Zum Gesamtwerk Grundriss der philosophischen Anthropologie
Hans F. Geyer - Philosoph der Leiblichkeit
Vier umfangreiche Rezensionen

Hans F. Geyer - Philosoph der Leiblichkeit

 

Ein Porträt von Guido Schmidlin

 

 

Eine philosophische Existenz

 

Hans F. Geyer (1915-1987) - bürgerlich Hans Rütter - wurde in Wädenswil am Zürichsee geboren. Nachdem er das Handelsgymnasium in Lausanne absolviert hatte, arbeitete er zunächst fünf Jahre lang im elterlichen Textilunternehmen. Während der Kriegsjahre studierte er an der Universität Zürich mit dem Schwerpunkt Philosophie. Er promovierte 1945 mit der Arbeit Ein klassisches Gespräch (Fichte, Schelling, Hegel) bei dem Philosophen Eberhard Grisebach. Dieser war aus Jena, aus der Umgehung des Lebensphilosophen Rudolf Eucken, nach Zürich gekommen und hatte sich mit der dort damals einflussreichen, von Kierkegaard inspirierten Theologie Emil Brunners auseinander zu setzen. So war die Beziehung zum deutschen Idealismus auch für Hans F. Geyer durch kritische Intensität geprägt. Die, Skepsis galt auch der institutionalisierten akademischen Philosophie.

 

Nahe stand Geyer von Anfang an eine Art des Philosophierens oder der philosophischen Existenz, wie sie der in Zürich im Exil weilende Adrien Turel führte, auf den er sich gern berief. Das im Selbstverlag erschienene Buch Turels Bilanz eines erfolglosen Lebens (1956) spiegelt gelebte Philosophie in dem Sinn, den Geyer für sich beanspruchte. So war es nur konsequent, dass er die ihm angebotene akademische Laufhahn ausschlug und seine Existenz als Philosoph bewusst, fast ostentativ auf die Grundlage der Tätigkeit als industrieller Unternehmer stellte.

Sein Entschluss, sozusagen unterzutauchen, einzutauchen in die philosophie-ferne Welt der Wirtschaft, war seine Reaktion auf die verstörende geistige Bilanz am Ende des Weltkrieges, mit der sich die damals Vierzigjährigen - die Generation am Nullpunkt - überall konfrontiert sahen. Damals ersann sich Geyer sein Leitbild im Lastträger des alten Athen, von dem Diogenes Laertius erzählt, der "während des Tages Lasten getragen, abends aber Philosophie getrieben habe": "Nicht als Lehrer, nicht als Pfarrer, nicht als Professor verpflichtet, nicht dem Publikum hörig - ... so lohnt es sich als zweiter Lastträger des Diogenes Laertius mit seiner Hände Arbeit die Philosophie zu ernähren."

 

Mehr als zwei Jahrzehnte dauerte dieser Einsalz in der Industrie. Ab 1971, so dass also noch anderthalb Jahrzehnte seines Lebens dafür verblieben, widmete sich Geyer ausschliesslich seinem philosophischen Werk. In diesen Jahren trat er auch in Fachkreisen als Teilnehmer an Diskussionen und als Referent auf. Er war Vorstandsmitglied des von dem Zürcher Arzt Balthasar Staehelin ins Leben gerufenen Engadiner Kollegiums, und mit W. R. Corti veranstaltete er in Winterthur im Archiv für genetische Philosophie Ende der sechziger Jahre mehrere Seminare mit amerikanischen Philosophen über den Pragmatismus von James, Peirce und Mead. Über Jahre hinweg war er philosophischer Rezensent der Schweizer Monatshefte.

Sein Briefwechsel war intensiv und  weitgespannt. Er wird nun, soweit gesammelt, zusammen mit dem philosophischen Nachlass Geyers im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern aufbewahrt.

Hans F. Geyer war mit dem heute zu postumem Ruhm gelangten Schriftsteller Ludwig Hohl gut befreundet. Diese Freundschaft "von Einsamkeit zu Einsamkeit" kann zur Kennzeichnung des Ortes dienen, den er in der schweizerischen Literatur dieser Zeit einnimmt. Es ist zu hoffen, dass auch das Werk Geyers wie dasjenige Hohls, nachdem nun eine repräsentative Gesamtausgabe vorliegt, sukzessive seine Entdeckung durch eine philosophisch interessierte Leserschaft erfährt.

Geyer war wie Hohl ein leidenschaftlicher Berggänger. Sein Unfalltod in den Bergen 1987 ist symptomatisch. Die Bergsteiger-Metaphorik durchzieht sowohl Ludwig Hohls wie Hans F. Geyers Werk als permanentes Leitmotiv. Da gibt es eine Stelle, wo er davon spricht, wie geübte Berggänger einander an der Art ihres Schrittes erkennen. Wie er einen im schneebedeckten Steilhang in einem Hochtal des Kantons Schwyz bemerkte: das zweimalige, dreimalige Aufsetzen des Fusses an derselben Stelle, um sich verlässlichen Halt zu schaffen. Er meint damit die Vorsicht des Fussaufsetzens, die dem Aphoristiker Hohl wie ihm selbst eigen war, den Aphorismus als vorsichtigen Schritt der Sprache, die tastend nicht weiss, wo sie den Fuss aufsetzt. Man möchte, das Gleichnis aufnehmend, sagen: Die Aphorismenwerke von Ludwig Hohl und Hans F. Geyer legten Spuren von Erstbesteigungen durch Gestein und Schnee, welche den Nachkommenden als Merkzeichen dienen.

 

Leiblichkeit

 

Die Thematik von Geyers Werk im Ganzen beschlägt das Gebiet der philosophischen Anthropologie, wie es sich seit Darwins Abstammung des Menschen um die zentrale Frage anlagert, wie die Genese des Menschen evolutionär gedeutet werden könne, ohne dass seine Eigenart als Wesen von Geist und Bewusstsein reduktionistisch beseitigt oder übergangen wird. Die Frage nach der evolutionären Genese des Menschen lässt sich nicht in irgendeinem vorgegebenen Rahmen als Einzelfrage behandeIn, sondern ist dem Rang nach eine neue Grundfrage der Philosophie, die mit ihr dem modernen evolutionären Weltbild und der ihm entspringenden Bewusstseinshallung zu entsprechen versucht.

 

Ein erster Hinweis auf die originelle Position Geyers als Anthropologe, eine vorläufige Ortsbezeichnung für seine evolutionstheoretischen Gedankengänge, mag in der Beobachtung liegen, dass er die Prägung, die er von der Transzendentalphilosophie, vor allem Kants, erfahren hat, in die evolutionstheoretische Problematik, mitnimmt und versucht, mit seinem Zentralbegriff des "ideellen Körpers" ein evolutionäres, leibliches Analogon zu Kants 2transzendentalem Ego“ zu inaugurieren. Gelegentlich beruft er sich auf "die grosse Vernunft des Leibes“, von der Nietzsche spricht. Die "hybride" Begrifflichkeit, die aus dieser Übertragung resultiert, bleibt immer kritisch und hält grundsätzlich Distanz zu allen reduktionistischen oder sozialdarwinistischen Verirrungen.

Ein einschneidender Unterschied zu Kant ergibt sich aber daraus, dass Geyer das specificum des Menschen nicht im Besitz des Logos, sondern des Mythos festsetzt und dass er damit nicht dem Bewussten den Vorrang gibt, sondern dem Unbewussten, welches den Mythos projiziert. Er führt in Kontinuum der Offenbarung den Begriff der "elementaren Religion" ein zur massgebenden Unterscheidung des Eigenwesens des Menschen. Damit schliesst er sich der Tradition des Philosophems des "werdenden Gottes" an, wie es aus der Auseinandersetzung mit der Evolutionstheorie und dem evolutionären Natur-Paradigma erwachsen ist. C. G. Jung, Bergson, Scheler, Whitehead, Teilhard de Chardin haben es, neben anderen, auf je eigene Weise psychoanalytisch, erkenntniskritisch, metaphysisch, platonisierend und christologisch entworfen.

 

Im Zusammenhang mit dein Begriff der "elementaren Religion" und ihrer Bedeutung für die Genese des Menschen finden sich die basalen Gedanken, welche Geyers philosophische Position abstecken. "Elementare Religion" meint nicht so sehr die Projektion religiöser Vorstellungen und Bilder durch den Menschen als vielmehr das "Projekt Mensch" selbst als eine: der grossen Projektionen der Evolution der Biosphäre, wie der Chemismus der Pflanzen und die animalische Sensibilität. Indem die animalische Sensibilität,  die Tierseele, sich spaltet in die psychischen Bereiche des Bewussten und Unbewussten, transformiert sich das animalische instinktive Triebsystem in die archetypische Trieblenkung des menschlichen Sozialverhaltens.

Mit den Archetypen emergiert Gott in der Evolution, als der Gott-Archetyp, als "Idee". Diese Emergenz ereignet sich nicht innerhalb der Geschichte des Menschen, sondern ist die evolutionäre Genese der Geschichte selbst. In dieser Geschichte entfaltet sich dann der Mensch nach den Möglichkeiten der archetypischen Gott-Gestaltung. Seine Geschichtsnatur bildet eine weitere Phase der Naturgeschichte. Die Fülle der Verwirklichung archetypischer Möglichkeiten ist der massgebende Wert, das divinum, das Geyer gleichsetzt mit der integralen Ausbildung der menschlichen Leiblichkeit, des "dreieinigen" Leibes in Körper, Seele, Geist. Da im Mensche Pflanzliches und Animalisches fundierend permanieren, wird der in ihm stattfindend archetypische "Sinn"-Zuwachs - "Gott" – zum Leitsinn der gesamten, sich aufstufenden Evolution.

 

Den anthropologische Befund, dass zu Konstitution des menschlichen Körpers da Bewusstsein gehört, strukturiert als individuelles Ich-Bewusstsein, berücksichtigt de von Geyer im Jungschen Sinn verwendet Begriff der "Individuation". Die Ontogenese des Menschen spielt sich zum wesentlichen Teil im Medium seiner bewussten Geschichtsnatur ab, d. h. im Medium der kollektiven Tradition der menschlichen Sozietät. Die im menschlichen Genom angelegte Verhaltensweisen werden überlagert vom "zweiten Genom" der kulturellen Tradition Im Spannungsverhältnis zwischen dem ersten und dem zweiten Genom vollzieht sich die Individuation bzw. die spezifisch menschliche, natürlich und kulturell bedingte Ontogenese. Die kulturelle Tradition übermittelt die individuell - wenn auch im Rahmen des Kollektivs und von diesem sanktioniert - "erworbenen Eigenschaften“ welche in der Erbmasse des ersten Genom nicht tradierbar sind. Es entsteht die kulturelle Erinnerung und mit ihr das geschichtlich-kulturelle Zeitbewusstsein und seien neue archetypische Sinn-Dimension. Deren Aufbrechen ist vom ersten Genom ermöglicht, darauf auch weiterhin abgestimmt, als Freiraum des willkürlichen menschliche Handelns darin ausgespart.

Die Geschichtsnatur des Menschen ist das Resultat der Evolution der Tierseele, der evolutionäre Veränderung des animalischen Genoms. Geist und Bewusstsein, welche unter dem Begriff der Geschichtsnatur mitverstanden werden, sind also im "ersten Genom", das die Pflanzen- und Tierwelt ausschliesslich beherrscht, begründet. In der evolutionären Entwicklung des ersten Genoms kommt es - im Lauf von Jahrmillionen - paradoxerweise zur Ausbildung des das erste teilweise suspendierenden "zweiten Genoms" des menschlichen Sozialverhaltens, findet der „Systemwechsel“ von der biologischen zur kulturellen Tradition, der Übergang von Natur zu Kultur, statt. Die Lebensgeschichte  hat damit eine neue KompIexitätsstufe erreicht, auf der die Systeme des tierischen Sozialverhaltens als Teilsystem in das System des menschlichen kulturellen Verhaltens seinen neuartigen Systemeigenschaften integriert sind. Dieses komplexe Verhalten nennt Geyer "Leiblichkeit".

 

Geyers begriffsschaffende Leistung bestellt generell darin, die evolutionäre Immanenz oder Emergenz des menschlichen Selbst in der begrifflichen Fassung der "transzendentalen Leiblichkeit“ zu entfallen. So glaubt er auch endgültig die Opposition von naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Begriffsbildung hinter sich gebracht zu haben. Die Devise auf dem von ihm intendierten gemeinsamen Weg fasst er in das Begriffsgeflecht der häufig wiederholten und wie eingehämmerten Wendung von der "unterscheidbaren Ununterschiedenheit von Naturgeschichte und Geschichtsnatur des Menschen". Seine "Transzendentalien" heissen: ideeller Körper, körperlich und geistig tingierte Seele, bewusster Geist. Sie formieren zusammen die Dreieinheit des Leibes. Dessen Einheit wird nicht als etwas Gegebenes angenommen, sondern als "regulative Idee", also nicht als fertige Struktur und geschlossene Totalität, sondern als Perspektive, als Sinnrichtung möglicher Selbst-Erfahrung der Geschichtsnatur des Menschen.

 

Die genannten Transzendetalien umreissen die leibbedingte und leibbezogene, die leibliche lntentionalität des menschlichen Weltverhältnisses. Die Welt ist die Umwelt des Menschenleibes. Da sich in der I.eiblichkeit des Menschen die gesamte Entwicklungstiefe der Evolution "erinnert", bedeutet der Umweltcharakter nicht in erster Linie eine Einschränkung und Relativierung der "Objektivität" menschlicher Welterfahrung. Es handelt sich auch nicht um blosse Erscheinungshaftigkeit, wie bei der Annahme des Kantischen apriorischen Erfahrungsschemas eines ausserhalb der Natur befindlichen transzendentalen Ich. Im semantischen Weltbezug des Menschen wird nicht nur der Mensch, sondern die in ihm kulminierende Lebensgeschichte bewusst. Die Wahrheit dieses Weltbezuges ist nicht eine absolute, aber sie ist wahr im Sinne der Wirklichkeit der irdischen Evolution des Lebens. Diese naturgeschichtliche Tiefe bezeugen die aus dem Unbewussten stammenden mythischen Projektionen der menschlichen Psyche, die durchweg um die Vereinzelung und um die Geschlechtlichkeit des Leibes kreisen.

Als Einheit irreduzibler Transzendentalien kann der Leib nie in positiven Begriffen einer Einzelwissenschaft, etwa der Anatomie oder Physiologie, erfasst werden; er wird in der Lebenspraxis als Ziel und Sinn von Erfahrung erschaut. Die Frage nach dem Menschen sucht demnach ihre Antwort immer im wechselnd fliessenden Geschehen der Geschichte. Auch die naturwissenschaftlich gestellte Frage nach den Wesenszügen der humanen Spezies ist darauf verwiesen. Der Leib als regulative Idee kann niemals von allem Subjektiven gereinigt zum blossen Objekt der Forschung werden.

 

Die Innenwelt der Aussenwelt: Die Aussenwelt der Innenwelt

 

Geyer betont wie Freud die Triebnatur der Leiblichkeit. Die Semantik des menschlichen Weltverhältnisses entstammt den Bedürfnissen den ideellen Körpers. Zusätzlich zu den Grundtreiben, die der Mensch mit dem Tier teilt, kommt beim Menschen der Geisttrieb hinzu. Das ihm zugeordnete Körperorgan ist die Gehirnrinde. Wie das Tier seine Umwelt, so hat der Mensch sein Welt-Bild, das seiner Triebanlage entspricht. Der ideelle Körper ist das transzendentale Organ der Organe.

Wenn Geyer vom Innen und Aussen spricht, meint er nicht die bewusstseinsmässige, durch Introspektion zugängliche Innerlichkeit des Seelenlebens, sondern das Innere des Organismus, was "unter der Haut" liegt. Dieses Innen ist aber eine Funktion des Aussen, in dem einheitlichen Funktionsganzen von Reiz, und Empfindung, wie auch das Aussen, die reale Welt, nur angesprochen werden kann als das Aussen des Innen der Leiblichkeit.

 

Organisch - organismisch - organologisch

 

Das Zusammenspiel der Funktionen, welches die Eigenart des menschlichen ideellen Körpers ausmacht, bezeichnet Geyer mit den drei aus einem einzigen Wortstamm gebildeten Begriffen des Organischen, Organismischen und Organologischen. Was meint er damit? Der Ausdruck "ideeller Körper" verbindet die in der cartesianischen Tradition als Gegensatzpaar aufgefassten Termini: Idee, res cogitans, und Körper, res extensa. Die Verbindung soll aber jetzt in der Abänderung des einen Terminus "Idee" von der substantivischen in die adjektivische Form "ideell" nicht mehr den Gegensatz betonen, sondern die Untrennbarkeit, also die Einheit der Termini.

In dieser veränderten Form fallen die Begriffe zusammen mit dem Begriffspaar Bewusst-Unbewusst. In der Wahrnehmung bleibt die organische Basis des Sinnesreizes unbewusst. Der Prozess der organischen Sensation mündet aber in den bewussten Wahrnehmungsakt als seinen prozessualen Abschluss. Der Vorgang, der die Bereiche: unbewusst-bewusst, durchläuft, lasst sich nicht in ein Gegensatzpaar zerfällen. Die "abstraktive Empfindung" (bewusst) ist die Bedingung der "physischen Empfindung" (unbewusst) und umgekehrt. Die Bewusstseinsfähigkeit ist das Selektionskriterium für das Rezeptionsspektrum der menschlichen Sinnesorgane, das "Bewusstsein" ist also schon in der Funktionsweise der Sinnesorgane, die zusammen den Organismus bilden, wirksam.

Im Grosshirn laufen die affektorischen und effektorischen Nervenbahnen zusammen. Der "ideelle Körper“ ist der auf die kybernetische Ich-Funktion eingestellte Organismus. Was bedeutet das "Ich" in diesem Zusammenhang? Es ist der Umschlagsort, wo die Sensationen nicht nur ankommen und synthetisiert werden, sondern wo sie auch - in einem kybernetischen Kreis - verursacht werden. Die Sinnesreize werden in ihm zusammengefasst zur synthetischen Vorstellung. Diese aber wird als Wort geäussert, so dass dessen akustische Aktualisierung und Sensation mit den die Vorstellung hervorbringenden Sinnesreizen verschmilzt. Die äusseren Sinnesreize kongruieren mit einem zusätzlich von innen her hervorgebrachten Sinnesreiz.

So wird der Rezeptionsvorgang verknüpft mit einem Produktionsvorgang, dessen Produkt in einer den ersten Rezeptionsvorgang überlagernden zweiten Rezeption wahrgenommen wird. Durch den zweiten Rezeptionsvorgang wird der erste fixiert oder vielleicht besser: der zweite filtert den ersten heraus und fügt ihn dem Gedächtnissystem ein. Die Sinnesorgane des Menschen sind von Anfang an auf diesen Filter der Sprache hin geeicht. Die Sprache übernimmt beim Menschen die Weltbildfunktion der Instinkte. Wie die Tiere nur wahrnehmen, was für ihre Triebbefriedigung relevant ist, so nimmt der Mensch nur wahr, was sein Sprachvermögen aktiviert, seinen Sprachtrieb oder "Geisttrieb" befriedigt.

 

Als Sprechen und sprachbezogenes Handeln lässt sich das Ich beschreiben in Begriffen des Verhaltens. Die Erforschung der Struktur der Sprache ist der fruchtbare wissenschaftliche (nicht spekulative) Zugang zur Erkenntnis des Ich und damit zur Erkenntnis des "idellen Körpers" des Menschen. Die Sprachstruktur, langue, ist das Produkt des organischen Systems Mensch, in den sprachlichen Universalien für die Species festgelegt.

Der menschliche Organismus ist nicht funktionstüchtig ohne dieses sein organismisches Produkt, ohne das Zusatzsystem der Sprache und im weiteren ohne die anderen verschiedenartigen Zeichensysteme, die zusammen die menschliche Kultur bilden. Diese Zusatzsysteme nennt Geyer "organismisch", weil sie den "tierischen" Organismus zu einer Funktionseinheit ergänzen.

Auf dem angedeuteten Weg kommt Geyer zu seiner Konzeption einer "Physiologie der Kultur". Organo-Logisch ist der Mensch, insofern sein Organismus nicht ohne das organismische Zusatzsystem der Sprache, nicht ohne den "Logos" existenzfähig ist.

 

Gesellschaftslehre

 

Geyers Gesellschaftslehre versucht, eine Zukunftsperspektive jenseits von Sozialismus und Kapitalismus zu eröffnen. Dabei legt er eine Interpretation der beiden grossen Gesellschaftstheorien zugrunde, in welcher beide in derselben Weise als Abkömmlinge der Aufklärung von kryptoreligiösen Motiven bestimmt erscheinen. Ihre Ideologie ist die der neuzeitlichen "Wissenschaftskirche". Weite Teile seines Werkes, so etwa der Bände Arbeit und Schöpfung und Gedanken des Leibes über den Leib, sind deshalb der Auseinandersetzung mit ihr gewidmet.

Den Kernpunkt bildet die Thematik des „homo novus", also der anthropologische Aspekt des Marxismus. Ihn möchte Geyer durch die eigenen Konzeptionen von Leiblichkeit und Individuation ergänzen. Daraus ergibt sich ihm eine andere Bewertung der menschlichen Arbeit als diejenige von Marx, in dessen utopischem Endzustand der gesellschaftlichen Entwicklung die Arbeit als solche verschwinden soll. Gegen diese kryptoreligöse Paradiesvorstellung eines von der Arbeit befreiten Menschen betont Geyer, dass Arbeit den "elementaren Bezug des Menschen zur Welt" darstellt. Er sieht in ihr nicht einen Einwand gegen die Menschenwürde, sondern hält sie für deren wahre Form. Der Marxismus übersieht die naturgeschichtliche Wurzel der menschlichen Geschichtsnatur. Als "ideeller Körper" bleibt der Mensch in der "Kultur“ auch "Natur". Das zweite Genom der kulturellen Tradition bleibt auf das biologische Genom bezogen und von ihm abhängig.

Die doppelte Bedingtheit begründet auch die notwendige Verschiedenheit unter den Menschen. Keine klassenlose Gesellschaft, die Einzelnen zurücknehmen möchte "in den Mutterleib" des Kollektivs, kann von Mühen der biologischen und kulturellen Individuation dispensieren. Diese geschieht in den Bereichen von Schöpfung und Arbeit.

Die Irrtümer des Marxismus in anthropologischer Hinsicht entstammen der materialistischen Auffassung des Köpers, der nicht in seiner Ganzheit als ideeller Körper mit den ihn konstituierenden Komponenten von Körper, Seele und Geist begriffen wird. Hinter der einseilig materialistischen Auffassung des Körpers steht noch der Physikalismus der neuzeitlichen Wissenschaft vor der Ausbildung der modernen relativistisch-evolutionären Kosmologie. In diesem Sinn kann Geyer von der "Auferstehung des Leibes aus den Grabkammern der Naturwissenschaften" sprechen.

 

Von seiner Konzeption der Leiblichkeit her kommt Geyers gewichtiges Wort zu einer ökologisch ausgerichteten Zukunft: „Was der Mensch seiner Umwelt antut, tut er vielleicht zuerst seinem eignen Leib an.“ Die gestörte Symbiose zwischen den Komponenten innerhalb des menschlichen Leibes wind zur Störung der Symbiose des Menschen mit seiner natürlichen Umwelt. Die Aussenwelt wird degradiert zum Mittel einer leistungsasketischen Innenwelt.

 

Auch in Freuds Libido-Begriff entdeckt Geyer ein kryptoreligöses Motiv. Da das Psychische in der Ganzheit des dreieinigen Leibes nur eine Schicht bildet und daraus nicht herauszulösen ist, kann die psychische Libido nicht das Ziel der gesamten Lebensführung sein. Der ideelle Körper als Ganzes ist auf die technisch-arbeitsmässige Auseinandersetzung mit seiner Umwelt angelegt und muss deshalb im Kampf mit den Widerständen mit der Lust immer auch Unlust verspüren. Ziel der Lebensführung ist nicht die seelische Libido, sondern die volle Ausbildung der Leiblichkeit, die Individuation.

 

Religionskritik

 

In Anlehnung an Hegels Phänomenologie des Geistes spricht Geyer von einer "Phänomenologie der Leiblichkeit". Die Strukturmomente des ideellen Körpers treten in diesem Zusammenhang auf als Dominanten geschichtlicher Epochenbildungen oder erscheinen als Hauptcharaktere bestimmter Kulturen. Sie formieren auch die grossen Paradigmen der Wellreligionen.

Durch alle seine Schriften hindurch widmet sich Geyer der Idee, die abendländischen Epochen von Antike, Mittelalter und Neuzeit mit seinen leiblichen Strukturmomenten zu parallelisieren. In der griechisch-römischen Antike dominiert der "Körpergeist", in der jüdisch-christlichen Bewusstseinsstellung des Mittelalters die "Geistseele", im rationalen Weltverhältnis der europäischen Neuzeit der "Seelengeist". Die Erklärungsgrundlage für den kulturgeschichtlichen Paradigmawechsel bildet die Verflochtenheit von Naturgeschichte und Geschichtsnatur des Menschen, sodass dabei die Vorgänge langzeitlich-evolutionärer Art mit den kurzfristigeren kulturellen interferieren. Vieles berührt sich mit den geschichtlichen Aspekten von C. G. Jungs Archetypenlehre.

 

Die Erweiterung des Feldes geschichtlicher Entwicklung durch die Dimension des naturgeschichtlichen Körpers als des Trägers des kulturellen Lebens garantiert der geschichtsphilosophischen oder eben "geschichts-physiologischen" Konzeption eine grundsätzliche Offenheit. So sagt Geyer: "Der Anteil des menschlichen Organismus an dem, was fälschlich Geistesgeschichte genannt wird (es ist vielmehr ebensowohl Körpergeschichte), ist bisher in der Theorie kaum zu Worte gekommen." Die speziellen Gründe für den geschichtlichen Wandel, welche der naturgeschichtlichen Dimension angehören, sind mit den hermeneutischen Methoden der Geisteswissenschaft nicht zu erfassen und gehen darum auch nicht in deren geschichtsphilosophische Konstruktionen ein.

 

Die Anmassung eines Wissens über den Gang der Geistesgeschichte im Ganzen, welche die unwägbaren Einflüsse des ideellen Körpers ausser acht lässt, ist gerade das Kennzeichen der kryptoreligiösen Einstellung. Ihr begegnet Geyer im Sinne der "elementaren Religion" des Kontinuums der Offenbarung: "Wohin gehst du, Mensch? So fragt die elementare Religion, so wird sie immer fragen" ... und der Mensch "geht immer am weitesten, wenn er nicht weiss, wieweit und wohin er geht."

 

Da auch wissenschaftliches Wissen von der leiblichen Bezogenheil nicht ausgenommen ist, kennt Geyer keinen unüberbrückbaren Gegensatz von Glauben und Wissen. Auch der wissenschaftliche Weltentwurf beruht auf dem geschichtsnatürlichen Verhältnis des Leibes. Deshalb muss es möglich sein, ihn mit den archetypischen, elementar-religiösen Vorstellungen in Harmonie zu setzen.

Was wir nach Geyer suchen, ist gerade "die Religion unserer Erkenntnis". Jede Form des Chiliasmus und der Utopie ist in dieser religiösen Zukunftsbezogenheit ausgeschlossen. Das Aufkommen "elementarer", d. h. anthropologisch gedeuteter "Religion" wäre die "dritte Reformation", welche ihre Kraft bezieht aus der Neuinterpretation des religiösen Phänomens an sich: "Das Christenturm war bisher eine geschlossene Religion. Die dritte Reformation verlangt die Öffnung des Christentums für die Neubildungen der elementaren Religion, die sich sonst ausserhalb der grossen Religionen ansiedeln."

 

Information Philosophie 5/ Dezember 1998, 34-42.

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