Lastträger-Philosophie
Philosophische Tagebücher von
Hans F. Geyer
Hermann Levin Goldschmidt
Zürichsee-Zeitung, 29. April 1971.
Hans F. Geyer: «Philosophisches Tagebuch I: Von der Natur
des Geistes»;
«Philosophisches Tagebuch II: Arbeit und Schöpfung»;
«Philosophisches Tagebuch III: Das Kontinuum der
Offenbarung» (Verlag Rombach, Freiburg i. B.).
Nicht als Lehrer, nicht als Pfarrer, nicht als Professor
verpflichtet und nicht dem Publikum hörig, so philosophiert Hans. F. Geyer,
wie es einst ein der «Lastträger» genannter antiker Philosoph getan hat. Um frei
zur Philosophie sein zu können, trug er tagsüber Lasten. Geyer selber, Jahrgang
1915, in Wädenswil am Zürichsee geboren, hat sich an der Universität Zürich bei
Eberhard Grisebach seinen philosophischen Doktor geholt; vorher und danach war
er kaufmännisch und in der Industrie tätig. Da langt es, ja darf es beim Denken
bloss zum «Tagebuch» langen, dessen Aphoristik bewusst kein System vertreten
soll, obgleich die hier geplanten sechs Tagebuchbände sich nun doch auch
systematisch ergänzen. Nicht bloss «Tagebuch I», sondern «Von der Natur des
Geistes» ist Geyers erster Band überschrieben, sein zweiter «Arbeit und
Schöpfung», «Das Kontinuum der Offenbarung» der dritte (1969, 1970
und 1971 in der von Gerd-Klaus Kaltenbrunner betreuten Neuen Folge der Sammlung
Rombach in Freiburg im Breisgau erschienen).
Anderseits will er fragmentarisch philosophieren. Das
Fragmentarische, mein er, sei das Wesen unseres Jahrhunderts eine nach Ergänzung
verlangende Zukunftsträchtigkeit, deren denkerisch Ausdrucksform der Aphorismus
oder der Kurzessay sei. Ihrer bedient er sich durchgängig, doch haben die
letzter drei Bände des „Tagebuchs“ einen ziemlich systematischen
Charakter angenommen.
«Tun, um zu denken; denken, um
zu tun», dieses Goethewort steht als Motto vor Geyers erstem Tagebuch und
«Ja, sehen Sie» ruft er dort einem Gegenüber zu, «darum geht es mir eben, das
ist mein eigentliches Anliegen, die Philosophie wieder sichtbar zu machen
... weshalb mir das Nationalphilosophische am Herzen liegt. Ich möchte
die Philosophie aus ihrem Kabinett, aus „Faustens Studierzimmer“ hinausführen in
die freie Luft, unter die Sonne Gottes, ich möchte sie aber auch dorthin führen,
wo das grosse Geschehen unserer Tage sich abspielt. Mein Standort ist ein heller
Fabriksaal. Man wird ja sehen, wie fruchtbar dieser Standort ist, wie weit seine
Perspektive reicht ... Terre vierge. Der Anreiz eines Philosophierens vom
schweizerischen Standpunkt aus: es ist noch so vieles ungeschaffen, noch so
vieles noch nicht zum Wort gekommen ... Der Boden hat lange auf diese Saat
gewartet ...»
Die bei den Abstraktionen werden
ermöglich durch Verankerung im „objektiven Geist“, nämlich im kulturellen
Erbgut oder zweiten genetischen System. (Das erste ist das physisch-biologische
Erbgut.) Nach Art eines kybernetischen Regelkreises wirken Seele und Geist auf
den naturgesetzlich schaffenden Körper selber schaffend zurück.
Das «Tagebuch II» nimmt
unter der Überschrift «Arbeit und Schöpfung» die Lastträger-Philosophie des
ersten Bandes als das Thema vom «Arbeiterphilosophen» wieder auf. «Der Mensch
arbeitet, wie er spielt, er spielt, wie er arbeitet. Der Mensch ist ein
spielendes Tier. Er ist nur dort ganzer Mensch, wo er arbeitet. Marx versucht
mit seinem Begriff der „Entfremdung" die Menschen aus der Arbeit
hinauszudrängen. Das ist ganz falsch, nicht nur vom erzieherischen Standpunkt
aus, sondern auch vom erkenntnistheoretischen. Vielmehr muss man versuchen, den
Menschen immer wieder durch „Spiel' in die „Arbeit“ hineinzubringen, ihn durch
das Spiel zur Arbeit zu verführen, worin auch ganz eigentlich die Funktion der
Geschichte
besteht, die spielerisch verändert, um die Arbeit möglich und erträglich zu
machen.»
Das andere, jetzt von neuem
vertiefte Thema Geyers ist die Schweiz, dieser «Föderativstaat», den sich die
zunehmend dringlicher geforderte «europäische Konföderation» zum Vorbild nehmen
sollte, zumal, heisst es hier, «die Hoffnung besteht, dass es in Zukunft zu
einer den ganzen Erdball umfassenden Föderation der Föderationen kommen wird».
Voraussetzung bleibt nur dabei, dass es weiter den Bürger gibt in der Gestalt
des von der Schweiz her noch Immer lebendigen «Citoyen» und nicht blossem
«Bourgeois» oder Pfahl- und Spiessbürgers. Dass also auf Rousseau gehört wird,
diesen, sagt Geyer frohlockend, «Schweizer in Frankreich», und auf Goethe, im
Gegensatz zu Thomas Mann.
«Thomas Mann hat, etwa in
„Buddenbrocks", seinen Teil wacker mitgeleistet an der in Deutschland zeitweise
grassierenden Abwertung des Bürgerlichen. Er zeigt nur die eine Seite des
bürgerlichen Wesens - freilich mit souveräner Meisterschaft - nämlich die
psychologisch-intime. Goethe in „Hermann und Dorothea" zeigt dagegen auch die
andere, nämlich die ethisch-willensmässige, er zeigt, wie der Bürger Überzeugung
und Charakterstärke beweist und mindestens im Ausblick, wenn auch noch im
Idyllischen befangen, wie er gross ins Weltgeschehen eingreifen könnte.»
Die letzten Kapitel von Geyers
«Tagebuch II» sind wie folgt überschrieben: Die Unternehmung - Essayismus -
Dialektik der Nationen - Mensch ist Mann und Frau - Wie heisst unser
Jahrhundert?
Mit seinem Entwurf einer
«Philosophie der Unternehmung» erhellt Geyer noch einmal die Fruchtbarkeit
seiner Lastträger-Philosophie, während das Kapitel «Essayismus» von der eigenen
Methode philosophischer Tagebuchführung Rechenschaft ablegt, die «Dialektik der
Nationen» sich einmal mehr den geschichtlichen Rahmen unserer politischen
Verantwortung und «Mensch ist Mann und Frau» sich ausserdem die existentiellen
Grundlagen vergegenwärtigt, denen Geyer nicht weniger entschieden treu zu
bleiben versucht. Wie aber, mit der letzten Kapitelüberschrift gefragt, «wie
heisst unser Jahrhundert?» Es heisse, so lautet die Antwort, Fragment,
und zwar in schöpferischem, fruchtbarem Sinn. Ob aber diese auf Schöpfertum und
Fruchtbarkeit pochende Auslegung des Begriffs «Fragment» sich mit den inneren
Möglichkeiten dieser Losung - und «unserem Jahrhundert» - wirklich verträgt, das
bleibt doch sehr die Frage, so gern der Leser anderseits wieder dem zustimmen
kann, was Geyer mit seinem Begriff des «Fragments» verbindet.
«Mit dem Fragmentarischen meine
ich nicht wenig. Ich meine damit zwar nicht die Vollkommenheit, wohl aber die
umfassende Vollständigkeit, die zu erlangen das systematisch Zusammenhängende
nicht hoffen kann. Fragmentarische Zeiten sind immer auch zukunftsträchtig. Man
könnte dieses Verhältnis auch so ausdrücken: das Vollkommene ist ein
geschlossenes, das Vollständige ein offenes, über sich selbst hinausweisendes
Fragment.» Und: «Andere werden vollenden, was ich begonnen habe. Man soll sich
hüten vor der „falschen Vollendung" des geschlossenen Systems, die gewaltsam und
über jedes mögliche menschliche Wissen hinaus „abrunden" und
„fertigmachen" will. Man glaube an die Zukunft, an die Kommenden. Ich sehe die
Zeit kommen, da die Menschheit wieder ein Dach über dem Kopfe hat.» Aber, erst
mit diesem Wort schliesst Geyers «Tagebuch II»: «Was ist die Menschheit? Eine
Erfindung.»
Also gibt es die Menschheit gar
nicht wirklich, von der Geyer eben noch behauptet hat, dass sie einst wieder ein
Dach über dem Kopf haben werde? Die letzte Halbheit, die sein drittes
Tagebuch, das dem «Kontinuum der Offenbarung» gilt, mit immer neuen
Beispielen am Marxismus anprangert. - der innerhalb des «Kontinuums der
Offenbarung» zwar auch Religiosität bleibt, aber nicht zu ihr steht - liesse
sich auch an dieser Philosophie anprangern, die das «Kontinuum» philosophischer
Systematik nicht mitverantworten will, obgleich sie von ihm und nur von ihm aus
philosophiert. Bestürzend unzulänglich bleibt im übrigen alles, was Geyer über
das Christentum als solches und das christliche Verhältnis zum Judentum zu sagen
weiss, hier ganz augenscheinlich Aphoristiker weder von den Quellen, noch von
eigener Frömmigkeit her. Und wie ernst darf ein Wort wie das folgende genommen
werden, dass die drei grossen Revolutionen der letzten zwei Jahrhunderte die
französische, die bolschewistische und die faschistische seien? Gewiss,
irgendeinen Sinn kann man auch hier heraushören, neben dem Unsinn, dass - im
Hinblick auf den Faschismus - Revolution und Reaktion verwechselt werden, wenn
nicht gar «grosse Revolution» mit «grosser Kriminalität».;
Dann aber beeindruckt wieder der
Ernst dessen, was schon in den nächsten Zeilen echte «Nationalphilosophie» vom
Zürichsee her ist.
«Nehmen wir an, ein Mensch
blicke über einen schönen See, der ihm von Kindesbeinen an bekannt ist, einen
See, der halb in der Sonne und halb im Schatten liegt, einen See, an dessen
Gestaden er ebenso heimisch ist wie an der Oberfläche, ja in der Tiefe des Sees.
Und er murmelt vor sich hin: „Es ist dieses Ewige." Was meint er damit? Was
schwebt ihm vor? Ist es vielleicht ein „philosophisches Erlebnis" oder gar ein
religiöses? Ihm ist vielleicht, als ob vor Jahrtausenden ein Blick über diesen
See schweifte, begleitet von ähnlichen Gefühlen und Gedanken. Wenn das Ewige
sprechen könnte, dann vielleicht so: Es wird nie anders sein und wird immer
anders sein, es wird ewig diese Wiederholung sein und ewig diese Wiederholung
nicht. Das wahre Ewige bringt mit sich die Erwartung der immer wieder kommenden
Gefahr, der immer wieder vom Menschen geforderten Bewährung bis ins Höchste und
Letzte.»
Es gebe, heisst es dann, das
«schlechte Ewige» in dem Sinn eines vom Diesseits abgehobenen Jenseits, «ein
Paradies der Seele, das den elementaren Gesetzen der Psychologie hohnspricht.»
Und anderseits das «wahre Ewige» des im und als Diesseits bewährten Jenseits, so
wie der See es seinen Anwohnern vergegenwärtigt. Zu dieser «vom Menschen
geforderten Bewährung bis ins Höchste und Letzte» ist Geyer aufgebrochen, lieber
zuviel an Last, als zu wenig Lasten schulternd. Dieses geistige Wagnis verdient
volle Teilnahme, gespannte Aufmerksamkeit.