Zum Gesamtwerk Grundriss der philosophischen Anthropologie
Hans F. Geyer - Philosoph der Leiblichkeit
Vier umfangreiche Rezensionen

Hans Rütters Grundriss der philosophischen Anthropologie

 

Von Guido Schmidlin

 

Für das Zürcher Kolloquium Philosophielehrer an Mittelschulen, 23. September 1988

 

 

Das Korpus von Hans Rütters Texten (publiziert unter dem Pseudonym Hans F. Geyer); besteht zur Hauptsache aus neun Büchern, die zwischen 1969 und 1985 mit Ausnahme der beiden zuletzt entstandenen veröffentlicht worden sind. Die Entstehungszeit der ersten Bände reicht, wie aus Andeutungen zu entnehmen ist, in die frühen sechziger Jahre zurück, also vor das Jahr 1964, seit welchem Rütter als freier Schriftsteller lebte.

Früher erschienen die Dissertation "Fichte, Schelling und Hegel. Ein philosophisches Gespräch" und die Aphorismensammlung "Der Lastträger".

 

Die neun Bücher sind nach Rütters eigener Angabe als drei Trilogien aufzufassen. Das Thema bleibt sich darin gleich. Auch in der thematischen Reihenfolge. sind sie ähnlich angelegt: Im ersten Buch jeweils erkenntnistheoretische Überlegungen, im zweiten "die Sache selbst", im dritten deren Anwendung in praktischer Vernunft. Von Mal zu Mal aber wird der philosophische Grundriss deutlicher und der Gehalt konkreter. Im dritten Teil der ersten Trilogie mit dem Titel "Kontinuum der Offenbarung" verändert sich die Darstellungsweise, Aphorismus und Kurzessay weichen zusammenhängender Darlegung, ein Durchbruch, der als innersten Antrieb von Rütters Schaffen die religionsphilosophische Fragestellung verrät.

 

Das Werk im Ganzen beschlägt das Gebiet der philosophischen Anthropologie, wie es sich seit Darwins "Abstammung des Menschen" um die zentrale Frage formiert, wie einerseits die Genese des Menschen evolutionär gedeutet, anderseits seine Sonderstellung als Wesen von Geist und Bewusstsein berücksichtigt werden kann. Von philosophischer Anthropologie zu sprechen hat den Sinn, dass zur Bearbeitung dieser Frage die Philosophie als solche eine neue, der Fragestellung entsprechende Gestalt annehmen muss. Die Frage lässt sich nicht im Rahmen bestehender Philosophie als Einzelfrage behandeln, sondern nimmt den Rang einer neuen Grundfrage ein. Sie ist die Reaktion des Denkens auf die "kopernikanische Wendung", welche die Evolutionstheorie herbeigeführt hat.

 

Die erste Annäherung an die originelle Stellung, die Rütter als anthropologischer Philosoph einnimmt, eine erste Ortsbezeichnung seines Denkens sei mit dem Hinweis gegeben, dass er die Prägung, die er von der Transzendentalphilosophie vor allem Kants erfahren hat, in die mit der Evolutionstheorie sich einstellende Problematik mitnimmt, indem er versucht, Kants transzendentales ego durch seinen neuen Grundbegriff der Leiblichkeit, des ideellen Körpers zu ersetzen. Gelegentlich beruft er sich auf „die grosse Vernunft des Leibes", von der Nietzsche spricht. Die Begrifflichkeit, die sich in der Folge dieser Übertragung entwickelt, bleibt kritisch und ermöglicht so die Abwehr reduktionistischer Auffassungen der evolutionären Genese des Menschen und der damit zusammenhängenden Ideologien, etwa des Sozialdarwinismus.

 

Ein wichtiger Unterschied zu Kant ergibt sich daraus, dass Rütter das specificum des Menschen nicht im Besitz des Logos, sondern des Mythos feststellt und dass er damit nicht dem Bewusstsein, sondern dem Unbewussten, aus welchem die mythische Produktion hervorgeht, den Vorrang gibt. Er führt in "Kontinuum der Offenbarung" in dieser Absicht den Begriff der "elementaren Religion" ein zur hauptsächlichen Unterscheidung des Sonderwesens des Menschen. Damit stellt er sich in die Tradition des der Auseinandersetzung mit der Evolutionstheorie und dem evolutionären Natur-Paradigma entwachsenen Philosophems des "werdenden Gottes" (vgl. W. R. Corti "Die Mythopoese des werdenden Gottes" 1953). Bergson, Scheler, Whitehead, Teilhard de Chardin haben es auf je eigene Weise erkenntniskritisch, metaphysisch, platonisierend und christologisch entworfen.

 

Von Max Scheler sei hier die kurze Formulierung des Entwurfs angeführt: "Wir glauben an die Vollendung der Welt in Gott und an Gottes Realisierung und Selbsterlösung durch seinen Actus des Weltprozesses hindurch. Wir wirken nicht an endlichen Dingen - sondern ‚im’ Unendlichen, ‚am’ Unendlichen selber.

Wir wollen nicht Seligkeit und Contemplatio Gottes; wir wollen ‚wirken’ in Gott und für seine Idee von sich selbst. Wir glauben, dass unsere geistige Tat in Gott fortwirkt und für alle endlichen Wesen getan ist.

Wir sind reif zu ertragen einen unvollendeten, einen ringenden, leidenden Gott - wir können ihn lieben erst, seit wir wissen, er sei im Grossen unseres gleichen." (Mensch als werdende Gottheit 1924,. S. 250, Schriften aus dem Nachlass Bd. III: Philosophische Anthropologie 1987).

 

Im Zusammenhang mit dem Betriff der elementaren Religion und ihrer Bedeutung für die Genese des Menschen finden sich die basalen Gedanken, welche Rütters philosophische Position festlegen. Elementare Religion entsteht nicht als eine Projektion des Menschen, sondern sie ist das "Projekt" Mensch selbst, eine der grossen Projektionen der Evolution der Biosphäre, wie der Chemismus der Pflanzen und die animalische Sensibilität. Die Natur bringt evolutionär im Menschen elementare Religion, d.h. die Gottesvorstellung hervor. Mit dem Menschen emergiert Gott in der Natur als Idee. Die Emergenz ereignet sich nicht innerhalb der Geschichte des Menschen, sondern als die Geschichte des Menschen. In dieser Geschichte entfaltet sich der Mensch in seinen Möglichkeiten als Gottgestalter. Er eröffnet in dieser Weise seine Geschichtsnatur als eine Phase der Naturgeschichte. Die Fülle der Entfaltung seiner gottbezogenen Möglichkeiten ist der massgebende Wert, gleichbedeutend mit der integralen Ausbildung des dreieinigen Leibes in Körper, Seele und Geist. Da im Menschen Pflanzliches und Tierisches erhalten bleibt, wird der ideelle Sinn seiner Geschichtsnatur zum Gesamtsinn der Evolution.

 

Die Tatsache, dass zum Leib das Bewusstsein gehört, strukturiert als individuelles Ich-Bewusstsein, führt zum Begriff der Individuation. Die Ontogenese des Menschen vollzieht sich im Medium seiner bewusstseinsbezogenen Geschichtsnatur, die im Genom angelegten angeborenen Verhaltensweisen werden überlagert vom "zweiten Genom" der kulturellen Tradition. Sie übermittelt die individuell erworbenen Erfahrungen und Eigenschaften des Menschen, welche in der Erbmasse des ersten Genoms nicht weitergegeben werden können. Nun entsteht mit der Erinnerung, mit dem geschichtlich-kulturellen Zeitbewusstsein die neue Sinn-Dimension. Deren Aufbrechen ist vom ersten Genom ermöglicht, darauf weiterhin abgestimmt, als Freiraum in seinem Rahmen eingezeichnet.

Die Geschichtsnatur des Menschen ist Resultat und Phase der Naturgeschichte des Menschen. Geist und Bewusstsein, welche unter dem Begriff der Geschichtsnatur mitgemeint sind, sind also schon im ersten Genom, welches die Entwicklung von Pflanzen- und Tierwelt ausschliesslich beherrscht, angelegt. Der Freiraum zur Ausbildung der menschlichen Geschichtsnatur und damit die Eröffnung der Sinn-Geist-Dimension in der Gesamtevolution muss dann notwendiger Weise schon im molekularen Bereich der organischen Materie enthalten sein. Jede nicht-reduktionistische Darstellung der Evolution der geistigen Natur des Menschen wird die Möglichkeit des Geistes schon in die Anfänge und materiellen Gründe der Lebensentwicklung verlegen müssen.

 

Rütters besondere Leistung besteht nun darin, die Emergenz, die Inständigkeit des Selbst in seinem Begriff der Individuation zu berücksichtigen. In der Konsequenz seiner transzendentalen Auffassung der Leiblichkeit versucht er den Gegensatz zwischen naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Begriffsbildung zu überwinden, die einzelwissenschaftlichen Resultate in eine transzendentalkritische Sprache zu transponieren. Die Devise seines intendierten Weges bildet das Begriffsgeflecht in der Wendung, von der unterscheidbaren Ununterschiedenheit von Naturgeschichte und Geschichtenatur des Menschen. Seine Transzendentalien heissen ideeller Körper, Körper- und Geistseele und Bewusstheit-Geist, die zusammen die Dreieinheit des Leibes formieren. Diese Einheit selbst wird als regulative Idee aufgefasst„ also nicht als fertige Struktur und geschlossene Totalität, sondern als Perspektive, als Sinnrichtung möglicher Selbsterfahrung der Geschichtsnatur des Menschen.

 

Die Transzendentalien umfassen die Intentionalität, die leibbedingte, leibbezogene Semantik des menschlichen Weltbezuges. Die Welt erscheint dabei als Umwelt. Da sich aber in der Leiblichkeit des Menschen die gesamte Entwicklungstiefe der Evolution "erinnert", handelt es sich nicht um Erscheinungshaftigkeit, erzeugt durch ein apriorisches Bewusstsein, sondern um Bewusstwerdung der Lebenswelt im Menschen.

Die Tiefe menschlicher Naturgeschichte bezeugt sich in der aus dem Unbewussten stammenden basalen Bedeutungsschicht des Mythos, deren Zentren Vereinzelung und Gesehlechtlichkeit des Leibes betreffen. Als Einheit irreduzibler Transzendentalien kann der Leib nie in positiven Begriffes erfasst werden, er wird in der Lebenspraxis als Telos möglicher und wirklicher Erfahrung erschaut. Die Frage nach dem Menschen sucht demnach ihre Antwort immer im wechselnd fliessenden Geschehen der Geschichte. Auch die "naturwissenschaftlich" gestellte Frage nach den Wesensmerkmalen der humanen Spezies ist darauf verwiesen. Der Leib als regulative Idee kann niemals blosser Gegenstand, niemals Objekt der Forschung werden. Hingegen ist er im Forschen des Forschers selbst tätig.

 

Plessner übertrug die deskriptive Methode der Phänomenologie auf seine anthropologischen Sachgebiete. Sie ist metaphysisch neutral, schirmt dabei aber auch Fragestellungen ab, welche die Stellung des Menschen zur Welt betreffen. Für ihn besteht zwischen der Deskription der Positionalität der Pflanze, der Zentriertheit des Tiers und der Exzentrizität des Menschen kein methodischer Unterschied. Die "natürliche Künstlichkeit" des Menschen erfordert scheinbar keine andere Begrifflichkeit als z. B. das tierische Verhalten. Dabei verwendet Plessner jedoch zur Abhebung des Menschen vom Tier, zur Darstellung seiner Exzentrizität die Selbstbezüglichkeit des Ich-Bewusstseins. Indem er dieses wie ein Verhalten beschreibt, objektiviert er es.

Rütter: hingegen respektiert kritisch die Uneinholbarkeit des Ich als Quellpunkt des Unmittelbaren. Um dessen Leibbezogenheit auszudrücken, bedient er sich auch der Schopenhauerschen Wendung vom Leib als dem "unmittelbaren Objekt". Rütter behält die Flüssigkeit des Subjektiven, indem er dessen unendliche Bewegung auf die Evolution im Ganzen bezieht. Wo er den Leib als Ganzes, als Gestalt zur Anschauung bringt, wo er etwa von dessen Satellitenstruktur oder seiner Polyzentrizität spricht, bleibt er sich des Modellcharakters der Veranschaulichung bewusst.

 

Max Scheler entgeht der unzulässigen Objektivierung durch ontologische Unterscheidung des raum-zeitlichen Seins der Natur-Prozesse und des idealen Seins des gott-menschlichen Aktzentrums, von dem aus sich geistiges Wesen in die Natur einsenkt. Mit dieser Zuhilfenahme regionaler Ontologien bleibt Scheler aber doch dem Dualismus neuzeitlicher Metaphysik verhaftet.

Die Überwindung dieses Dualismus einerseits und die Vermeidung fälschlicher Vergegenständlichung der Existentialität des Menschenwesens anderseits sieht Rütter bei Whitehead geleistet. Whitehead ersetzt die Weltbeziehung nach dem Schema von Subjekt-Objekt durch das einheitliche Wahrnehmungsfeld, als welches die Natur sich gestaltet und im Menschen bewusst wird. Leiblichkeit ist gleichbedeutend mit diesem Feld. Den Ausdruck Whiteheads "conceptual feeling" setzt Rütter gleich mit seinem zentralen Terminus "abstraktive Empfindung". Darin ist die Trennung Kants von Anschauung und Begriff aufgehoben. Möglich wird diese Aufhebung durch die genetische Betrachtungsweise.

Die natürliche Evolution selbst verzweigt sich in den wahrnehmenden Leib des Menschen und die von ihm wahrgenommene Welt. Sie polarisiert sich in Innen und Aussen des Wahrnehmungsfeldes. Das Innen der Bedeutung der Wahrnehmung bildet sich im raumzeitlichen Vorgang der physischen Einwirkung des aussen wahrgenommenen Reizes. Der Leib und ideelle Körper, der wahrnimmt, ist von derselben Beschaffenheit wie die Dinge seines Umfeldes, in dem er steht, aus welchem er emergiert. Welt und Leib bilden zusammen die Kraftlinien des polaren einheitlichen Feldes der Wahrnehmung. Wie die tierischen Verhaltensweisen mit der Umwelt eine Funktionseinheit bilden, so der in Bedeutungen, Bedeutungsvollzügen begriffene menschliche Leib und die Welt.

 

Bergson hatte vor Whitehead mit seiner Auffassung der "intuition" diesen erkenntnistheoretischen Weg gewiesen. Er parallelisiert die ganzheitliche Intuition, in Abhebung von der analytischen "intelligence", mit der Funktionseinheit des animalischen Instinkts und der Umwelt. Rütter betont die Trieb-Natur der Leiblichkeit. Die Bedeutungswelt des Menschen entspricht den Bedürfnissen des ideellen Körpers. Zusätzlich zu den Grundtrieben, die dem Menschen mit dem Tier gemeinsam sind, kommt der nur dem Menschen vorbehaltene Geisttrieb hinzu. Das ihm zugeordnete Organ ist das Gehirn. Wie das Tier seine Umwelt, so hat der Mensch das Welt-Bild, das seiner Leiblichkeit entspricht, sein Wissen von der Natur ist die Auslegung seiner leiblichen Welterfahrung. Der ideelle Körper ist das transzendentale Organ der Organe.

Wenn Rütter vom Innen spricht, meint er damit nicht die bewusstseinsmässige Innerlichkeit, sondern das Innere des Organismus, was "hinter der Haut" liegt, die Funktionseinheit von Leib und Welt in der Dominanz des leiblichen Pols. Das Innen kann aber nur begriffen werden im Hinblick auf das Aussen, wie umgekehrt die Welt immer die Welt der leiblichen Erfahrung bleibt. Dem dritten Teil  der mittleren Trilogie, „Gedanken des Leibes über den Leib", setzt er als Motto den Goetheschen Spruch voran:

Nichts ist drinnen, nichts ist draussen:

Denn was innen, das ist aussen.

 

Der Seitenblick auf Goethes Naturphilosophie begleitet Rütters gesamtes Schaffen. Im genannten Werk findet sich die Stelle: "Wie wir schon oft sagten - aber diese Wiederholung ist nun wirklich die Mutter unserer philosophischen Studien - der Leib ist ein Innen und ein Aussen.“ (S. 197).

Unverkennbar ist die erkenntnistheoretische Nähe zum Begriff der Intentionalität, wie er von Brentano aus Aristoteles neu gewonnen und von der Phänomenologie übernommen wurde. Doch hat er bei Rütter, wie bei Bergson und Whitehead im Rahmen der Evolutionstheorie seinen systematischen Ort gewechselt, es handelt sich nicht mehr um die Intentionalität des Bewusstseins, jedenfalls nicht nur, sondern ebensosehr um die Intentionalität des Unbewussten, um Verzweigung und Polarisierung im Naturprozess selbst. Der Begriff "Passung" von Erkenntnisapparat und Umwelt, wie ihn die evolutionäre Erkenntnistheorie gebraucht, ist in der Innen-Aussen-Beziehung berücksichtigt, ohne dass die mit der Rede von "Passung" verbundene Vergegenständlichung des ideellen Körpers mit unterläuft.

 

Das Zusammenspiel der Funktionen, welches die Eigenart des menschlichen ideellen Körpers ausmacht, bezeichnen die drei aus einem einzigen Wortstamm gebildeten Namen, die Rütter einführt: organisch, organologisch, organismisch. Der Begriff des Organismischen hängt zusammen mit der "natürlichen Künstlichkeit", mit der Produktion kultureller "Stützen", mittels welcher sich die Exzentrizität menschlichen Weltverhaltens ein kompensatorisches Gleichgewicht schafft. Im Leib sind die organischen Funktionen von Funktionen des Beutungsvollzugs überlagert, von organologischen Funktionen, die sich ihrerseits wieder auf ein sinnlichphysisches Substrat beziehen; das massgebende Phänomen ist die Sprache. Deren lautliche Seite stellt die Beziehung zwischen dem organologischen und dem organischen Vermögen her.

 

Die sinnliche Vermittlung ist dem Zeichen nicht äusserlich, sondern spiegelt die leibliche Funktionseinheit des ideellen Körpers. Das lautliche Zeichen wirkt als sinnlicher Reiz, verdoppelt ursprünglich den von der Umwelt ausgehenden physischen Heiz, wobei das Rezeptorische des physischen Reizes durch den effektorischen Vorgang des Verlautenlassens semantisch geprägt wird. Organismisch ist also ein auf organische Wahrnehmung angelegte Identifikation eines physischen Reizes, der gerade in dieser Identifikation seine semantische, organologische Qualität erhält. Durch die behauptete Notwendigkeit der Verbindung von Bedeutungsvollzügen mit sinnlicher Zeichenwahrnehmung wird die Dimension des Semantischen, des Geistigen, Abstraktiven selbst ins Feld der leiblichen Vollzüge verlegt und aus der Sphäre der reinen bewusstseinsmässigen Intentionalität herausgenommen.

Rütter spricht im Hinblick auf die leibliche Wahrnehmungsgebundenheit des Geistes und seiner kulturellen Zeichensysteme von "Physiologie der Kultur". Mit Physiologie meint er die Funktionseinheit des ideellen Körpers. Das Vermögen der Zeichengebung ist für die Spezifität des menschlichen Wesens ausschlaggebend. Die Zeichengebung unterbricht die animalische Form von Reiz und Reaktion in instinktiver Verschlossenheit, der Geisttrieb, der auf die Zeichenverdoppelung ausgeht, übernimmt im menschlichen Verhalten durch Beeinflussung der andern Triebe die praktische Führung.

Rütter spricht von einer Vermittlung der rezeptorisch-effektorischen Aktivität des Leibes, von der transzendentalen Empfindung. Diese scheint er als das Vermögen der Selbst-Ortung des Menschenleibes, ähnlich wie Plessner die Exzentrizität, zu deuten, als das Vermögen "hinter sich und hinter die Welt zu kommen". Im Unterschied zu Plessner modelliert Rütter aber diese Exzentrizität, entsprechend seinen Transzendentalien der Leiblichkeit – Körper, Seele, Geist -, polyzentrisch; er spricht von der Satellitenstruktur des ideellen Körpers. Den materiellen Körper umkreisen die Zentren von Körperseele und Seelengeist, ein System von durchaus kosmologischer Bedeutung konstellierend (Biologie der Logik, S. 173).

 

"Das biologische Element des Transzendentalen vereinigt sich durch Geist und Trieb und Trieb und Geist mit dem Element der tradierten Kultur. Das ist es, was der Satz ausspricht. Damit geschieht eine Vereinigung ohne Blitz und Donnerschlag, eine Vereinigung aller Tage. Wenn man alle Aktivitäten mit einbaut, die auch gemeint sind, wenn ich vom ‚Aussprechen des Satzes’ rede, so ist damit die weltgeschichtliche Synthese, die materielle, biologische wie auch geistesgeschichtliche Vereinigung von Natur und Kultur gemeint" (Physiologie der Kultur, S. 171).

 

"Die Sprache als leibliche Geste" - daraus erwächst für Rütter selbst eine neuartige methodische Disziplin der sprachlichen, begrifflichen, philosophischen Darstellung. "Gedanken des Leibes über den Leib" ist einer seiner signifikantesten Werktitel. Der leibliche Aspekt seines eigenen Denkens und Sprechens kann beschrieben werden als ein Schreiten und Steigen. Die Gedankenbewegung vollzieht sich in diskreten Schritten und Ansätzen, welche zunächst zu den Formen des Aphorismus und Kurzessays gerinnen.

Im sorgfältigen Aufsetzen des Fusses bei jedem Schritt bezeugt sich die steile Hanglage des zu beschreitenden Weges und das angestrebte schwierige Ziel, der Gipfel. Der drohende methodische Abgrund besteht in der Gefahr der falschen Objektivierung oder Subjektivierung des Gegenstandes der philosophischen Anthropologie. Der Gang der Untersuchung hat eine genaue Mitte zu halten, ist ein Schweben über dem Abgrund. Der Mensch ist das Wesen der Höhe, aus eigenen Kräften trägt er den eigenen Leib empor.

Die Bergsteiger-Metapher bietet sich auch an in Ansehung der Gesamtgestalt von Rütters Schaffen. Jeweils schon im ersten Band einer Trilogie ist das Thema vollständig vergegenwärtigt. In den folgenden Teilen wird es wiederholt auf der höheren Ebene einer sich differenzierenden Begrifflichkeit mit weiteren Ausblicken, mit gesteigerter Fernsicht. Die drei Trilogien selbst sind Wiederholungen desselben Themas, spiralförmige Kehren zu immer grösserer Gipfelnähe. Rütter nennt diese Disziplin der Wiederholung "physische Gymnastik des Geistes".

Dazu die Stelle aus "Gedanken des Leibes über den Leib":

„Wer einen Schritt tut und dann wieder einen, dann einen Schritt zurück, dann wieder einen nach vorwärts, in einer bestimmten Kadenz, dann Schritte nach vorwärts und rückwärts, die aus dieser Kadenz fallen, und der diese Schritte weder vordenkt noch nachdenkt, sie also in der Einheit des psychophysischen und des leiblichen Geschehens ganz einfach denkt, als ununterschiedener Gedanke des ideellen Körpers und des Geistes, der hat etwas begriffen von der physischen Gymnastik des Geistes" (S.216).

An anderer Stelle, in der zweiten Whitehead-Vorlesung, gelingt es Rütter unbeabsichtigt seinen denkerischen Gestus in ein gültiges Gleichnis zu fassen: "Ein geübter Berggänger lässt sich an kleinen Anzeichen erkennen, auf die derjenige achtet und achten kann, der selbst ein bisschen Erfahrung hat. In einem tief verschneiten Hochtal des Kantons Schwyz ging ein Tourist einen Hang hinan. Ich folgte ihm. Der Schnee liess nicht erkennen, wohin man seinen: Fuss setzte. Dort wo der Hang besonders steil war, sicherte mein Vorgänger seine Fussstapfen ab auf eine typisch berggewohnte Weise. Er setzte seinen Schuh in den Schnee einmal, zweimal und vielleicht sogar ein drittes Mal an derselben Stelle, um sich einen verlässlichen Halt zu schaffen. Ein höchst gewöhnliches Vorgehen, wird man sagen. Aber es hat seine ‚Spektralfarben’, seine philosophischen." (Arbeitsblätter der Akademie für ethische Forschung Winterthur, Nr. 11 Juni 1981, S. 18).

 

Das Ersteigen des Berges, das Sich Hochtragen des Leibes, Schritt um Schritt, bei immer weiterer Aussicht, obwohl alles sich immer nur zu wiederholen scheint, ist für Rütter auch ein Bild des Menschen in der Evolution, in der Naturgeschichte und ein Ideal der menschlichen Geschichtsnatur, Zielbild. Zuoberst ereignet sich die Verklärung, das Tabor-Ereignis der vollkommenen Individuation und erreichten Dreieinheit des ideellen Körpers, des Leibes, in welchem sich die Sinndimension, das Aufwärts, die Aufgipfelung der Evolution erfüllt. Im Bergsteiger-Willen des Menschen zur Höhe gipfelt sie sich selbst auf. Das Verhältnis des Menschen zur Natur ist nicht mehr gesehen in der Horizontale der Subjekt-Objekt-Beziehung, sondern in der Aufschichtung der evolutionären Pyramide.

 

Neben dem Tabor-Bild des evolutionären "werdenden Gottes" entwirft Rütter gelegentlich noch eine andere sinnbildliche Bergsituation: der Aetna, der Sturz des Empedokles. So in dem Abschnitt "Mystik, Eros und Leib" in "Gedanken des Leibes über den Leib": "Es ist die volle Gewalt dieses einmaligen Zusammentreffens, welches die Tiefen der Natur aufrührt und die Höhen des Geistes erschüttert, die dem Sturz des Empedokles in den Krater des Aetna gleicht: es ist die schöpferische Vermählung des Geistes mit der Natur, es ist die Erhebung und Steigerung der organischen Existenz des Leibes zu seiner organismischen" (S. 114/ Werke, Band 2, S. 823).

 

Wir dürfen es wohl als einen Glücksfall bezeichnen, dass der Schriftsteller-Freund Rütters, Ludwig Hohl, in genauer Entsprechung zu Rütters philosophisch-evolutionärer Bergsteiger-Metapher in der Erzählung "Bergfahrt" (Frankfurt 1975) eine Parabel gedichtet hat, die sich mit den Rütterschen Begriffen und Mitteln philosophischer Anthropologie exakt interpretieren lässt. Es genügt, die Abschnitte in Rütters "Gedanken des Leibes" mit den Leitworten "Leib der Pflanze", "Leib des Tiers", "Leib des Menschen" und die Phasen des Abstiegs vom Grat in Hohls Erzählung zu parallelisieren, wo der in extreme Not geratene Kletterer Ull in phylogenetisch-evolutionärer Anamnese und Sukzession die Klettermethoden der Pflanze (Efeu), des Tiers (Gemse) und schliesslich des Menschen (mit Hilfe des Werkzeugs, des Bergseils) reaktiviert.

Mit dem rettenden Gedanken an das Werkzeug, das Seil, ist der jähe Ursprung der Sprache verbunden, insofern der Einfall zu dessen Benützung von der - in Holland - abwesenden Geliebten, von deren plötzlich vernommener Stimme, ausgelöst wird. In Holland, im Exil, hatte L. Hohl sein Notizen-Werk geschrieben. Rütter erwähnt Ludwig Hohl auch in seinen Texten. Das Werft der beiden befreundeten Autoren umkreiste in lebenslanger Anstrengung die Themen der philosophischen Anthropologie. Im Bergsteiger-Gestus beruht ihre physiognomische Verwandtschaft. Beide bewegten sich in grossen Höhen der Abstraktion und blieben in ihrem poetischen und philosophischen Denken doch bodenständig, empirisch, wie ja auch der Fuss des Bergsteigers auf des Gipfel nach immer am Boden haftet.

 

Aus Rütters leiblichem Gestus des Denkens ("Gedanken des Leibes über den Leib"!) lässt sich nicht nur die Poesiebezogenheit seines Werkes, die Ungetrenntheit des Mythischen und Logischen, ableiten, sondern auch dessen moralisch-praktische Seite. Vor allem in seinen ersten Büchern beruft er sich auf den Entschluss, Philosophie nicht im akademischen Rahmen zu betreiben, sondern als "Arbeiterphilosoph", indem er selbst beruflich als Unternehmer in der Textilindustrie tätig wurde. Praktisch erschloss er sich das Gebiet der praktischen Vernunft und erwarb er sich die Legitimation, in Gesellschafts- und Wirtschaftsfragen, in der Diskussion um Sozialismus und Kapitalismus mitzureden.

Die Motivation zu dem entscheidenden Schritt war philosophischer Statur. Rütter spricht in Andeutungen mehrfach von einem eigentlichen Konversionserlebnis, von einer "Nacht der Gesichte" (Dialektik der Nacktheit, S, 221) . Er erinnert an die von Diogenes Laertius erzählte Geschichte des "philosophischen Lastträgers".

Sein Lebensgefühl, in der Welt zu stehen, bezeichnet er im Zusammenhang mit der Philosophie Whiteheads, mit welcher er sich am liebsten in Beziehung gebracht sah, als ozeanisch, als atlantisch, im Gegensatz zum "kontinentalen" Charakter der Universitätsphilosophie. Auch sah er sich als Lebensphilosoph,, aber nicht im Zuschnitt der Existentialisten, sondern im konkret leiblichen Gestus der antiken Philosophenschulen der Kyniker, Skeptiker, Stoiker.

Die Motivation des Schrittes ins Praktische, die Art der Hinwendung zu den Problemen der praktischen Vernunft konnte Rütters Auseinandersetzung mit dem Marxismus einleiten. Dies bezeugen etwa die folgenden Äusserungen: "Mein Standort ist ein heller Fabriksaal" (Von der Natur des Geistes, S. 16), oder "... mitten im Getümmel des Fussvolkes der industriellen Armee, in der ich so lange ‚gedient’ habe und in der ich mir die durch die Praxis dargestellte und erklärte Theorie, die durch die Theorie dargestellte und erklärte Praxis zu erwerben suchte" (Arbeit und Schöpfung, S. 12).

 

Rütters Gesellschaftslehre ist bestimmt vom Versuch, jenseits von Sozialismus und Kapitalismus eine neue Zukunftsperspektive zu eröffnen. Dabei legt er eine Interpretation zugrunde, in welcher die beiden Gesellschaftstheorien als Abkömmlinge der Aufklärung von denselben kryptoreligiösen Motiven bestimmt erscheinen und deren komplementäre Darstellung bedeuten. Ihre Ideologie ist in gleicher Weise der neuzeitlichen "Wissenschaftskirche" verpflichtet.

Rütter nimmt aber kryptoreligiöse Motive im Sinn seiner religionsphilosophischen These vom "Kontinuum der Offenbarung", von der permanenten schöpferischen Verwandlung der religiösen Formen, durchaus ernst. Die Anschlussstelle für seine eigenen gesellschaftlichen Vorstellungen findet er vorwiegend beim Marxismus. Weite Teile seines Werkes sind deshalb der Auseinandersetzung mit ihm gewidmet, so vor allem grosse Partien in den Bänden "Arbeit und Schöpfung" und "Gedanken des Leibes über den Leib".

"Der Marxismus ist in seiner heutigen Form ein ungeheures Fragment, ein mächtiger Torso, ja, in mancher Hinsicht ein noch ungeformter Block, der den philosophischen Bildhauer ruft" (Gedanken des Leibes über den Leib, S. 54).

Kernpunkt der Auseinandersetzung Rütters mit Marx und den Neomarxisten ist die Thematik des homo novus. Diese soll durch eine den aufklärerischen Horizont Feuerbachscher und Marxscher Auffassung des Menschen durch die Einfügung der Anthropologie der Leiblichkeit und der Individuation ergänzt und in eine neue Richtung gebracht werden.

"Die Bedeutung der marxistischen Anthropologie des kommenden Menschen. Der Wahrheit am nächsten kommt wohl im Marxismus die Reflexion über die Bestimmung des Menschen. Der Marxismus ist der gross angelegte theoretische und praktische Versuch, den Menschen sich selbst zurückzugeben" (Gedanke des Leibes über den: Leib, S. 53).

An anderer Stelle heisst es: "Der marxistische Mangel an Anthropologie ist offenbar" (Gedanken des Leibes über den Leib, S. 175).

 

Der Einbau philosophischer Anthropologie als solcher in den Marxismus führt das entscheidende Argument, die notwendige Korrektur mit sich. Die natürliche Künstlichkeit des Menschen impliziert eine wesentlich andere Bewertung der Arbeit. Sie stellt den "elementaren Bezug des Menschen zur Welt" dar. (Gedanken des Leibes über den Leib, S.185). Sie ist nicht Einwand gegen, sondern "Form der Menschenwürde" selbst (S. 68).

Die kryptoreligiöse Paradiesesvorstellung des von der Arbeit befreiten Menschen verkennt die naturgeschichtliche Wurzel der menschlichen Geschichtsnatur. Als ideeller Körper bleibt der Mensch immer auch Natur. Das zweite Genom der kulturellen Tradition bleibt immer auf das erste biologische Genom bezogen, von ihm abhängig. Es begründet auch die notwendige Verschiedenheit der Individuen. Keine klassenlose Gesellschaft, welche die Individuen zurücknehmen möchte "in den Mutterleib" (l.c. 64) des Kollektivs, kann dem einzelnen die Mühe der biologischen und kulturellen Individuation abnehmen. Diese geschieht im Medium von Arbeit und Schöpfung.

Die Irrtümer des Marxismus in anthropologischer Hinsicht entstammen einer bloss materialistischen Auffassung des Körpers, der nicht als ideeller Körper in der leiblichen Dreieinheit der Transzendentalien von Körper, Seele, Geist gesehen wird. Dahinter steht der Physikalismus der neuzeitlichen Wissenschaft. Voraussetzung der anthropologischen Korrektur der Gesellschaftslehre ist es, dass sich vollziehe "die Auferstehung des Leibes aus den Grabkammern der Naturwissenschaft" (Biologie der Logik, S. 285). Indem der Marxismus einerseits den Menschen bestimmt sein lässt von Gesetzen der äusseren Welt und andererseits in der Forderung der revolutionären Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse an sein Innen appelliert, bezeugt er das neuzeitliche "Auseinanderbrechen der Leiblichkeit" (Gedanken des Leibes über den Leib, S. 39).

Die entscheidende Stellung, welche Rütter dem Begriff der Individuation gibt, könnte an Nietzsche erinnern, an seine Art der "Physiologie" der Kultur, in welcher er die Entstehungsbedingungen des grossen Individuums untersucht. Doch hat Rütter nicht die sinngebende Funktion des grossen Individuums für die Zukunft der Menschheit im Blick, seine Intention ist nicht auf das Überragende kultureller Leistungen gerichtet, sondern auf eine generelle Naturgemässheit der gesellschaftlichen Verhältnisse. Von dieser Idee aus kann er auch ein gewichtiges Wort zu einer ökologisch ausgerichteten Zukunft sagen. "Was der Mensch seiner Umwelt antut, tut er vielleicht zuerst seinem eigenen Leibe an.... ‚Der Leib der Welt' tritt an die Stelle des an sich verachteten, nur als Mittel gedachten menschlichen Leibes. Die gestörte Symbiose des Menschen mit seinem Leib wurde zur gestörten Symbiose des Menschen mit seiner Welt. Die Aussenwelt als Umwelt wurde zum Mittel des Menschen, zum Objekt seiner Leistungsaskese. So begann die Ausbeutung der Natur, zu der das Mittelalter weder die materielle Macht noch die metaphysische Richtung besass. Was in der Aussenwelt möglich ist, muss zunächst in der Innenwelt vorbereitet sein. So wird die Innenwelt des Menschen zum Schicksal seiner Aussenwelt, zum Schicksal der Umwelt" (Gedanken des Leibes über den Leib, S. 167/8).

 

Die Absicht Rütters, den Marxismus durch die philosophische Anthropologie zu ergänzen und zu korrigieren, lässt sich mit den Versuchen Marcuses vergleichen, durch Berücksichtigung anthropologischer Gesichtspunkte der Psychoanalyse zu einer entsprechenden Erweiterung zu gelangen. Es gilt die materialistisch-reduktionistische Auffassung des homo oeconomicus zu überwinden, der ausschliesslichen Bestimmung des Individuums durch Gesetze des Aussen, welche letztlich einem umgekehrten Idealismus neuzeitlicher Subjektsphilosophie entspringt, durch die Aufwertung der biologischen Basis des leiblichen Innen zw. begegnen, die Autonomie wirtschaftlich-materieller Mechanismen auf die naturgeschichtliche Basis des ideellen Körpers abzustützen.

Aber Rütter wirft der Psychoanalyse eine andere Form des Reduktionismus vor, den psychologischen. Die Kritik richtet sich gegen Freuds psychischen Libido-Begriff. Auch in ihm liegt ein kryptoreligiöses Motiv, ähnlich der Vorstellung des von wirtschaftlichen Zwängen, aus der Entfremdung der Arbeit befreiten Menschen der klassenlosen Gesellschaft. Da das Psychische in der anthropologischen Ganzheit des dreieinigen Leibes nur eine Schicht bildet und in der unlösbaren Verknüpfung mit dem ideellen Körper zu sehen ist, dessen natürliche Anlage die technisch-arbeitsmässige Auseinandersetzung mit der Welt gebietet und demnach immer eine Quelle der Unlust darstellt, kann die Libido nicht das Ziel der gesamten Lebensführung sein, Lust und Unlust treten nur zusammen auf, im Kampf mit Widerständen. Ziel der Lebensführung ist nicht die seelische Libido, sondern die volle Ausbildung der Leiblichkeit, die Individuation.

 

Hinter Freuds und Marx' kryptoreligiösen Erlösungslehren, Erlösungen nämlich von der kulturbezogenen menschlichen Natur, visiert Rütter den von Rousseau inaugurierten Kulturpessimismus an. Neben Freud und Marx ist Rousseau für ihn ein permanenter Gesprächspartner. Aus der Konzeption der Dreiheit des Leibes heraus kann sich Rütter gegen die Sublimierungstheorie Freuds und damit gegen die Begründung "des Unbehagens in der Kultur" wenden. Dem organismischen Bereich entspricht im Organischen das Gehirn. Diesem zugeordnet ist der mit den andern, ebenfalls organgebundenen Grundtrieben gleich ursprüngliche, im ersten Genom angelegte und mit eigener spezifischer Triebenergie ausgestattete Geisttrieb. Seine Vernachlässigung führt ebenso zum Zusammenbruch des ganzen leiblichen Systems wie etwa die Vernachlässigung des Nahrungs- oder Geschlechtstriebs. Er kann auch in einseitiger Dominanz ausarten, z. B. in einer ins Gesamtleben nicht mehr integrierten technologischen Intellektualität. Sein Spezifikum ist die intellektuelle Neugier.

Schon in seiner Beurteilung vorherrschender Ideologien der Gegenwart, vor allem des Marxismus, wendet Rütter den Gesichtspunkt der Integrität und der Partialität an. In "Kontinuum der Offenbarung" bezieht er sich auf Hermann Brochs Analyse der modernen Tendenz zur Partialität, d.h. der Verabsolutierung in sich geschlossener durchrationalisierter Sachgebiete wie etwa die Ökonomie. Im marxistischen Materialismus, als umgekehrter Idealismus beschrieben, als einseitige Akzentuierung des "Aussen" der Innen-Aussen Beziehung des Menschen in seiner Welt, wird das übergeordnete Gesamtverhältnis, das sich in einer Vielheit von einzelnen Relationen entfaltet, nach den transzendentalen Grundintentionen von Körper, Seele, Geist auf eine Perspektive, auf ein Moment der Beziehungsstruktur reduziert und von ihm aus der Versuch unternommen, das Weltverhältnis des Menschen im Ganzen zu konstruieren. Ideologie-Kritik ist also verstanden als Korrektur solcher Einseitigkeit. Korrektur, die auch Therapie sein möchte, denn es handelt sich ja hier nicht um blosse Theorie, sondern die Phänomene, die Rütter anvisiert, betreffen die reale Beschaffenheit des ideellen Kulturkörpers.

 

Indem Rütter im Sinne des "Kontinuums der Offenbarung" und auch im Sinne seiner Auffassung der Leiblichkeit, seiner Physiologie der Kultur, dem mythischen Entwurf aus dem Unbewussten die sinnbildgebende Funktion zuschreibt, aus der sich die konkreten kulturellen Tendenzen einer Epoche erklären, muss er auf eine bloss theoretisch-rationale Zeitkritik verzichten. Kritik besteht darin, die kryptoreligiösen Fixierungen des epochalen Bewusstseins in echt religiöse Bindung zu verändern.

Im Versuch, die Frage zu beantworten, wie es zur Ausbildung solcher kryptoreligiöser Formen der Religiosität kommen kann, entwickelt sich Rütters anthropologische Geschichtsphilosophie. In Erinnerung an die "Phänomenologie des Geistes" spricht er von der "Phänomenologie der Leiblichkeit". Die Strukturmomente des ideellen Körpers treten darin auf als Dominanten historischer Epochenbildung. Sie werden zu Hauptcharakteristika bestimmter Kulturen. Sie bilden die grossen Paradigmen der Weltreligionen. Sie lassen sich auch systematisch darstellen als das konstante Ensemble gesellschaftlich-kultureller Funktionen. In der zeitlichen Perspektive evolutionärer Langfristigkeit der Entwicklung, im Rahmen also der naturgeschichtlichen Zeit, konkresziert für Rütter z. B. das geschichtsnatürliche Schicksal des Abendlandes zu einer solchen Phänomenologie des sich nach seinen Momenten entfaltenden Leibes, zu einem Beispiel möglicher geschichtsnatürlicher Ausprägung, zu einer einzelnen Ausgestaltung natürlicher Künstlichkeit. Dabei wird das Motiv der Besonderheit der Entwicklung in die letztlich physiologisch fundierte, nach anthropologischer Naturgesetzlichkeit geschehende Auseinandersetzung des Leibes mit der Umwelt verlegt.

 

Einen grossen Anteil an der kulturphilosophischen Thematik nimmt bei Rütter in allen Schriften die Beschreibung von Antike, Mittelalter und Neuzeit, einschliesslich der Gegenwart ein, in der Zuordnung zu den leiblichen Strukturmomenten, ideeller Körper, der in der Antike dominiert, Geistseele, als Moment der jüdisch-christlichen Welteinstellung des Mittelalters, und Seelengeist, welcher die Rationalität der Neuzeit charakterisiert. Der Wert dieser Beschreibungen dürfte dabei vor allem im Methodischen liegen. Fruchtbar scheint mir der Umstand, dass die Erklärungsebene für den kulturgeschichtlichen Paradigmawechsel in der Verflochtenheit von Naturgeschichte und Geschichtsnatur angesetzt wird, dass damit Vorgänge langzeitlich-evolutionärer und kurzzeitlich kultureller Art interferieren.

 

Der Hinweis auf C. G. Jungs Archetypenlehre und seine Interpretation geschichtlicher Veränderung aus den Verschiebungen der archetypischen Konstellation, kann vielleicht auf Rütters Methode kulturphysiologischer Geschichtsdeutung ein Licht werfen. In der Durchführung seiner Epochenbeschreibung auf der Grundlage anthropologischer Strukturen der Leiblichkeit, obwohl meist in de Form geistvoller Aperçus vorgetragen, scheint mir Rütter einerseits seine grössten Schwächen aufzuweisen, anderseits aber scheint mir im methodischen Gesichtspunkt, angezeigt im immer wiederholtem fast zu einer Obsession werdenden Begriffsgeflecht von Naturgeschichte und Geschichtsnatur, die eigentliche Tiefe seines Denkens zu liegen. Gerade hier zeigt er konkret den Weg auf zur Überwindung des Grabens zwischen Natur- und Geisteswissenschaft. Unbestreitbar scheint mir das Gewicht seines beschwörenden Hinweises auf die Naturgeschichte in der Kulturgeschichte und die Kulturgeschichte in der Naturgeschichte.

 

Die Erweiterung der Dimension des Geschichtlichen durch den Einbezug des naturgeschichtlich gewordenen Körpers als Träger des kulturellen Lebens garantiert dem Geschichtsentwurf, der geschichtsphilosophischen oder eben "geschichts-physiologischen" Betrachtung eine grundsätzliche Offenheit. Im Zusammenhang mit der von Th. S. Kuhn aufgebrachten Problematik des wissenschaftlichen Paradigmawechsels sagt Rütter in "Physiologie der Kultur": "Der Anteil des menschlichen Organismus an dem, was fälschlich Geistesgeschichte genannt wird (es ist vielmehr ebensowohl Körpergeschichte), ist bisher in der Theorie kaum zu Worte gekommen" (S. 183).

Gründe für geschichtlichen Wandel, welche der naturgeschichtlichen Dimension zugehören, sind rational nicht direkt zugänglich, in keine geschichtsphilosophische rationale Konstruktion einzufügen. Das vermeintliche, angemasste Wissen über den Gang der Geschichte und damit auch, über das Wesen der menschlichen Geschichtsnatur ist gerade ein Kennzeichen kryptoreligiöser Einstellungen. Die elementare Religion fragt immer nur. "Wohin gehst du Mensch? So fragt die elementare Religion, so wird sie immer fragen" (Kontinuum der Offenbarung, S. 41). Der Mensch "geht immer am weitesten, wenn er nicht weiss, wie weit und wohin er geht" (l. c. S. 113).

 

Angesichts einer Zukunft, in die keine bloss rationale Berechnung einzudringen vermag, sondern deren Richtung und Richtungswechsel aus dem Unbewussten des leiblich-mythischen Entwurfs erfolgt, ist das Zukunftsverhältnis des Menschen geprägt von Ungewissheit und dem Gefühl der Abhängigkeit. Rütter bezieht sich in seiner Beschreibung der elementaren Religion als anthropologischer Grundfunktion auf das "Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit" von Schleiermacher. Da Rütter von einer leiblichen Bezogenheit auch des wissenschaftlichen Wissens ausgeht, kann bei ihm zwischen Glauben und einem niemals apodiktisch-dogmatischen Wissen kein unversöhnlicher Gegensatz bestehen. Der wissenschaftliche Weltentwurf beruht auf dem geschichtsnatürlichen Verhältnis des Leibes zur Welt, was zu dem religionsphilosophischen Satz führt in "Biologie der Logik" (S. 108), zu der religionskritischen Bemerkung: "Wir haben nicht die Religion unserer Erkenntnis." Jede Form des Chiliasmus und der die geschichtliche Entwicklung transzendierenden Utopie ist in dieser religiösen Zukunftsbezogenheit ausgeschlossen.

 

Rütter betrachtet das Aufkommen „elementarer“, d. h. anthropologisch gedeuteter Religion als „die dritte Reformation“, womit er eine grundsätzliche Neuninterpretation des religiösen Phänomens selbst meint (vgl. Kontinuum der Offenbarung, S. 212). "Das Christentum war bisher eine geschlossene Religion. Die dritte Reformation verlangt die Öffnung des Christentums für die Neubildungen der elementaren Religion, die sich sonst ausserhalb der grossen Religionen ansiedeln." (l. c.)

Wie Rütter in seiner transzendentalphilosophischen Konzeption der Leiblichkeit Kant verpflichtet ist, so hat auch seine anthropologische, naturgeschichtlich-geschichtsnatürliche Deutung der Geschichte in Kants ebenfalls anthropologischer Geschichtsphilosophie ihr Vorbild. Kant stellt in Auseinandersetzung mit Rousseau den Gang der Kulturgeschichte als eine Überlistung des Menschen durch die Natur an dar, wie in analoger Weise dann Hegel von der List der Vernunft in der Geschichte spricht. "Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zustande zu bringen, ist der Antagonismus derselben in der Gesellschaft, sofern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmässigen Ordnung derselben wird" (Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlichen Absicht, vierter Satz).

 

Durch den seither ausgebildeten evolutionär-genetischen Gesichtspunkt hat freilich die Anthropologie neue Dimensionen bekommen. Dennoch ist es wichtig, sich den weit zurückführenden thematischen Ariadnefaden bewusst zu machen. Dies gilt auch für Rütters sprachphilosophische Fassung seiner Theorie des Organismischen. Schon zu Kants Zeiten lautete die Antwort auf die Frage nach dem göttlichen oder natürlichen Ursprung der Sprache, dass mit ihr die "natürliche Künstlichkeit" des Menschen erst gegeben sei - und damit der Mensch. Das "persönlichste", bekenntnishafteste, Rousseau verwandteste Werk Rütters, "Dialektik der Nacktheit" schliesst in seiner Motivik des natürlichen Menschen, des wiedergeborenen "Adam", des zwischen Tier und Gott gestellten "kentaurischen Wesens" vielfach an Philosopheme oder Mythologeme der Renaissance an.

Rütter verleugnet nirgends seine Herkunft aus der vor allem auch durch die pantheistische idealistische Naturphilosophie vermittelten alten naturphilosophischen Tradition. Diese auf dem Boden heutiger Naturwissenschaft weiterzuführen bedeutete für ihn eine grosse Anstrengung und ist eine vorbildliche Leistung.

 

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