiker Dürrenmatts stellen sich zwar verrückt, sie spielen die Rolle des Verrückten, was aber immerhin zur Folge hat, dass sie in einer zwielichtigen Beleuchtung erscheinen, denn wo hört das Spiel auf, wo beginnt der Ernst? Wo hört die Maske auf, wo beginnt das Gesicht? Könnte nicht die Maske zum Gesicht werden, das Gesicht zur Maske, wenn es unter Zwang nur lange genug dauert, wenn nur die Grimasse lange genug eingeübt wurde? Hält die Übung der Vernunft der Übung des Irrsinns nicht ein kräftiges Gegengewicht, dann ist der Rubikon zum Irrsinn überschritten. Man geht ins Irrenhaus, aber man sollte nicht von sich aus ins Irrenhaus gehen, denn dann hat man bereits vor der Konvention kapituliert.

 

Ernst Blochs Charakteristik der Paranoia in seinem grossen Werk «Das Prinzip Hoffnung» weist darauf hin, dass er in dieser Geisteskrankheit die Übertreibung und Entartung divinatorischer Talente sieht, die uns die Zukunft erschliessen könnten. Die Paranoia wäre also in dieser Hinsicht als die krank gewordene prophetische Begeisterung aufzufassen, aber man hat bei Ernst Bloch auch das Gefühl, dass die Nähe von Sinn und Irrsinn, von Vernunft und Unvernunft verschuldet wird durch eine Überwertung der Vernunft, die ja gerade im Marxismus offenbar ist. Denn wenn die Vernunft alles sein will, dann treibt sie wesentliche Kräfte des Lebens in den Widerstand, in den Untergrund, in die Katakomben, sie treibt sie ins Verbrechen, in den Tod, ins Irrenhaus.

 

 

 

Die Wissenschaftskirche

 

Die «Wissenschaftskirche». Einer der widersprüchlichsten philosophischen Begriffe der letzten zwei Jahrhunderte. Nicht, dass es ein Begriff de iure wäre, denn die Philosophen, denen ich ihn in den Mund lege, kämpften ja eben an gegen die Traditionen der Kirchen, gegen das, was sie «Religion» nannten. Aber es ist ein Begriff de facto, von grosser, ja von ungeheurer und ungeheuerlicher, von globaler Wirksamkeit, es ist wohl der mächtigste philosophische Begriff seit Bestehen der Menschheit. Kein Begriff könnte deutlicher beweisen, wie sehr die Philosophie (und die sie stützenden religiösen Hilfsvorstellungen) heute im Zentrum des Weltgeschehens steht.

Die «Wissenschaftskirche» hat natürlich ihre Vorläufer, die bis weit ins Altertum zurückreichen (vor allem Platon). Als das eklatanteste Beispiel für diese philosophische Richtung möchte ich Comtes System der positiven Philosophie nennen. Bei Comte ist die Allianz von Wissenschaft und Kirche noch ganz naiv konzipiert, er verlangt ein Priestertum, einen Kult, der erinnert an den Kult der «nackten Göttin der Vernunft», die zurzeit der französischen Revolution triumphal auf einem Wagen durch die Strassen der Stadt Paris geführt wurde. Bei Marx, allerdings, ist die «Wissenschaftskirche» sehr viel weniger evident, sehr viel versteckter, aber eben darum auch umso gefährlicher. Die Wirkung, jedoch, ist dieselbe. Die Identifikation von Theorie und Praxis, von Wissenschaft und Handeln bedeutet die Instauration des roten Kaiser-Papsttums, des roten Cäsaropapismus.

 

Das 20. Jahrhundert ist kein «wissenschaftliches Jahrhundert», weit entfernt davon, was besonders deutlich wird an der Überforderung und Überbesetzung wissenschaftlich begründeter Vernunft. Die Wissenschaft soll den «neuen Himmel» schaffen, wir lassen an ihr unsern Hang, ja unsere Wut zum Religiösen aus, sie soll uns mehr «beweisen», als sie es je vermöchte, im Osten den Bolschewismus, im Westen die Industrie. Gott ist tot? Er lebt an allen Ecken und Enden, er ist mit Händen zu greifen!

 

Es ist doch ein schmähliches Ende einer aufklärerischen Vernunft mit grosser, tief in das Mittelalter zurückreichender Vergangenheit: dass sie vor dem «roten Papste» zu Kreuze kriecht!

 

Ein neuer Ritter des geistigen Schwertes, ein neuer Hutten sollte erstehen, aber sein Angriff würde sich dieses Mal nicht gegen Rom richten.

 

Sie sprechen von «Wahrheit», verstehen darunter die wissenschaftliche und meinen die religiöse.

 

Die «Wahrheit» ist nur ein anderer Name für die Religion.

 

Wo die Religion nicht mehr herrscht, da herrscht die Pseudoreligion, wo die Wahrheit nicht mehr herrscht, da herrscht die Pseudowahrheit, denn der Trieb nach Wahrheit, der Religionstrieb ist immer und überall gegenwärtig.

 

Der Atheismus ist eine Form der Religion, vielleicht sogar der echten.

 

Deus absconditus. Wir leben in einer Zeit religiösen Interregnums.

 

Zur Pseudoreligion gehört auch die Fixierung religiösen Inhalts durch die Theologen, die den Mut nicht besitzen, einen Schritt vorwärts zu tun.

 

Wenn der Mensch wirklich ohne Religion leben könnte, so würden wir heute nicht so zahlreiche Manifestationen der Pseudoreligion erleben auf fast allen Gebieten menschlicher Tätigkeit.

 

Etwa den Ästhetizismus, die abgelöste Vergötterung der Kunst, den Szientifizismus, die abgelöste Vergötterung der Wissenschaft, den Industrialismus, die abgelöste Vergötterung der Industrie.

 

Die Scheinreligion ist das Durchscheinen der Religion im Menschenherzen, die ihren adäquaten Ausdruck, eben ihre «Wahrheit» noch nicht gefunden hat.

 

Inoffizielle Definition der Religion durch die offizielle Theologie: Religion ist, was Ruhe und Ordnung nicht stört.

 

Nachtwächtertheologie.

 

 

 

Der «Dieb in der Nacht»

 

Der Geist aufgefasst als «Dieb in der Nacht». Diebstahl einmal ist seine Existenz, denn er stiehlt sich durchs Leben, er lebt trotz dem Leben, ist ungern gesehen, prinzipiell unpopulär, immer das schlechte Gewissen der andern, immer auch der «Narr des Lebens»; Diebstahl aber ist auch sein Eigentum (Proudhon würde sagen: sa propriété est le vol), denn noch der originellste Geist geht eine schwere Schuld ein, macht grosse Anleihen bei der Vergangenheit.

 

Eulenspiegeleien. Mit dem Unernst sind wir weniger weit entfernt vom philosophischen Ernst, als es den Anschein hat. Hegels Werk, insbesondere, könnte aufgefasst werden als eine riesige Eulenspiegelei, ein gigantisches Fastnachtsfest (schöne Maske, du kennst mich nicht ... ) Man denke nur an die «List der Vernunft», an den Geist, der durch so viele Jahrhunderte immer wieder andere Masken trägt und in einem tollen Treiben sich hinaufarbeitet bis zum Wissen um sich selbst. Sokrates war der klassische Eulenspiegel der Antike, seine Mäeutik wäre nicht denkbar ohne die Beimischung von Ironie und Humor, die sie erst schmackhaft macht.

 

Eulen-Spiegel. Warum sollte sich die Eule (das weise Tier, das in der Dämmerung nach Athen fliegt) nicht im Spiegel sehen? Das nennt man doch im eigentlichen und im übertragenen Sinne: Reflexion. Die Ironie ist der Spiegelstrahl im Doppelsinne seiner Bewegung, hin vom Betrachter zum Spiegel, her vom Spiegel zum Betrachter, der Ironiker reflektiert auf den andern und hält ihm sein Spiegelbild vor, worin sich der andere nicht immer erkennt, er reflektiert aber auch vom andern auf sich selbst, indem er dem andern gern, wenn auch mit voll bewahrter geistiger Freiheit, so erscheint, wie ihn dieser vielleicht sehen möchte, oder überhaupt nur sehen kann.

 

Die Ironie ist eine andere Version des «Diebes in der Nacht».

 

 

 

Varia Kurzessays

 

Vorsüden. 30. 3. 58. Am Sonntag vor Ostern. Heute morgen flanierte ich an den Ufern der Reuss, in der Sonne, an der Grenze der Luzerner Altstadt. Nie zuvor hatte ich eine so deutliche, ja mit fast halluzinatorischer Macht auf mich eindringende Vision des Vorsüdens wie diesen Morgen. Es ist das Land vor dem Alpenriegel, dem grauen Felsenschloss, welches zu öffnen, um nach Süden zu fahren, der Wanderer einst mit Mühe und Schweiss zahlen musste. Es ist das südlichste nördliche, es ist das nördlichste südliche Land, es ist noch nicht gehaltenes Versprechen, es ist Vorfreude der Freude des Südens, es ist das Land, das in einem Lichte liegt, in welches schon der Glanz des Südens hineinspielt, vermischt noch mit grauer Dämpfung des Nordens. Die Vorfreude ist die schönste Freude, und der Vorsüden scheint mir schöner zu sein als der Süden selbst. Aber was wäre diese Schönheit ohne den Süden?

Ich glaube, dass der Süden nie anders wirklich werden kann für uns als eben durch seine Wirklichkeit, aber auch durch die Sehnsucht nach ihr, durch die Sehnsucht, die sogar Wirklichkeit wird in einem Zwischenreich, in einem Zwischenbereich von Norden und Süden, wo die dunklere Kraft des Nordens in der lichten Atmosphäre des Südens zu sich selbst kommt. Der Süden, so wie wir ihn im tiefsten verstehen, ist nur dort, wo er noch nicht ist, d. h. wo er im Bewusstsein erst wird, dort, wo der Schnee des Nordens schmilzt in der Wärme des Südens, was gleichnishaft gedeutet, auf einen historischen Prozess hinweist, der Jahrhunderte dauerte, einen historischen Prozess, der sich überall dort abspielte. wo Völker des Nordens nach Süden zogen, so im alten Griechenland, in Italien, in Spanien.

Über den höchsten Errungenschaften unserer europäischen Kultur liegt gerade dieses Licht, das eigentümlich schillernde und brütende, geradezu unglaubhafte Licht einer Sonne des Südens, deren blendende Strahlen reflektiert werden vom Schnee des Nordens, eine wahre Weissglut aus Geist und Leidenschaft.

 

Der Käse Epikurs. Gides «Nourritures terrestres» erinnern mich an eine wiederkehrende Gewohnheit, die ich schon sehr früh hatte: ich pflegte von Zeit zu Zeit richtiggehend zu hungern (von geringer Mahlzeit zu geringer Mahlzeit, so dass meine Eltern oder meine Frau nichts merkten), begab mich dann kurz vor dem Abendbrot, gerade zu dem Zeitpunkt, da der Hunger mir am ärgsten in den Eingeweiden nagte, hinauf in die Veranda unseres Hauses, von der man einen schönen Überblick über den See geniesst (der so manchen Abend unter einem bedeckten Himmel eine «weisse Haut» hatte). In der einen Hand trug ich ein Glas Wasser, in der andern ein Stück Käse, den ich bei mir den «Käse Epikurs» nannte. Denn es war mir bekannt, dass Epikur einem Freund brieflich gedankt hatte für ein Stück Käse, das dieser ihm übersandte.

Der Käse, der alt und hart war (dass er alt und hart war, gehörte zur eisernen Regel der Wollust dieses eigentümlichen Mahles) liess sich leicht in kleine und kleinste Stückchen zerbröckeln. Nun blickte ich eine kleine Weile über den See, genoss dessen Fläche, dessen Weite, die Stellen, wo der Wind die Fläche kräuselte, die Stellen, wo er glatt dalag in einem schwärzeren Ton, brach dann ein recht kleines Stück von dem Käse ab, führte es in den Mund, goss ein klein bisschen Wasser aus dem Glase nach.

Jetzt kommen wir zur Schilderung des eigentlichen Ereignisses: langsam, langsam, in einem Prozess, den ich immer wieder wie eine Liebkosung empfand, schmolz der Käse auf der warmen Zunge und dem kalten Wasser, indem er den Genuss des Salzes, seiner nährenden Bestandteile, die meinen starken Hunger unendlich reizten, nicht nur auf meinen Körper, sondern auch auf mein ganzes Gemüt übertrug, auch auf meine Seele also, auch auf meinen Geist. Der Genuss wurde mit ähnlicher, doch kleiner werdender Wirkung verschiedene Male wiederholt, bis das in Stückchen zerkrümelte kleine Stück Käse zu Ende war. Gestärkt erhob ich mich von meinem «Mahl», um nun zu «essen».

Wenn Gide sagt, «Foyers, je vous hais», «Heimstätten, ich hasse euch», so meint er eben damit die Stätten regelmässiger Befriedigung von Hunger und Durst, die Stätten der Sattheit also, für welche die «Früchte der Erde» verloren sind. Die subjektiven Bedingungen für den Genuss der «Früchte der Erde» sind sehr viel wichtiger als die objektiven, nämlich das Dasein der Früchte.

 

Die leichte Beweglichkeit der Frau an der Oberfläche, wie sie sich vor allem in der ständig wechselnden Mode dokumentiert, könnte zum falschen Schluss führen, dass die Frau vorzüglich zum Neuen, zu Änderungen neigt. Zweifellos aber ist die Frau konservativer als der Mann. Wenn es nicht so wäre, dass der Mann auch in der Frau lebt und ebenso die Frau im Manne, was dem Bilde der «ungeteilten Kugel» Platons entspricht - denn ungeteilt war einmal der Mensch nach Platon, und von Kugelgestalt, zwiegeschlechtlich, weder Mann noch Frau - so könnte man sich sogar zur extremen Behauptung versteigen: wenn es nur auf die Frau angekommen wäre, so würde die Menschheit noch heute in Höhlen wohnen und Werkzeuge aus Stein gebrauchen. Die konservative Sinnlichkeit der Frau hat aber - wie es sich versteht - ihren tiefern Grund und deshalb auch ihre tiefere Berechtigung.

Alles was neu in die Gesellschaft der Menschen einbricht, gefährdet den Zusammenhalt der Familie, ja gefährdet sogar die Liebe von Frau und Mann, mithin die Gründung der Familie und die Zeugung der Kinder. Denn die Liebe von Frau und Mann beruht im wesentlichen auf einer Wiederholung von Gefühlen. Was wiederholt wird, ist nicht neu, es entbehrt des Reizes der Abstraktion, welchen alles Neue mit sich bringt. Diesen Reiz der Abstraktion versucht allerdings die Frau durch ihr wechselndes Kleid, durch die sich jagenden Erfindungen der Mode (die übrigens vorwiegend männlichen Ursprungs sind) einzuholen. Unter dem Kleid aber steckt immer wieder die alte nackte Eva, was der Mann weiss, d. h. er vergisst und vergisst sich (glücklicherweise) oft genug, aber es bleibt ihm nicht endgültig verborgen. Die Hülle der Abstraktion über dem ewig Gleichen und Selben, als welche man die Frauenmode vom philosophischen Standpunkte aus definieren könnte, täuscht nur so weit, als sie täuschen soll, aber insofern erreicht sie doch ihren Zweck.

 

Narr und Geist. An manchen Fürstenhöfen des Mittelalters trug der Geist die Schellenkappe des Narren. Die rohe Sitte duldete nur das banalste Gespräch. Was als witziges Spiel der Ideen und nicht zur Sache geäussert wurde, machte den Eindruck der Unvernunft, ja der Narrheit und wurde geduldet, um die müssigen Stunden auszufüllen. Der Mensch mit geistigen Bedürfnissen, die den Durchschnitt weit übersteigen, stand, ja steht noch immer unter dem Verdachte der Zurechnungsunfähigkeit, des Wahnsinns sogar, es sei denn, er wisse auf kluge Art und Weise seinem Talent eine praktische Wendung und Bedeutung zu geben.

 

Die Ungebändigtheit mitten in der Bändigung, die Natur mitten in der Zivilisation, die Freiheit mitten in der Bindung, ihr Name ist Kultur. Es ist etwas von urmenschlichem Beginnen in jedem grossen Werk. Es erfolgt eine Rückkehr zur Natur, zur Freiheit, die überlieferte Regel wird zerschlagen, die neue Regel wird geboren zugleich aus Freiheit und Notwendigkeit, ihre Geburt ist ein unvorsehbares Naturereignis wie der Ausbruch eines Vulkans, Geburtshelfer aber ist der hellste, klarste Verstand.

Das grosse Werk reicht hinab bis in den Mutterboden der schöpferischen Anarchie, von dorther stammt seine unwiderstehliche Naturkraft; man fühlt, es kann nicht anders und könnte doch anders sein, es ist nicht vorauszusehen und steigt doch auf aus dunklen Tiefen, gewappnet und gerüstet, unangreifbar auch für die Vernunft des Tageslichts.

Die Naturkraft des schöpferischen Wirkens setzt aber voraus, dass es in der Gesellschaft immer wieder möglich sein wird, sich dem Zugriff dessen, was öffentlich als löbliche Pflicht gilt, vorsätzlich zu entziehen und dem Rufe des Instinkts wie der hohen Einsicht folgend, sich ein Leben aufzubauen, für das die meisten der Zeitgenossen kein Verständnis aufbringen können. Es geht ganz konkret darum, den Muttergrund der schöpferischen Anarchie zu erhalten, was in Zukunft wohl immer schwieriger sein wird. Der Imperativ der modernen Gesellschaft hat allmählich eine geradezu ohrenbetäubende Lautstärke erlangt.

Der Bindungen werden immer mehr, der Freiheiten immer weniger. Da aber die wahre Bindung nur aus der Freiheit stammt, so werden in Wirklichkeit der echten Bindungen auch immer weniger, d. h. der Mensch ist zugleich gefesselt und geknebelt und absolut frei, er lebt in der äussersten Bestimmtheit der Kerkerhaft und doch im Nirgendwo, es ist ihm sehr wenig erlaubt und trotzdem ist er zu allem fähig, er fällt, an Händen und Füssen gebunden, ins Leere und weiss nicht, wohin er fällt, kurz: es droht die Entwicklung, dass die fruchtbare Anarchie der Kultur durch die unfruchtbare der Zivilisation verdrängt wird.

 

Robinsonsinsel. Im Grunde lebt jeder Mensch auf einem magischen Eiland, dessen innerstes Heiligtum keines andern Menschen Fuss betritt. Der Zug und die Sehnsucht nach dem magischen Eiland, das wir in uns tragen, ist ein Zug und eine Sehnsucht des kollektiven Bewusstseins und mag den grossen Erfolg des Werkes von Daniel Defoe erklären.

Ganz von vorn beginnen, allein und für sich, nur von sich selbst und von niemanden anders abhängig, den Erfolg seines Strebens ganz ohne fremde Beimischung unmittelbar vor Augen haben, Herr sein über eine reiche Pflanzen- und Tierwelt, das Anwachsen der täglich mit eigenen Händen ausgeübten Macht spüren in einem materiell, seelisch und geistig ständig sich ausdehnenden Haushalt, die Natur zivilisieren nicht wie die Menschheit in hunderttausenden, sondern in einem atemraubenden Prozess durch den einen Menschen in wenigen Jahren, jeden taufrischen Morgen wieder die Unschuld des Anfangs zu geniessen in der Pracht des aus dem Meer auftauchenden Gestirns, im Getriller der Vögel, im leichten morgendlichen Landwind, der wie der Hauch einer erwachenden Inselseele aufs Meer hinausströmt; die auf die umgebende Fläche des Meeres geworfene, dunkler sich färbende atmende Bewegung empfinden als den Schauer der menschenlosen Natur, der aber, wie die glühende Sonne immer höher steigt, wieder sinkt und der Tag sich schliesslich zum reichen Abend neigt, zum Bewusstsein umfassender Erfüllung und reichsten Segens sich wandelt, so dass Robinson auf seinem magischen Eiland an einem Tag die Unschuld des natürlichen Anfangs wie den Triumph des zivilisatorischen Erfolgs erleben darf.

Von Anfang bis Ende ist er sein eigener Herr, wie er in den Wald ruft, so tönt es ihm zurück, ohne Widerrede, ohne störende Einflüsse; Robinson ist der Gott seiner Insel und wie dieser hat er seine schöpferische Woche.

 

Das Märchen. Die Verzauberung des Blicks, die der märchenhaften Gemütsstimmung zugrunde liegt, gibt der Phantasie eine Richtung auf das Ausserordentliche in dem Sinn, dass die Natur überflogen wird: die Menschen werden zu Übermenschen oder zu Tieren, ja zu Steinen, die toten Dinge gewinnen Leben, es setzt ein Treiben ein, da alles eine vordergründige und eine hintergründige Bedeutung hat, als solches und als jenes, in welches es sich verwandelt.

Der begabte Märchenerzähler hat jene Hintergründigkeit des poetischen Blicks, die zu einer Verdoppelung der Welt führt: die uns hingeworfene, unsern Sinnen gegebene objektive Welt ist nur das Tor, welches sich auf das «Sesam öffne dich» des Märchenerzählers in den Angeln dreht und eine zweite Welt erschliesst, die bald gütig und hilfsbereit, bald dämonisch lauernd, nur auf die magische Formel wartet, um den Einbruch, die Invasion in die vordergründige Welt zu vollziehen. Etwas von dieser Verzauberung des Blicks ist jedem Menschen eigen, der in irgendeinem Gebiete schöpferisch tätig ist. Er allein weiss um die magische Formel und kraft seines «Sesam öffne dich» tritt er ein in die Felsenkluft mit den vielen Schätzen; seine Freude ist überwältigend, denn wo andere nur die glatte Felswand sahen, da drang sein Blick in die Eingeweide des Berges, und wie er in Worte fasste, was er sah, da war das «Sesam öffne dich» auch schon ausgesprochen.

 

Der Philosoph und das Märchen. Rousseau, Marx und Nietzsche haben uns schöne Märchen erzählt, Märchen von wirklichem poetischen Schwung. Schade ist nur, dass in den modernen Märchen das Habenwollen eine so grosse Rolle spielt. Wenn sie es nicht haben wollten, so würden sie es wirklich besitzen, es würde ihnen geschenkt. So aber geht es ihnen wie dem Fischer und syner Fru.

 

Schwer und drohend hängen die ungeheuren Schneemassen über dem Tal. In ihnen allen steckt der gute Wille der nassen Schwere, sie sind bereit, reif und überreif, zu Tale zu stürzen. Worauf warten sie noch? Auf einen kleinen Windzug über dem höchsten Kamm, der dort weit über dem dunklen Waldrand aufblitzt und sich gegen den Himmel schwingt. Ein Wind, der in der höchsten Höhe weht, leise und unmerklich wie ein Geist. Aber der kleinste Anstoss genügt nun, wenn er nämlich dort geschieht, wo er geschehen muss, um folgenreich zu sein: in der Höhe.

Drunten in den Schluchten lauern die Dämonen, gewärtig des Befehls von oben, bereit, sich zu entfesseln. Der leise Wind umschmeichelt den Höhenkamm, zugleich sanft und unwiderstehlich, er greift wie mit weichem warmem Vogelflügel in das Fundament einer überhängenden Wächte, die in sich zusammensinkt. Ein Geriesel von losem Schnee schiesst in die Tiefe, die Bewegung hat begonnen, sie ist nicht mehr aufzuhalten, gewaltig ist der Zustrom von allen Seiten, es donnert in den Schluchten und widerhallt oben in den Wänden. Befreit ist die erstarrte Welt, sie fährt zur Tiefe mit ohrenbetäubendem Krachen, ihr Wille ist geschehen, doch bedurfte es dazu des Anstosses aus der Höhe.

 

Xanthippe. Wie hielt es Sokrates mit der Xanthippe aus? Die Frage könnte aber auch umgekehrt gestellt werden: wie hielt es Xanthippe mit Sokrates aus? Ein Philosoph, dessen Heim die Strasse ist, ein Philosoph, der auf die Abenteuer von Rede und Gegenrede ausgehend Zeit und Ort vergisst und mit Aristophanes zu reden im Wolkenkuckucksheim lebt, ein Philosoph, der aus dem Zweifel eine Tugend macht und systematisch versucht, jegliche Instinktsicherheit zu zerstören, ein Philosoph, der nie die bunten Farben des Einzelnen, sondern alles nur in dem erbarmungslosen, kalten und weissen Licht der Abstraktion sieht, ein Philosoph endlich, der jegliche Emotion als Trübung der Vernunft anprangert, wie könnte er ein Weib, jedes Weib nicht zur Xanthippe machen? Und doch liegt der Fall nicht so einfach. Wir erreichen nicht viel, wenn wir Xanthippe gegen Sokrates, noch weniger, wenn wir Sokrates gegen Xanthippe ausspielen.

Es geht hier vielmehr um eine zwischen dem männlichen und dem weiblichen Prinzip spielende Dialektik, in welcher die landläufigen Begriffe gut und böse, Schuld und Unschuld nur relativ angewendet werden können, nämlich in Bezug auf ihren Zweck. Gut wozu? Schuld worin? Die Schuld der Xanthippe ist die Kehrseite ihrer Tugend.

Sokrates hatte einst im Wortgefecht seinen Gegner dermassen in die Enge getrieben, dass sich dieser nur noch durch einen Fusstritt zu helfen wusste. Sokrates war mit einem Witzwort zur Hand. Aber die Geste hat doch philosophische Bedeutung. «Le coeur a ses raisons que la raison ignore» sagt Pascal. Die Vernunft endet im Nihilismus, wenn sie das Feld allein beherrschen will. Da endlos bewiesen werden kann ohne an ein Ziel, ohne an ein Ende zu kommen, ist es auch nicht möglich, der Flut des Zweifels letztlich von der Vernunft her einen Damm zu setzen, was besagt, dass der zweifelnde Intellekt mit seinen eigenen Waffen nicht zu schlagen ist. Der argumentierende Sokrates konnte mit Argumenten nicht widerlegt werden. Es blieb nur die stumme, brutale, «grundlose» Geste des äussersten Hasses, deren Grundlosigkeit» aber eben zeigt, dass das bedrohte Leben auf seinen «Grund» geraten war.

Es liegt nicht in der Natur des Weibes zu schweigen, wenn es keinen vernünftigen Grund mehr hat, zu reden. Das musste Sokrates zu seinem Leidwesen erfahren. Aber die Abwehr der keifenden Xanthippe unterscheidet sich doch kaum von der stummen Geste des in die Enge getriebenen Atheners. Das Keifen des Weibes ist sinnlos in dem Sinne vernünftiger Rede, es ist eigentlich beinahe schon eine Geste, es gleicht dem Fluche des Mannes, der auf der Grenze steht zwischen Rede und Geste. Xanthippe wusste sich bedroht in ihrer weiblichen Existenz, in ihrer häuslichen Mystik, in der Heiligkeit ihres Gefühls, aber ihre keifende Rede deutete gleichsam als Geste nur auf diese ihre wahre Not hin.

Aber im Laufe der dialektischen Entwicklung vertauschen sich die Positionen: was gut ist in bestimmter Absicht wird böse in anderer. Denn nicht nur «schweigen» Xanthippe und der in die Enge getriebene Gesprächspartner des Sokrates, auch Sokrates bleibt die Antwort schuldig. Freilich liegt diese Antwort nicht mehr im Bereiche vernünftiger Rede. Auf Gewalt kann nur mit Gewalt geantwortet werden. Der Fusstritt des Atheners, die keifende Rede der Xanthippe erscheinen damit in einem andern Licht. Sie werden zum Schulbeispiel, wie man sich der Wirkung vernünftiger Rede, ja der Wirkung der Vernunft überhaupt entzieht. Die Tyrannei bediente sich von jeher dieser Mittel gegen den aufklärenden Philosophen: seit Jahrtausenden hat sie ihn niedergebrüllt und niedergeknüppelt. Das Weib fühlt sich diesen dunklen Mächten verbunden, weil es, als Bewahrerin des Lebens, das Übermass des Lichts fürchtet, das tötet. Nicht die Freiheit der Selbstbesinnung und der Erkenntnis ist des Weibes tiefstes Erleben, sondern die Notwendigkeit unabdingbaren Müssens, verkörpert im Akte des Gebärens.

 

Wenn auch die Gipfel fehlen, so ist doch zu sagen, dass die europäische Durchschnittsintelligenz noch nie so hoch stand wie zu unserer Zeit. Man sehe nur zu: wie viel intelligente Betriebsamkeit in Industrie, Politik und Wissenschaft! Daraus entsteht die allgemeine Verflachung des Urteils. Das Individuum traut sich schliesslich die Ausnahme nicht mehr zu.

 

Die Domestizierung der Intelligenz. Es ist eine Lust, den stumpf blickenden Kühen zuzusehen, wie sie innerhalb eines elektrisch geladenen Zaunes von 80 cm Höhe weiden und auch nicht den mindesten Versuch machen, den doch verhältnismässig niedrigen Zaun zu überspringen und sich draussen in Freiheit zu tummeln. Es muss verhindert werden, dass auch der Geist zu einem plumpen Stalltier wird, das mangels Bewegung über keinen Zaun mehr setzen kann und sich willig, allzuwillig vor irgendeinen Karren, vor allem den Karren des Staates spannen lässt. Wir befinden uns auf dem Weg eines Zivilisationsprozesses, der allerdings nicht irreversibel ist, dessen Stationen aber sein könnten: erstens, alle reden gleich, zweitens, alle schweigen, weil auch gleich reden noch zu gefährlich ist, denn wer entscheidet mit Sicherheit, was gleich und was ungleich ist.

 

In seinem Innern ist jedermann ein Italiener.

 

Vor allem für Völker, die lange vom Kriege verschont blieben, gilt: man glaubt nicht, will nicht glauben, dass der andere in seinem Innern auch ein «Italiener» ist. Aber die Natur kümmert sich nicht um unsern Glauben oder Unglauben, der elementare Mensch ist eben doch da. Man traut dem andern nicht zu, dass er so ist wie wir selbst, denn haben wir uns nicht entsetzt über unsere Masslosigkeit, waren wir nicht fest davon überzeugt, der einzige Mensch gewesen zu sein, dem sich dieser Abgrund von Leidenschaft öffnete? Es ist nicht anders möglich: Du, ich, alle, jeder einzelne von uns ist der einzige elementare Mensch. Wenn wir ordentlich unsere Alltagsmiene angezogen und gut zugeknöpft haben und aus unsern Einzelzellen herauskommen, sieht uns wirklich niemand, und wir sehen niemand etwas an.

Aber die Psychologen lassen sich nicht täuschen. Sie nehmen an, dass etwa achtzig Prozent aller Menschen mindestens einmal im Leben mit Selbstmordgedanken zu kämpfen haben, ein Prozentsatz, der in Ländern, die lange in keinen Krieg hineingezogen wurden, sicher noch höher ist. Man führt keinen Krieg, bezahlt aber doch das Lösegeld des Krieges. Das Elementare ist nicht ausgelöscht, es ist noch da, unter der Oberfläche. Wir sind im Prinzip nicht anders als die Völker, die Krieg führten, aber wir haben mehr Glück gehabt. Es ergibt sich daraus der zwingende Schluss, dass die Menschheit, die seit Jahrhunderttausenden in irgendeiner Form Krieg geführt hat, ihre Lebensweise nicht in wenigen Jahrzehnten vollkommen ändern kann, ohne schweren inneren Schaden zu nehmen, wenn nicht bewusst das ganze Dasein darauf eingerichtet wird, dass sie wirklich ohne Krieg zu leben vermag. Aber wie? Das wäre der Gegenstand einer ganz neuen, noch zu schaffenden Philosophie und Psychologie, die weitgehend zu einer aufbauenden Kritik am tradierten Christentum werden müsste.

 

Mark Aurel. Die Gefahr eines gewissen Leichtsinns, die guten Dinge, die man besitzt, so sehr und so wenig zu schätzen, dass man glaubt, sie auch fortwerfen zu können, - was Hybris ist. Mit «Fortwerfen» ist ja eigentlich kein Verlust gemeint, sondern noch ein Gewinn mehr (darin besteht eben die Hybris), etwa in dem Sinne: «Das alles besitze ich, aber es ist gar nicht nötig zu meinem Glück, ich könnte auch ohne den Besitz glücklich sein», es ist die eine Steigerung über die Freude am Besitz hinaus, die noch möglich ist, d. h. das Gefühl, vom Besitz abhängig zu sein, wird aufgehoben, bei Wahrung des Besitzes. Man wird dann vielleicht die bittere Erfahrung machen, dass man den Besitz eben doch nötig hat. Aber die Menschen werden immer danach streben, alles und nichts zugleich zu besitzen. Mark Aurel ist vielleicht das trefflichste Beispiel dafür: er war Kaiser und wurde Philosoph, - blieb aber Kaiser.

 

Ist nicht die Erkenntnis ungemein wichtig, dass nur die antike wissenschaftliche Philosophie, nicht aber jener andere, mindestens so bedeutende Zweig der antiken Philosophie, nämlich die antike Lebensphilosophie in der Moderne fortgeführt wurde?

 

Der Begriff des psychosomatischen Denkens. Es ist die Vorstellung eines Denkens, das sich nicht nur im Kopf abspielt, sondern starke und tiefe Wurzeln im ganzen System des Körpers hat. Als psychosomatische Denker wären z. B. zu bezeichnen: Lichtenberg und Nietzsche. Der Körper hat Gewalt über den Geist, die Leidenschaften treiben den Geist zum Denken, geben ihm Gedanken ein, schaffen die Voraussetzungen, die konkreten Anhaltspunkte seiner Denkarbeit, auf der andern Seite hat aber auch der Geist Gewalt über den Körper, löst leidenschaftliche Aufregung und Begeisterung aus, bringt ihn in Bewegung, so dass eigentlich die geistige Bewegung im Gleichtakt die physische fordert.

Der Typ des psychosomatischen Denkers war wohl zu allen Zeiten vertreten, es scheint aber, dass er in neuerer und neuester Zeit häufiger und vor allem auch wichtiger wird, seit der Zeit nämlich, da uns der Gedanke ans Herz greift, da der «Gedanke auf den Kopf steht» (wie Hegel sich ausdrückt), da nicht die kühle abgetrennte Gedankenarbeit im Vordergrund steht, sondern die Beschäftigung des Denkens mit der Existenz, mit dem Wesen des Menschen überhaupt. Wenn so gedacht wird, dann wird sich der ganze Mensch freuen oder härmen, und das Herz wird schneller oder langsamer schlagen.

 

Ohne die Bibel keine moderne Industrie. Es ist ein kühner Gedankensprung, aber wagen wir ihn einmal, nicht zuletzt, um die gedanklich Trägen aufzurütteln. Die moderne Industrie ist in erster Linie kein materielles, sondern ein seelisch-geistiges Phänomen. Die dumm machende marxistische Interpretation hat sogar bei ihren ausgesprochensten Gegnern die grösste Verwirrung gestiftet und das Urteil über die geistigen Ursachen und Quellgründe der modernen Wirtschaftsentwicklung getrübt. Wer einigen Einblick hat in die Arbeitsweise der modernen Industrie, wird bald genug zur Einsicht kommen: diese Unternehmer, diese Arbeiter sind Christen und wenn sie es nicht sind, so zehren sie doch noch von der christlichen Substanz.

Erst jetzt, meine ich, reifen die vollen Früchte der jahrtausendealten Erziehung durch das Christentum, das christliche Dasein; die christliche Existenz, wenigstens der vita activa, war nie ausgeprägter, war nie typischer verwirklicht als in der Gegenwart, da die Kirchen sich zur leeren beginnen. Aus dem Sein wirkt das Christentum ins Dasein hinein, und wenn der Glanz des christlichen Seins verblasst, so erblüht dafür umso schöner das Leben im christlichen Dasein. Vom christlichen Dasein her, das ist mein Glaube, wird auch das christliche Sein neuen Sinn, neue Überzeugungskraft gewinnen, gleich einem Wunder der Natur wird der Baum nicht von den Wurzeln, sondern von den Früchten her wieder ergrünen.

- Im Mittelalter, als die Sonne der christlichen Religion in ihrem Zenith stand, lebten, was die ganze Breite des Daseins anbelangt, die Menschen viel «heidnischer», viel unbekümmerter als heute. Die Askese wohnte in den Klöstern, sie breitete sich aus und ergriff die Massen während der Fasttage, für welche aber das Fastnachtstreiben entschädigte. jene absolute Entäusserung und Hingabe, jenes fanatische Untergehen im Werk, in der Arbeit, jenen unbedingten Glauben an die Erlösung durch die Arbeit kannte nur das 19., nur das 20. Jahrhundert, welche im Durchgang durch die bloss quantitativ zu bemessende und zu bewertende Leistung einen qualitativen Umschwung brachten, den in seiner Tragweite für die ganze Menschheit einzuschätzen heute noch nicht möglich ist.

 

Es entbehrt nicht einer gewissen amüsanten Paradoxie, dass das «Neue Testament», welches ebenso sehr zur Verschwendung wie zur unbesorgten, fröhlichen Armut einlädt, in der Welt eine ökonomische Bewegung ohne Beispiel ausgelöst hat, die von den Gesetzen der Arbeit, Industrie und Sparsamkeit beherrscht wird. Die Bibel in der Linken hat so mancher spitznasige und schmallippige Puritaner mit der Rechten die Schnüre seiner Börse enger angezogen.

 

Der Sklavenstaat. Das Zerschlagen des Zauberrings setzt die Elemente frei, deren innigste Verbundenheit allein das Wunder der modernen Wirtschaft hervorbringen konnte. Der Zusammenbruch der Wirtschaft aber hat den Verlust der Freiheit zur Folge. Die Feder (die Spannkraft) der Freiheit ist wie eine Legierung aus zwei Metallen: das erste wäre die robuste Selbstbehauptung des Individuums in der Wirtschaft, das zweite das Aufgehen in einem Höhern, die Arbeit für die Zukunft, für alles, was das Individuum und seine Zwecke transzendiert.

Was geschieht nun, wenn wir kraft einer Theorie von der Bestmöglichsten Wirtschaft eines dieser Elemente isolieren, etwa indem wir die Selbstbehauptung des Individuums perhorreszieren? Die Feder der Freiheit wird lahm, sinkt in sich zusammen. Eine Wirtschaft wie die kommunistische, die sich nicht auf dem Ich, sondern auf dem Nicht-Ich aufbaut, führt zur folgenschwersten Selbstentfremdung des Menschen, nämlich zur theologischen: der Mensch erkennt seine eigenen Züge nicht mehr im Bilde seines Gottes. Dadurch kommt es weiter zur dumpfen Unterwerfung unter das Schicksal, d. h. zur Sklaverei, die zwei Formen annehmen kann: entweder die physische oder die psychische. Die psychische ist diejenige des fanatischen Parteigängers, also seelischer Automatismus, die physische ist dadurch gekennzeichnet, dass der Mensch sich der Brachialgewalt unterwirft, weil er eben nicht anders kann; er wehrt sich aber seiner Haut mit der ganzen List und Tücke des Sklaven, der nur um sein Fortkommen bemüht ist und jeder geistigen Auseinandersetzung aus dem Wege geht. Es ist das Bild des modernen Sklavenstaates.

Die Isolierung des andern Elements, der Selbstbehauptung des Individuums, lässt den Menschen ins Daunen der Welt seiner und nur seiner Zwecke versinken, die nur als solche anerkannt werden, wenn sie in unmittelbarer Verbindung mit seinem Wohlergehen stehen. Der grosse Körper der Gesellschaft schrumpft zusammen zu dem mit Auge, Getast und Gefühl erfassten unmittelbaren Objekt des eigenen Körpers, der nunmehr die einzige grosse Wirklichkeit ist, der sich zum Tyrannen aufwirft, dessen Launen, koste es was es wolle, gedient werden muss. Es ist das Bild des antiken Sklavenstaates, den wir aber keineswegs endgültig überwunden haben, er, wie die ganze Weltgeschichte, steckt uns noch in den Knochen, ein Rückfall ist immer möglich. Auch hier findet eine letztlich theologisch zu verstehende Selbstentfremdung statt, der Mensch erkennt seinen Gott nicht mehr, aber nicht, weil er gänzlich ausser ihm stünde; sondern im Gegenteil gerade deshalb, weil er durchaus nur «sein» Gott ist, weil er sich selbst zum Gott gemacht hat, weil er das eigene Standbild in den Tempel stellte.

 

Die Gedanken, die wir aussprechen, sind die Gedanken unseres Leibes. Es ist dem Geiste nicht möglich, sich durch die blosse Gewalt des Wortes zum Herrscher über den Leib aufzuwerfen. Denn das Wort des Geistes wird von Sinn erfüllt nicht vom Geiste, sondern vom Leibe. Immer wieder ist es ein anderer Sinn, den der Leib dem allgemeinen Worte des Geistes unterlegt. Das Gemeinsame ist nicht eigentlich der Sinn des Wortes, sondern die Abstraktion dieses Sinns. Sprechen wir, so erfolgt der bloss äusserliche Hinweis auf etwas, das in der Sinnenwelt des Leibes in unendlicher Abwandlung auftretend, nie ein genaues Erfassen gestattet. Das innere Prinzip des Wortes ist nicht geistiger, sondern leiblicher Art.

Die Nichtübereinstimmung zwischen abstrakter Wortbedeutung und tieferem Wortsinn zeigt sich im Tun. Nur gleichgestimmte Leiber können gemeinsam im grössten Massstab zusammenwirken. Das gilt ebenso sehr von grossen Kriegsvölkern aller Zeiten, welche Tatgemeinschaften, wie von den religiösen Orden, welche Lebensgemeinschaften bildeten. jene schreiten fort vom Leib zum Geist, sie werden selbstbewusst, sie werden, was sie sind, indem sie jene Taten vollführen, welche als Einheit von Geist und Leib in die Weltgeschichte eingehen. Diese schreiten fort vom Geist zum Leibe, denn die Lebensregeln der Orden verfolgen kein anderes Ziel als die Leiber in jene Disziplin, in jene Disposition zu bringen, in welcher die abstrakte Wortbedeutung der Lehre ihren Sinn bekommt.

Vom Leibe abgetrennt ist das Wort des Geistes beziehungslos und hat kein Mass. Erst was ist, erst die Realität des Leibes gibt dem Wortlaut jenen zentralen Sinn, jenen archimedischen Halt, ohne den sie nichts wäre als ein ins Unendliche sich fortsetzendes System von Relationen. So wie die mächtig anziehende Erde das Gewicht jedes Steines bestimmt, so verleiht der tragende Leib jedem Wort sein Gewicht. Die Kulturdenkmäler eines Volkes sind so lange lebendig, als das Volk selbst lebt. Das Sicheinfühlen in die Sprache und Dichtung eines untergegangenen Volkes, denen ein fremder Leib unterliegt, ist notwendigerweise Missverständnis. Mit dem Schicksal des Leibes, mit dem Untergang des Volkes, vollendet sich das Schicksal des Geistes.

 

Die Statue von Sais. Falsche Feierlichkeit. Es gibt die nackte, die enthüllte Statue nicht. So wenig es das Ding an sich Kants gibt. Die nackte Statue wäre nicht mehr, sie wäre verschwunden, ganz einfach deshalb, weil sie ein Hirngespinst ist. Die Nacktheit als Symbol der Wahrheit ist ein schiefes Symbol. Die nackte Wahrheit, die Wahrheit als solche gibt es nicht, sondern eben nur die Wahrheit als erscheinendes, sichtbares und tastbares «Kleid».

Auch die entsprechende Vorstellung von der Wahrheit «rundherum» ist irreführend, denn ebenso wenig gibt es eine Wahrheit «rundherum», sondern nur eine Wahrheit gesehen von einem Standpunkt aus, aus einer Perspektive, als Seite. Die verschiedenen Seiten aneinandergefügt ergeben nicht die Wahrheit, ebenso wenig wie das gelüftete Kleid der Statue die nackte Wahrheit.

 

Die Zinsrate des Geistes. Der Geist, wenn er nicht vorzeitig vorausgabt wird, trägt Zinsen und zwar nach einer der fortschreitenden Akkumulation nach progressiv ansteigenden Zinsrate.

 

Das Eiland des Hebräers. Die Lebensweise vieler Hebräer, vor allem aber der erfolgreichsten, konstituiert nichts anderes als eine alttestamentarische Insel mitten in der modernen Zivilisation. Ein Sprung über viertausend Jahre zurück, aber vieles ist daran, was auch heute noch für uns vorbildlich gelten kann.

 

Das Verhältnis zwischen Deutschen und Schweizern ist schwer auszuloten, weil es erfüllt ist von wirklichen Widersprüchen. So ist, um nur ein Beispiel zu nennen, der Schweizer naturverbundener und organisch gewachsener als der Deutsche, zugleich aber rationaler, der Deutsche natürlicher als der Schweizer, zugleich aber geistiger und entwurzelter.

 

Das Symbol der geistigen Fruchtbarkeit, im scharfen Gegensatz zur physischen, ist die Wüste (irgendeine Wüste). Jesus Christus meditierte in der Wüste und wurde versucht (unser wartet dort immer ein Teufel). Dante floh ins Exil, Goethe hat sich Zeit seines Lebens mit zäher Beharrlichkeit gegen eine bürgerliche Ehe gewehrt, die doch seinem Temperament nahe gelegen hätte, er geht das halb lächerliche, halb tragische Verhältnis mit der Vulpius ein, das endlich, nach bald zwei Jahrzehnten, legalisiert wird; der achtzehnjährige Sohn wohnt der Trauzeremonie bei. Rimbaud geht nach Abessinien, als typischer Franzose denkt er rein analytisch (undialektisch), er erhebt sich nicht auf die Höhe von Satz und Gegensatz, so dass für ihn die Wüste auch den geistigen Untergang bedeutet. Aber diese Wüste war eben schon da, diese Wüste, die auf ihn wartete, bevor er auch nur einen Vers schrieb, sie war auch da in allen seinen Versen ...

Für Nietzsche wächst nicht nur die Wüste, sondern auch die Erkenntnis der Wüste; wie sehr die moderne Literatur, Kunst und Musik in die Wüste gegangen ist, bedarf keines Kommentars, es wäre höchstens hinzuzufügen, dass ihr bis jetzt auch dort die geistigen Früchte eher spärlich wachsen, was sich vielleicht darauf zurückführen lässt, dass sie trotz allem so offenbarem Bemühen (und vielleicht gerade deswegen) nicht weit und tief genug in die Wüste ging. (Gewidmet Ludwig Hohl, den 11.11.55).

 

Wer weit genug in die Wüste geht, wird eine Oase finden und bald mehr als eine Oase.

 

Amor und Theorie. Die Betrachtung einer Person um ihrer selbst willen kann sich in Liebesglut verwandeln. Mit der wachsenden Erkenntnis wächst der Eros, der in einer begeisterten Identität das Erkennende mit dem Erkannten verbindet. Man meint vielleicht, die Liebe bringe uns das Betrachtende so nahe, dass wir es weder in seinem ganzen Umfang noch in seinem Zusammenhang sehen können. Im Gegenteil: sie ist es, die das Betrachtete durchdringt und in seiner ganzen Weite und Tiefe erschliesst. Die Liebe, als Lust des Aussersichgehens, bereitet in ihren niedern Formen vor, was sie in ihren höhern verwirklicht. «Niedere» und «höhere» Liebe bedeutet ja im letzten Sinne keine Wertung, sondern sie weist, in der psychophysischen Einheit begriffen, auf eine Genesis hin. Die höhere Liebe entspringt der niedern.

Die Verleumdung, ja Austilgung der Sinnlichkeit durch asketische Moral führt deshalb auch zur Vernichtung der Liebe des Objekts um seiner selbst willen, zur Vernichtung der liebenden Betrachtung in Kunst und Wissenschaft, zur Konzeption des übermächtigen Objekts, zum dürren Utilitarismus. Dies ist die Geschichte des Puritanertums. Der Puritanismus imaginierte einen körperlosen Geist und einen geistlosen Körper, der Geist wird einzig teleologisch begriffen, der Körper einzig mechanisch unter den Gesichtspunkten der Kausalität, der Zahl, der Leistung.

Mit der Sprengung der psychophysischen Einheit ist die Einheit des Lebens zerstört, ebenso wohl des Lebens im Geiste wie des Lebens schlechthin. Daraus erwächst der Zerfall der Wissenschaft in die Einzelwissenschaften, daraus wiederum der Zerfall der Einzelwissenschaft selbst und deren Aufgehen in einer blossen Technik, in welcher freilich der teleologische Geist seine Befriedigung finden mag.

 

Die zwei metaphysischen Orte der Inhumanität. Es gibt zwei Arten der Inhumanität, die in der Geschichte abwechseln. Sie hängen damit zusammen, was man den «metaphysischen Ort» in Raum und Zeit nennen könnte. Im ersten Falle ist es «dieser» bestimmte Ort in Raum und Zeit, wobei das «dies» mit aller Gewalt auf eine sinnliche Gegenwart hinweist, die durchaus eindeutigen und ausschliesslichen Charakter hat. Im andern Falle ist der «metaphysische Ort» überall und nirgends, das Absolute nimmt nicht Gestalt an, es verschwimmt in der Unendlichkeit. Sowohl in der Ausschliesslichkeit der sinnlichen Gegenwart in dieser Zeit und an diesem Ort wie in der Verschwommenheit des überall und nirgendwo liegt der Keim, die Möglichkeit der Inhumanität, ist doch der Mensch uns zugleich bekannt und unbekannt, schöpft er doch daraus seine eigentliche Menschlichkeit. Soll er aber nur als bekannt oder nur als unbekannt gelten, so macht man ihn zu weniger und zu mehr als einem Menschen, zum Tier oder zum Gott.

 

Der Kulturbetrieb in unserm kleinen Lande ist ja sehr intensiv, leider ist er allzu exoterisch, allzusehr nach aussen gewandt, nur Bücher, nur Vorträge, nur Vorlesungen, die sich an das breitere Publikum wenden. Dies aber hat seine vorgefassten Meinungen: wie sollte es so möglich sein, eine in die Tiefe gehende geistige Wirkung zu erzielen? Ich trete auch nicht für Zirkel und Konventikel à la Dornach ein, aber es war doch schliesslich zu allen Zeiten so, dass das exoterische Kulturschaffen seine besten Impulse vom esoterischen Wirken erhielt. Also mehr Briefe müssten geschrieben, mehr Gespräche gepflegt werden. Kein wahrer geistiger Fortschritt kann erzielt werden ohne das persönliche Element: man spricht letzten Endes nicht zu einem Publikum, noch weniger zu einer Menge, sondern zu einem auserwählten Gesprächspartner. Mehr gezielte Literatur! Ich nenne anonyme Literatur, was einen Namen hat und an Namenlos gerichtet ist.

 

Name und Namenlosigkeit. Heute steht der Name des schöpferischen Menschen einer amorphen namenlosen Masse gegenüber. Dadurch erhalten ebenso sehr der Name des Schöpfers wie die Namenlosigkeit der Masse zu viel Gewicht. Es besteht nämlich ein innerer Zugang zwischen echtem Namen und echter Namenlosigkeit, der verschüttet wird, sobald Name und Namenlosigkeit sich starr gegenüberstehen.

Um diesen schroffen Gegensatz, dessen lähmende Wirkung auf das kulturelle Schaffen sich immer deutlicher zeigt, zu mildern, sollte das Wesen des Namens in das geniessende Publikum, das damit zu einem Namen käme, und das Wesen der Namenlosigkeit in das Gebiet des Schöpferischen, wodurch die Schöpfung zugleich wieder mehr Freiheit und Notwendigkeit gewinnen würde, hineingetragen werden. Wer etwas geschaffen hat, ganz allgemein der Ehrenpunkt der Autorschaft, würde an Bedeutung verlieren gegenüber der Rücksicht, für wen etwas geschaffen wurde. Denn der Ursprung jeglichen Namens ist im Namenlosen zu suchen, und wenn das Publikum immer mehr an Gesicht verliert, so muss man sich nicht wundern, wenn auch das kulturelle Schaffen seine Frische und Originalität einbüsst, ja trotz des bekannten Namens im schlechten Sinne namenlos wird, d. h. eben auch gesichtslos, ohne innere Notwendigkeit und Kraft der Unterscheidung.

 

 

 

Varia Aphorismen

 

Man muss mit sich selbst in einer guten Ehe leben.

 

Vom Nutzen des Leichtsinns. Heroen der Kunst, der Wissenschaft, des Krieges, der Politik verdanken ihre Erfolge unter anderem dem Umstande, dass sie es vermochten, sich zu einem leichtern Sinne zu zwingen. Sie vollführten das Schwere gefasst und ernsthaft, wo andere, in Schrecken gejagt, überhaupt nichts vollbracht hätten.

 

Etwas in mir wird immer jung bleiben: der Gedanke. Wenn man sich mit einem Problem beschäftigt, alle Arten von Staunen und Verwunderung dabei erlebt, gespannt nach der Lösung suchend nur für diese Abstraktion lebt und alles von ihr erwartet, was verschlägt's, ob man Greis ist oder Jüngling?

 

Der tiefe Hass des Philosophen gegen den Dichter. Platon will die Dramatiker aus seinem «Staat» ausschliessen (ausser sie dienten dessen propagandistischen Zielen), Rousseaus Brief über das Theater, Nietzsches Bemerkungen über Goethe. Der Philosoph ringt hart um die begriffliche Fassung dessen, was der Dichter, ergriffen vom «göttlichen Wahnsinn», mit souveräner Geste wieder in alle vier Windrichtungen zerstreut.

Der Philosoph ist bemüht, das Wesen des Menschen zu definieren, der Dichter aber stört ihm seine Kreise. Dem behenden Tänzer kann es der Philosoph nicht nachtun, schwerfälliger ist er, bedächtiger und methodischer seine Verfahrensweise, er weiss aber auch, dass der leichtgeschürzte, verantwortungslose Liebling der Musen die Menschheit ins Verderben gestürzt hat und wieder ins Verderben stürzen wird. Seine Warnung wird aber immer wieder ungehört verhallen, denn auch er versucht, die Menschheit ins Verderben zu stürzen und auch ihm mag es gelingen. Der Mensch ist ständig bedroht von poetischer Diversion und philosophischer Konzentration. In der einen geht er unter, blutend aus tausend Wunden, in der andern erstickt er mangels Freiheit.

 

Die Menschheit von heute ist recht ordentlich «eingeteufelt», um mit Mephistopheles zu reden. Die Gefahr ist nicht zu leugnen, es steht etwas auf dem Spiel, grosse Hoffnungen und Befürchtungen halten sich die Waage, kurz: es ist eine jugendliche Zeit und ängstlich munter wie ein frischer Bach fliesst sie dahin.

 

Wer sich seine Jugend lang bewahren will, muss ein wenig altklug sein.

 

Die lakonischen und drakonischen Lehren des Lebens.

 

Die Kategorie der Ungeschicklichkeit wäre zu definieren als eine überlegene Unterströmung bei aktueller Unterlegenheit (die bis zur Lächerlichkeit gehen kann) in den Positionen a, b, c, d usf.: einmal aber erfolgt der dialektische Umschlag ad superos. Dieser wurde vorbereitet durch die Ungeschicklichkeit angesichts der «vorlauten Siege» der andern. Ungeschicklichkeit bedeutet in neunhundertneunundneunzig von tausend Fällen nichts, im tausendsten aber vielleicht Entscheidendes. Die Betrachtung könnte als selbstgefällig, ja als gefährlich gelten, wenn sie prospektiv, nicht aber wenn sie retrospektiv erfolgt.

 

Das Eingehen des Geistes in das Leben, so dass der Geist zur Seele des Lebens, zur Seele von dessen Körper wird. Also nicht der Blickpunkt der «Theorie», wo es darauf ankommt, das Leben zu töten, um es begrifflich fassbar zu machen, sondern eine wirkende und webende Lebenssympathie, die ihre Gelegenheit abzuwarten weiss und auch geduldig abwartet, bis es «wird», d. h. bis die günstige Konjunktion der Gestirne von Leben und Geist eintrifft.

 

Echte Gedanken machen denken. Sie besitzen zeugende Kraft, sie haben Kinder, kräftige Kinder, sie regen an, sie muntern auf. Ein echter Gedanke, ein echter Aphorismus ist gewissermassen auch nur ein Blitz eines kostbaren, nach allen Regeln der Kunst geschliffenen Steines. Wie, wenn wir das Licht etwas anders einfallen liessen, in einem andern Brechungswinkel? Es würde damit nur bewiesen, dass es derselbe Stein ist, der wie Feuer brennt und uns sein Licht schenkt. Es wäre ein weiterer Beweis für die Echtheit des Steins. Deshalb die Bedeutung der Variation auch in der Philosophie.

 

In der Philosophie bin ich gar nicht Philosoph: ich liebe und hasse.

 

Meine Gedanken, obwohl miteinander in einem logischen oder logisch herstellbaren Zusammenhang stehend, steigen doch auf aus dem Körper, aus meinem Körper, der sich in variabler «epischer Bewegung» befindet, aus immer wieder neuen Tiefen des Gemüts, verstanden als Leib-Seele-Geist Einheit, aus immer wieder andern Tiefen des «roten Meers» meines Blutes. Wer Bewegung sagt, sagt auch Ablauf, sagt Zeit, sagt Ziel, die Bewegung ist also einer Disziplin der beschränkten Zeit unterworfen, in der sie ablaufen muss, oder auch die Zeit ist der Disziplin der Bewegung unterworfen, die sie mit sich fortreisst. Ich habe den Aphorismus schon als eine Form der «gedanklichen Hast» bezeichnet, meine aber damit nicht die Eile, in welcher der ewige Augenblick untergeht, sondern im Gegenteil jene, welche ihn mit grösster Intensität festhält, mit grösserer, als es je möglich wäre, wenn nicht die folgenden alleinzigen und unvergänglichen Augenblicke, die ebenso sterblich sind, auch ihr Recht fordern würde. Die Intensität des Lebens steht in engem Zusammenhang mit der Vergänglichkeit. Valérys «Jeune Parque» hat mich darüber belehrt.

 

Jeder schöpferische Mensch ist ein Zentrum, dem die Vergangenheit als Peripherie gegenübersteht. Die Einwirkungen der Vergangenheit sind Radien zu vergleichen: die Vergangenheit konvergiert auf ihn.

 

Jene oft peinlich wirkende Enge des Ursprungs, auf die man im deutschen Geistesleben auf Schritt und Tritt stösst. Söhne von Beamten, Söhne von Pfarrern, Söhne von Lehrern. Goethe war einer der wenigen wirklich reichsstädtischen Geister grossen Formats, welche die deutsche Kultur hervorgebracht hat.

 

Es ist kein Zufall, dass Arthur Schopenhauer, der erste grosse Aussenseiter der deutschen Philosophie, der ihre Emanzipation von der Universität (und damit von der Institution überhaupt) in Leben und Werk eindrucksvoll durchgeführt hat, der Sohn eines republikanischen Kaufmanns holländischen Geblüts war.

 

Schopenhauer hat Nietzsche ermöglicht, den zweiten grossen Aussenseiter der deutschen Philosophie.

 

Es gibt Kopfschmerzen, die Geschichte und solche, die Geistesgeschichte machen. In dieser Perspektive gesehen, erscheint mir Nietzsches «Ecce homo» als der Gipfel des Kopfschmerzes. Alle, ich möchte sagen, «klinischen» Merkmale sind da: die gnadenlose Schärfe und Klarheit des Ausdrucks, die schmerzende, schlaglichtartige Beleuchtung, die erbarmungslose Konsequenz der geraden Linie bis zum Übermenschlichen und Unmenschlichen. Demgegenüber berührt der «undulatorische» Stil Goethes, den Nietzsche eigentlich tadelt, als die reinste Gesundheit.

 

Nietzsche ist doch wirklich trotz allem eine typische Ausgeburt des wilhelminischen Zeitalters (der «Schwäche» dieses Jahrhunderts), er gehört zur Ära des neuen deutschen Zynismus.

 

Die Frau als «Galionsfigur». Der grösste Abenteurer der Menschheit ist nicht der Mann, sondern die Frau und zwar, wie es sich von selbst versteht, auch die Frau im Manne. Es hat deshalb seinen tieferen Sinn, dass die alten Segelschiffe eine Galionsfigur im Steven trugen (ebenso wie jetzt die modernen Lastautos auf dem Kühler), welche oft eine Frau darstellte. Der Mann fährt über alle Meere, aber was er verfolgt, ist eigentlich immer eine Frau. Er trägt «seine» Frau immer vor sich, aber auch so, dass sie seine Bewegungen mitmacht: er wird sie nie erreichen.

 

Vergangenheit und Zukunft sind Tanzplätze der Menschheit.

 

Für die gute Laune in der Philosophie. Warum sollte die schwarze Galle des Aristoteles allein schöpferisch sein?

 

Die schönste Fassade eines Dichters, die ich je sah.

 

Das üppige Germanische. Der Geist ertrinkt in dem viel zu viel von Fleisch und Gefühl.

 

Aphoristische Grundstimmung. Hell, heiter, abspringend und überraschend, mit Riesenschritten von einem Problem zum andern, trocken, aber die Poesie des Augenblicks in einzelne Blitze fassend, sehr aufmerksam auf die kleinsten Lustregungen des Geistes. Es ist eine sehr eudämonologische Art zu philosophieren: der Gedanke ist eins mit der Neigung.

 

Eine merkwürdige, den Regeln nicht entsprechende Betonung kann sich nur durch täglichen Gebrauch erhalten. Wir finden das Bizarre deshalb öfters im Brauchtum. Logik herrscht im Seltenen, Ungewohnten, sie ist die lebensfernste Regel.

 

Das Wesentliche der letzten vier Jahrhunderte, insbesondere der letzten zwei Jahrhunderte europäischer Geschichte könnte vielleicht so umschrieben werden: der Aufstand der sechs Tage gegen den siebenten.

 

Er zitierte den heiligen Geist. Und siehe da: er glich dem seinigen auf ein Haar.

 

Beinahe die Definition eines kultivierten Geistes: Leerstellen des Gedächtnisses (wie die x einer Gleichung) von denen aus entwickelt werden kann. Der Pedant, der alles griffbereit haben will, schleppt zu viel Ballast mit, so dass er ermüdet stillesteht, wo der andere noch munter fortschreitet.

 

Es ist mir nicht gegeben, ohne Enthusiasmus zu philosophieren.

 

Das Leben wird - ganz wörtlich zu verstehen - von Mitte zu Mitte, nicht von Extrem zu Extrem weitergegeben. Eine Symbolik der Natur, die mehr beherzigt werden sollte.

 

In den seltenen Augenblicken, da ich das Schweizervolk bewundere, sehe ich es als einen einzigen Sokrates: es ist natürlicherweise sehr böse, es hat sehr viele schlimme Leidenschaften, aber es verstand es auch und versteht es immer wieder, sie zum Guten zu wenden.

 

Wir Schweizer sind schlechte Tänzer, wenn aber einmal einer von uns wirklich zu tanzen beginnt und ihm die jahrhundertelange Steifheit aus den Gliedern fährt wie ein Blitz, dann ist es auch ein Schauspiel, das seinesgleichen sucht. So viel Grazie und so viel behende Bewegung, die doch immer auch da war und unendlich aufgespeichert wurde, kann sich nun mit einem Male offenbaren.

 

Mehr Dauer, mehr Dauer, auch in der Philosophie, damit mehr Intensität. So könnte das eine Werk eines Lebens eine Spitze und eine Wirkung erzielen, wie sie zehn Werke desselben Lebens unvermögend wären, zu erreichen.

 

Als es noch mehr echte Revolten gab, gab es auch noch mehr Gesellschaft. Der Konformismus aber, d. h. der eintönige Gleichschritt ist der Untergang der wahren Geselligkeit. Kant sagt zu Recht, dass Ungeselligkeit und Geselligkeit zusammengehören. Er wusste darum aus erster Hand, war er doch trotz seiner anregenden Zirkel der ungeselligste Mensch, ungesellig wie eine Spinne in ihrem Netz, mitten in ihrem «System».

 

Wo keine Sonne ist, die Landschaft des Geistes zu erhellen, da muss eben ein Blitz den Dienst tun.

 

Kultur wird am Rande des Lebens geschaffen, gleichsam vor dem Rachen des Todes.

 

Der gravitätische Ernst des Betrunkenen.

 

Rausch und Mathematik.

 

Nicht nur toll und nach allen Seiten auseinanderfahrend, sondern auch sehr exakt sein (gerade wie eine artilleristische Explosion Ernst Jüngers).

 

Einblick in das Wesen der exakten Phantasie. Der Kommunismus ist durchaus irreal. Aber ebenso ist er durchaus exakt. Durch das Zusammenspiel dieser beiden Elemente ist der Kommunismus zu einer Weltmacht geworden.

 

Sobald der Mensch glaubt, allein und ausschliesslich Herr zu sein, erwachen sofort seine schlimmsten Instinkte.

 

Es liegt in der Natur des Menschen, sich ein schlechter Gott zu sein.

 

Die heutige Situation verlangt einen neuen Humanismus, nämlich die Abdankung des Schema Mensch zugunsten des Menschen aus Fleisch und Blut, aus Atem, aus der Realität seiner Wurzelbilder.

 

Wir sollten es heute auch zu schätzen wissen, dass wir von der ungeheuer drückenden Last eines auferlegten Glaubens frei sind, denn es werden wieder andere Zeiten kommen.

 

Das Alte Testament ist ja noch viel sinnlicher als das Neue. Die in geradezu schwindlige Höhen führende Loslösung vom Nährboden der Sinnlichkeit erfolgt erst im Neuen Testament.

 

Was wurde dadurch erreicht? Dem unzweifelhaften Verlust steht immerhin ein ganz bedeutender Gewinn gegenüber. Das direkte Verhältnis zur Sinnlichkeit ging verloren, dafür aber wurde in Europa der Weg frei für eine Raum und Zeit, den Kerkermeistern der Sinnlichkeit, spottende Entwicklung des menschlichen Denkens und Tuns, die gerade heute im Begriff ist, die ganze Welt zu erobern. Kein Zweifel, dass das Neue Testament für diese Entwicklung den Grund gelegt hat.

 

Es fehlt der griechischen wie der römischen Antike die Liebe im Sinne eines mächtig aus dem Zentrum des Wesens fliessenden, alles vereinigenden, sowohl die theoretischen wie die praktischen Belange durchdringenden Stroms, in einem Erkenntnis und Mitleid, Gedanke und Gefühl, Rede und Tat, wie erst das Christentum sie brachte, aber sie brachte, geschichtlich gesehen, hinzu zu der theoretischen und praktischen Kultur, welche die alten Griechen und Römer bereits besassen, denn die christliche Lehre ist auch an und für sich nichts, ein leerer Windhauch, ein Wasserfall in den bodenlosen Raum, wenn sie nicht umschäumt, umarmt das harte Felsgestein der antiken Welt. Gegen diesen Widerstand hat sie sich zur Höhe emporgearbeitet, auf welcher sie in der Geschichte des Abendlandes erscheint, es ist die Vernunft dieses Widerstandes, dieser Dialektik, in welcher einer tödlich erstarrten eine tödlich bewegte Welt gegenübersteht, die es zu ergründen gilt, denn das überhaupt lebbare Leben, die wirkliche Existenz als solche, die bewohnbare Welt ist in keiner dieser beiden, allein an und für sich aufs äusserste unwirtlichen Welten zu finden, sondern zwischen ihnen, in der Mitte zwischen beiden.

 

Automobilitis: eine Krankheit, die durch Benzindunst übertragen wird und nur durch den Kauf eines Wagens geheilt werden kann.

 

Grazie, die Schönheit in der Bewegung, ist heute in den Augen der Frau beim Manne - das Automobil.

 

Das Automobil, der moderne Gürtel der Grazien.

 

Steter Tropfen höhlt den Stein: die Frau ist der Tropfen, der Mann der Stein.

 

Manchmal gilt auch: die Frau ist der Tropfen, der Mann der Tropf.

 

An einen Kritiker. Sie sagen, der vorhergehende Aphorismus ende als Witz. Damit haben Sie recht. Sie fügen aber hinzu, er verliere dadurch sein Niveau. Dessen bin ich weniger sicher. Goethe meint, wenn Lichtenberg einen Witz mache, so liege darunter ein Problem verborgen (man hebt einen Stein, und die Forelle schiesst davon). Auch dieser Witz verbirgt ein Problem, das Problem des Luxusweibchens. Auf das Luxusweibchen ist ein nicht unbeträchtlicher Prozentsatz der Herzinfarkte unserer materiell erfolgreichen Männerwelt zurückzuführen. Oh, das Luxusweibchen ist treu, denn es steht finanziell zu viel auf dem Spiel. Oder untreu nur mit siebenfacher Rückversicherung (beispielsweise in Ägypten). Keine Generosität in dieser Liebe. Dafür aber eine unabsehbare Reihe materieller Forderungen. Die Frau knallt mit der Peitsche, und der Mann müht sich in den Sielen. Es ist die Situation des «Tropfens» (Frau) und des «Tropfes» (Mann). Dass der Mann es so will, gehört zur tiefern Schicht dieses Witzes. Er hat die Frau, die er verdient und «verdient».

 

Es ist noch niemanden eingefallen, aus dem Leben eines Individuums ein Gedankenexperiment zu machen.

 

Oh Fichte! Philosophieren heisst ganz eigentlich leben und leben philosophieren.

 

Die alten Griechen tranken bei ihren Symposien mit Wasser gemischten Wein. Das kristallklare Wasser steht für die Nüchternheit, der dunkelrote Wein für die Begeisterung. Noch eindrücklicher wäre es, vor allem auch anschaulicher, wenn die Mischung nicht vollzogen würde, sondern neben dem Wasserglas ein Weinglas stünde, aus welchem getrunken würde. Der Sinn der Sitte liegt in der gegenseitigen Einschränkung der Prinzipien, in ihrem Gleichgewicht. Es ist ein Symbol des innersten, des schlagenden Herzens der europäischen Kultur, von dessen Systole und Diastole.

 

Die grossen Klarmacher sind auch die grossen Verzehrer. Sie sind das hellste Aufflackern der Kerze, unmittelbar bevor sie mangels Substanz erlischt.

 

Die Frauen haben ein feines Gefühl für das Ambiente, die Aura, die Atmosphäre, die seelische Hülle gleichsam des Geistes, ein viel feineres als die Männer, weshalb man sich darauf verlassen kann, dass sie einen geistreichen Menschen daran erkennen werden, wie er schreitet, wie er sich setzt, wie er moduliert, kurz an allem werden sie ihn erkennen, nur nicht an seinem Geist.

 

Jeder Schweizer ist eine Häresie für sich.

 

Das Prinzip meines Philosophierens ist gewissermassen vegetativ. Ich lasse es einsinken in die Tiefe meines Gemüts, und es wächst dann schliesslich und endlich empor wie eine Pflanze. Ich bin der Gärtner meiner Gedanken. Aber es handelt sich hier um sehr langjährige Pflanzen, wie es sie in der Natur kaum gibt, es kann zehn Jahre dauern, zwanzig oder dreissig, bis sie nur der Erde entronnen sind ...

 

Was dem Schweizer im Bereiche des Geistes immer etwas im Wege steht, ist, dass er kaum fähig ist, gerade dort starke Leidenschaften zu empfinden. Er sieht alles zu sehr unter dem pädagogischen Gesichtswinkel, so wie ein Lehrer den Schüler sieht, gewissermassen als «verbesserungsfähig».

 

Der «öffentliche» Geist. Sokrates in den Strassen von Athen. Die Athener wissen, dass er Philosoph ist. Das ist falsch, oder wenigstens unzweckmässig. Zum Geiste gehört sein Inkognito. Nur dem unbekannten Geiste, nur dem Harun al Raschid der Philosophie enthüllt sich die unbekannte Wahrheit. Der Geist muss sein wie ein Jäger auf dem Anstand oder wie ein Dieb in der Nacht. Das Wild weiss nichts vom Jäger, das Opfer nichts vom Dieb, der Untertan, der die Wahrheit des Herrschers ist, nichts vom Kalifen.

 

Wir sind alle im gleichen Spital krank, d. h. im selben Jahrhundert.

 

Unsere Gedanken umkreisen, ähnlich wie die Elektronen der Atome, einen Kern, in den sie aber nie eindringen. Das Eindringen in den Kern würde die schnelle Zerstörung, den explosionsartigen Zerfall des ganzen Gebildes bewirken. Es gibt eine Art von «Geistesakrobatik», die dem «Beschuss des Zentrums« gleicht, so wie diejenige Nietzsches, der ständig sich selbst erhaschen, ständig über seinen eigenen Schatten springen, ständig noch viel bewusster werden wollte. Nietzsche ist vom Seile gestürzt wie der Seiltänzer im Anfang des «Zarathustra».

 

Das Können mag in einer antithetischen Beziehung stehen zum Kennen, das Können mag abhalten vom Kennen. So wird der Könner auch immer wieder den Kenner nötig haben und umgekehrt.

 

Sinnlichkeit und Geist: da handelt es sich um zwei Systeme der Lust - gewissermassen um zwei «Ideen» der Lust - die sich um die Menschheit streiten. Keineswegs bedeutet der Geist nur ein Opfer an Sinnlichkeit, sondern, im Zusammenhang gesehen, die Sinnlichkeit ein Opfer an Geist, der Geist ein Opfer an Sinnlichkeit. Die schönste und reichste Existenz wird kaum anders als durch eine gegenseitige Abgrenzung von Sinnlichkeit und Geist ereicht werden können, wo der Geist als die immer gegenwärtige Ironie der Sinnlichkeit, die Sinnlichkeit als die immer gegenwärtige Ironie des Geistes auftritt.

 

Die Verzweiflung des Lebens vor dem Geiste, des Geistes vor dem Leben hat ihren Grund sowohl in einem starren Festhalten an diesem Gegensatz wie in seiner Aufhebung, d. h. der Vorstellung einer trügerischen Harmonie. Es gibt da nur eine Lösung: Aushalten des Gegensatzes, konkret gesprochen Leiden. Also nicht sich vom Geiste abwenden, weil man glaubt, dass es jenseits des Geistes eine absolute Erfüllung geben könnte, aber auch nicht vom Leben, um in eine Nirwana des Geistes zu versinken. Sich von beiden Seiten verführen und verlocken lassen, immer in dieser leidvollen Mitte stehend. Keine Abwertung des Geistes, um der Ruhe des Leibes, keine Abwertung des Leibes, um der Ruhe des Geistes willen. Der eigentliche Sinn der Harmonie im Leben des Menschen ist der Verzicht auf ein volles Ausleben in jeder Richtung. Verzicht also in der Erfüllung selbst, Erfüllung im Verzicht selbst. Das lehrt uns wie kein anderes das Leben Goethes. Der Mensch, der so lebt, wird immer wieder, wenn auch selten, Momente reiner Erfüllung kennen lernen, auf denen nicht der geringste Schatten liegt.

 

Die Dinge im Raume berühren sich so, dass sie sich gegenseitig ausschliessen; die Dinge des Geistes so, dass sie sich gegenseitig einschliessen.

 

Wie unzulänglich ist doch die Geschichte, da sie nur eine Geschichte von Resultaten sein kann. Was mich eigentlich interessiert, ist die Geschichte hinter der Geschichte, die Geschichte als Bedingung der Möglichkeit ihrer selbst, die transzendentale Geschichte im Gegensatz zur bloss formalen Geschichte als Resultat; das also, was sich abgespielt hat, bevor die Geschichte sich abspielte, die Geschichte, aus welcher Geschichte entstand, kurz: die mögliche Geschichte im Gegensatz zur wirklichen, welche einzig und allein das Vermögen der Prophetie besitzt, welche einzig und allein belehren kann über das, was Geschichte ist und sein wird, über die Zukunft.

 

Man wage es, zu wägen, man wage es, sein Ich in die Waagschale zu legen. Man wird sehen, was es wiegt, zuerst und zuletzt vor dem unerbittlichsten der Richter: sich selbst.

 

Er wägt nichts? Ja, und er wagt nichts. Und er wiegt nichts in der Waagschale des Schicksals.

 

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