Zum 'Philosophischen Tagebuch' von Hans F. Geyer
Von Johannes Beringer
Im Herbst 1997 ist im Haffmans Verlag in Zürich eine
Werkausgabe In drei Bänden von Hans F. Geyer (bürgerlich: Hans Rütter,
1915-1987) erschienen: sie enthält die sechs Bände des 'Philosophischen
Tagebuchs', das erstmals 1969 bis 1974 herauskam, und die drei Bände des
Spätwerks (wovon allein der erste, "Physiologie der Kultur", zuvor eine
Veröffentlichung erlebte).
"Tagebuch" ist nicht im Sinn etwa
eines "Journal intime" von Amiel zu verstehen - eher im Sinn der "Notizen" von
Ludwig Hohl: In Hunderten und Aberhunderten von Ansätzen und Neuansätzen
versucht Hans F. Geyer "sich einzuholen", "heimzuholen" dem Reiz
des Unmittelbaren und Erlebnishaften verpflichtet, der eigenen Gestimmtheit und
dem "Atem des Denkens" vertrauend.
Das bedeutet nicht, dass es neben
aphoristischer oder aleatorischer Schreibweise nicht auch systematischer
Angelegtes gäbe (alle Bände sind in Kapitel geordnet). Hans F. Geyer besteht
jedoch auf der "inneren Erfahrung des Leibes" und deren ungeahnt "intimer
Empirie": in der Innerleiblichkeit als ganzer sind Erfahrungen aufgehoben, die
tief in die Menschheitsgeschichte, ja sogar in die Vorgeschichte und
Naturgeschichte reichen.
Leerstellen
Eine schöne Passage in "Von der
Natur des Geistes", Band I
des 'Philosophischen Tagebuchs' von Hans F. Geyer, ist der Hinweis auf Raimundus
Lullus, "der ein Schwarmgeist war - und zugleich ein eiskalter Logiker. Eine
interessante Kombination!" (I/230)
Bei einem Aufenthalt auf Mallorca
(wohl in den fünfziger Jahren) hatte Hans F. Geyer das vor circa 600 Jahren von
Raimundus Lullus errichtete Kloster gesehen und an die Tatsache, dass Lullus bis
zu seinem dreissigsten Jahr ein leichtes Leben mit Frauen geführt hatte und sich
dann radikal abkehrte, eine philosophische Reflexion geknüpft. Es geht ihm um
diese Unbedingtheit, die keine Halbschatten verträgt: "die ungeheuerliche
logische Temerität der 'Ars Magna', die Leibniz mit seiner 'Mathesis
universalis' fortgesetzt hat. Die Tradition lebt auch heute noch fort, denn die
Logistik will mutatis mutandis dasselbe." (I/127)
Welche Philosophen die "lullische
Kunst" praktiziert haben, fällt zu nennen nicht schwer: jene, bei denen "der
formale Gedanke sich abzulösen droht, um aus seinem Reich heraus die
Wirklichkeit zu beherrschen" (I/230) - zu denken wäre also an die Dialektik
Platons und an das Organon des Aristoteles, dann an die Scholastik des
Mittelalters, "deren logische Phantasie nicht unterschätzt werden sollte",
im weiteren etwa an Leibniz und Marx. Dessen "Begriffsarabesken",
überhaupt die "Begriffstrunkenheit" des Kommunismus erinnere sehr an die
scholastischen Vorgänger: "Bald ist die Hälfte der Menschheit diesen
Schwärmern und Logikern untertan." (I/231)
An dieser Stelle setzt der
Aphoristiker Hans F. Geyer das Wort "Leerstellen" ein.
"Es hat zehn Jahre gedauert,
aber ich glaube nun, die Bedeutung der Leerstellen erfasst zu haben."
"Man muss mit Leerstellen
arbeiten, so wie es die Logistiker tun." (I/ 231)
Die Funktion der Leerstelle sei,
ein Vakuum zu schaffen - als geistig-seelisches Vakuum Inhalt anzuziehen, zum
Schöpfertum aufzurufen. "Das Schaffen des Vakuums ist der erste Akt der
Schöpfung." (I/231) Gefährlich erscheinen ihm die "verkappten Leerstellen",
die gleich als "Inhalte" daherkommen - so der Proletarier Marxens, der
Übermensch Nietzsches, der nordische Mensch des Nationalsozialismus, der homo
humanus Thomas Manns, der "Existierende" der Existenzphilosophie unseres
Jahrhunderts. Die inhaltliche Reflexion sei zwar legitim, bedürfe aber der
Korrektur durch die formale Reflexion. "Die Kritik der formalen an der
inhaltlichen Reflexion ist deshalb so notwendig, weil die Naivität des Denkers
gerade in diesem Grenzgebiet die grössten Verheerungen anrichten kann. Es lässt
sich bei Nietzsche wiederholt feststellen, dass er mit einer durchaus
berechtigten inhaltlichen Reflexion beginnt, um sie dann als scheinbar
inhaltliche, in Wirklichkeit aber nur formale gewaltig zu überdehnen und zu
überspannen." (I/232)
Hans F. Geyer:
Der Radikalismus der logischen
Idee. In Gedanken wird eine Einheit, Geschlossenheit und durchgehende Symmetrie
geschaffen, die in Wirklichkeit nie besteht. Dieses Urbild der logischen Idee
ist ganz und gar subjektiv, entspricht aber doch einer Denknotwendigkeit. Fasst
man den Gedanken als Lebensäusserung auf, so erkennt man In seiner logischen
Klarheit den Eigenwillen des Individuums. Hieraus ergibt sich eine Abspaltung
der Bewusstseinswelt von der wirklichen Welt, die eindeutig geformt werden soll.
Wie Materie, die unter Druck steht, schliessen sich die Gedanken im System eng
aneinander, es entsteht Wärme, sogar Enthusiasmus, die vollständige
Übereinstimmung der körperlosen Idee mit dem eigenen Ich erweckt Rührung. Der
schrankenlose Geist verleiht dem Menschen den Mut zur Tat, den dieser niemals
aus der blossen Betrachtung der kategorienlosen Realität gewinnen könnte. Da es
nun aber der Radikalismus der logischen Idee von vornherein ausschliesst, dass
eine
Idee dauernd dominiert, herrschen in Praxis viele Ideen nebeneinander und
durcheinander; es gibt daher keine Wahrheit schlechthin, wohl aber einen
natürlichen Machtkampf der Ideen, von denen fatalerweise die wahrste siegen
muss, Indem eben "wahr" gar keinen andern Sinn hat. Dieser Sieg, weit davon
entfernt, einen endgültigen Zustand zu schaffen, bedeutet neuen Kampf, die
freigewordene Kraft wirft neue Probleme auf, das Errungene wird wieder in Frage
gestellt. Es ist etwas Pathetisches an diesem unermesslichen Ringen des Geistes
nach Einheit und Übereinstimmung. Der Geist steht und fällt mit diesem Ringen,
er kann nicht anders sein als so. Seine blosse Existenz schon ist dieser
Schmerz. Er ist, was er schaut, und was erschaut, ist nicht. Denn wie könnte er
anders sein als über den Dingen?
(Werke Band I, 205/6)
Erste und zweite Wiederholung
"Arbeit und Schöpfung" ist
Band II des 'Philosophischen Tagebuchs' betitelt: Hans F. Geyer steht hier
dem Arbeitsbegriff von Ludwig Hohl nahe - auch ihm geht es um eine Korrektur des
aus dem 19. Jahrhundert überkommenen Geniebegriffs, um den "Arbeitscharakter
der Schöpfung" und um den "Schöpfungscharakter der Arbeit". Ludwig
Hohl stellt In seinem Modell der Dreistufigkeit (siehe 'Vom Arbeiten', Teil I in
"Die Notizen") die "kleinen Taten" über die "kleinen Ideen" und diese wiederum
über die "grosse Idee" (denn die könne jeder haben): darüber hinaus gibt es
nicht noch die "grosse Tat". Wenn der Anspruch des Schöpferischen sich
festmacht an der zu leistenden Arbeit, die Mühsal des einzelnen Schritts nicht
verschwiegen wird Genie also nur eine grössere Quantität dieser
Einzelausführungen ist -, erhält das Metaphysische die Basis des Physischen
zurück. Inspiration ist dann nicht mehr nur "göttliche Gnade", sondern Chance
und Frucht der langwierigen Arbeit und der Geduld in dieser Arbeit. (Was nicht
heisst, dass auf dieser Basis nicht etwas leichthin "zufallen" könne.)
Hans F. Geyer setzt beim Begriff
der "Wiederholung" an (mit Bezug auf Kierkegaard) und nimmt die Trennung
von Arbeit und Schöpfung in den Blick, die zwischen technisch-wirtschaftlicher
Zielsetzung und Kunst verläuft. "Die Arbeit hat weitgehend ihren
Schöpfungscharakter, die Schöpfung ihren Arbeitscharakter verloren." (I/280)
Die Wiederholung verweist in die Tiefe der Zeit und auf den menschheitlichen
Zusammenhang: nicht nur auf das, was man selbst getan hat und tut, sondern auch
auf das, was die vielen getan haben und tun. "Wiederholung" ist die
Klammer, die die Arbeit als soziale und als schöpferische Kategorie
zusammenhält. Das Kunstwerk erscheint als das Unwiederholbare schlechthin - und
doch ist auch die Mona Lisa nur mit einzelnen Pinselstrichen gemalt. Darin
steckt die Unerklärlichkeit der Abweichung, die in der Wiederholung liegt: das
also, was sich durch den einzelnen Arbeitsschritt verändert, was sich in der
Wiederholung nicht wiederholen lässt.
Genau genommen gibt es die Wiederholung - bezogen auf den
menschlichen Organismus - als haargenauen Abklatsch, ldentität des Identischen
gar nicht: Das Lebendige ist immer Abweichung von der Norm, keine zwei Akte oder
Tätigkeitsfragmente können einander genau gleich sein. Die Maschine, die dem
menschlichen (und auch tierischen) Organismus die Wiederholung des Identischen
auferlegt, tut ihm Zwang an. (Jedes Individuum zeichnet sich durch das je
Besondere, die Ihm eigene Aura aus: Jede Stimme z. B. hat ein anderes Timbre -
obwohl das "Werkzeug" dasselbe ist. Die Maschine und die hinter ihr stehende
Wissenschaft sieht also immer zu "grob" = auch wenn durch die Computerisierung
ungeahnte Verfeinerungen nicht des menschlichen Organismus, aber des Typus des
Menschlichen in den Bereich des Möglichen gerückt scheint.)
Trotzdem gibt es, wie jeder nur
zu gut weiss, die Wiederholung - die Arbeit als Mühe und Last, und die Arbeit,
die wie von selbst geht, von sich weghebt. Das Prinzip der Wiederholung sieht
Hans F. Geyer denn auch tiefer angelegt: "Das Geheimnis der ihr innewohnenden
Kraft ist die Natur selbst: die grösste Originalität bei geringster Abweichung,
die erworbene, tausendfach geprüfte und erhärtete Ökonomie der Mittel."
(I/315) Es gibt die erste und die zweite Wiederholung: in elementarem Sinn ist
da erstmal "die mechanisch-lebendige, unbewusst-bewusste,
unverändert-veränderte und verändernde Arbeit des Geistes der Menschheit an sich
selbst.“ (I/317)
Die zweite Wiederholung, als
unmittelbar schöpferische, ist das Kulturelle, das Reich der Erinnerung an
eigene und fremde Schöpfungen - doch die zweite Wiederholung kommt ohne die
erste nicht aus, sie muss immer wieder "in den Hades der ersten Wiederholung
hinabsteigen", von der "Lethe des Vergessens" trinken, damit der "Sprung"
in der Schöpfung gelingt, das überraschend Neue möglich wird. Damit verbindet
sich für Hans F. Geyer eine Kritik an der kulturphilosophischen Auffassung des
Humanismus: dessen Erinnerung, die kulturell eine so mächtige Rolle spielt,
nimmt die Resultate quasi "oben" weg, ohne auf die Arbeitsbasis, auf die
Wiederholung zu gehen, die dafür einst massgebend war. (Was das antike Erbe
angeht, also z. B. die Sklavenarbeit im alten Griechenland.) Kultur ist in
diesem Sinne nicht etwas, was über der Arbeit schwebt oder zur Arbeit
hinzukommt, sondern eine eigentliche Kultur der Arbeit oder Arbeits-Kultur. In
diese Wiederholung der Schöpfung durch Arbeit sind nicht nur die bewussten,
sondern auch die unbewussten Kräfte (die "Schöpfung im Schlaf") mit
eingespannt - womit der Bogen wieder geschlagen wäre zu dem Begriff von Arbeit,
wie ihn Ludwig Hohl konzipiert hat.
Hans F. Geyer:
Das Verhältnis der ersten und der
zweiten Wiederholung. Die zweite Wiederholung nannten wir "Erinnerung". Erinnert
kann nur werden, was einmal von Grund aus erarbeitet wurde, in einem Volk, In
der Epoche einer Kultur. Auf dem Boden dieser Arbeit und Mühe wächst die
Erinnerung. Sie Ist die leichtere Wiederholung, denn sie spielt sich ab 1m
Reiche des Bewusstseins. Sie findet die Gestalten, die Gedanken, die Ideen vor,
die Ihr Lebenselement sind. Ihr Reich ist nicht die erste, es Ist die zweite
Schöpfung, die Schöpfung der Schöpfung. Ihr Reich Ist auch nicht das Reich des
Namenlosen, sondern des Namens. Was keinen Namen trägt, kann In ihm nicht zur
Geltung kommen. Es besteht ein Zwang zum Namen, ein Zwang zur Auszeichnung. Die
"Qual" der Qualifikation (wie Jakob Böhme sagen würde) kann auf die höchste Höhe
persönlicher Verwirklichung führen. Die glänzende, namengebende und
personenverherrlichende Erinnerung gedeiht aber nur so lange, als Ihr Boden, den
die erste Wiederholung in unsäglicher Mühe und Arbeit vorbereitet hat, noch
nährende Kräfte In sich birgt. Werden die nährenden Kräfte weniger, beginnen sie
zu fehlen, so zieht sich der Geist der Erinnerung aus der Gemeinschaft der
Menschen zurück. Es bleibt aber die "Qual" der Qualifikation, die umso quälender
wird, )e lebhafter die kulturell Tätigen den Vorwurf einer glorreichen
Vergangenheit empfinden, es bleibt wenigstens der Anspruch
des Schöpferischen. Der Geist der Erinnerung sieht sich gezwungen, seine Kreise
Immer enger zu ziehen, und zugleich immer bewusster zu werden. Die schöpferische
Tätigkeit zersplittert einerseits in einzelnen lndividualismen, andererseits
sucht das Individuum nach allgemeinen, gar mathematischen Regeln, nach denen es
sein Werk vollbringen könnte, es sucht zu "machen", was es nicht mehr schaffen
kann. Es beginnt die letzte Phase der Erinnerung dieser Stufe, es Ist die Phase
der "Geheimsprachen" und der "Geheimformen".
An diesem kritischen Wendepunkt
setzt wiederum die erste Wiederholung ein. Es gib nun, das glänzende Reich der
Erinnerung zu verlassen, wogegen sich vor altem der gebildete Mensch mit aller
Gewalt sträubt. Aber auch er spürt schliesslich, dass kein anderer Weg mehr
offen steht, ist es doch des Menschen nicht würdig, sich im goldenen Käfig der
Erinnerung im Kreise zu drehen. Die Arbeit der ersten Wiederholung steht nicht
in direktem Verhältnis zur Schöpfung wie diejenige der zweiten, wie diejenige
der Erinnerung; die Arbeit bringt den Menschen weg, sie bringt ihn fort, sie
trägt ihn dahin wie ein Strom, um ihn schliesslich an einem Punkt abzusetzen, wo
er sich wieder erinnern kann und darf. Die Erfahrung dieser Arbeit ist
die Erfahrung des Lebens selbst, des noch ungestalteten Lebens, des Lebens, das
aber seine Gestalt in sich trägt, die aus ihm herausgearbeitet werden muss.
Dadurch nimmt der Mensch in sich auf, was ihm die Erinnerung vorenthielt,
nämlich die Möglichkeit der Schöpfung neuer Gestalten, neuer Gedanken und Ideen,
aufsteigend aus der Tiefe des Unbewussten. Denn der Geist des mit der anonymen
Mühe und Arbeit in der ersten Wiederholung beschäftigten Menschen ist nicht
untätig, er ist bei dem Menschen und auch nicht bei ihm, er kann sich auf eine
ganz andere Weise entwickeln gerade, weil ihm die Aufmerksamkeit nicht
gilt. Er kommt zu sich selbst, weil er nicht zu sich selbst kommen soll, er weht
dort, wo niemand sein Wehen erwartet. Die Enge der Arbeit macht den Geist
wieder vertraut mit dem Ernst seiner Zeit, ein Ernst, der im luftigen Reiche der
Erinnerung verloren zu gehen drohte. Aber gerade diese Enge führt' hin zu einer
neuen Weite, ja sie ist es eigentlich, die jene plötzliche Umwandlung
hervorbringt, jenen Sprung, jenes Geschehen über Nacht, die den Ausbruch aus dem
Käfig der Erinnerung bedeuten, eine plötzliche Umwandlung, ein Sprung, die nicht
vorhergesehen werden konnten. Erst wenn der Mensch den Sprung hinter sich hat,
kann er sich wieder erinnern, aber er wird nun die Landschaft der Erinnerung mit
ganz andern Augen sehen, er wird sie so sehen, wie er sie noch nie sah. Dann,
erst dann wird er erfahren, was die grosse Vergangenheit sagen will, dann, erst
dann ist er reif für ihre Wiederholung.
(Werke Band I, 318-320)
Elementare Religion
Wie der Mensch in der Welt steht,
welche Bindung er zur Natur - innerleiblich und ausserleiblich, anthropologisch
und kosmologisch - eingeht, fasst Hans F. Geyer mit dem Begriff der "elementaren
Religion" (l. Kapitel in Band III des 'Philosophischen Tagebuchs',
"Das Kontinuum der Offenbarung"). Das ist für Hans F. Geyers Werk insofern ein
Schlüsselbegriff, als er alles andere "trägt" (demzufolge gar nicht so häufig
vorkommt).
Der Blick auf Religion ist
verstellt dadurch, dass das Wort theologisch besetzt ist: Es wird bezogen auf
die historischen Ausformungen von Religion, fängt nur das auf (und
verabsolutiert es), was geronnene und verfestigte religiöse Form angenommen hat.
Für Hans F. Geyer ist aber elementare Religion gerade dort, wo man sie nicht
vermutet - in Wissenschaft, Wirtschaft, Technik: im Einbruch der
Sachreligionen -, für ihn ist unsere Epoche eine eminent kryptoreligiöse. "Wenn
die Religion, wie die Natur, die Leere verabscheut, so gibt es strikte keinen
profanen Raum, keine areligiösen Kräfte." (I/534)
Hier werden die Fundamente gelegt
für die Kritik an der "Wissenschaftskirche" (ein Begriff, der bereits bei
Ernst Mach vorkommt und später auch von Paul Feyerabend aufgenommen worden ist):
"Die Abirrung in Partialität und radikale Logizität." Wissenschaftlich
gewonnenes Wissen kann natürlich nützlich sein - aber für Hans F. Geyer ist es
widersinnig, es als einzig sicheres Wissen anzusehen, an eine Wissenschaft zu
glauben, die durch Teilung, Unterteilung und weitere Unterteilung des bereits
Geteilten fortschreitet. Das Partialgebiet lädt sich mit einem Anspruch auf, der
seine Voraussetzungen negiert - die Sachlichkeit, die
ästhetisch-wissenschaftliche Kälte fordert ja eigentlich ein unmenschlich zu
nennende Objektivität (abstrahiert in einer Weise vom Innenleben des forschenden
Subjekts, die dieses zum Objekt macht und wie ein Objekt agieren lässt). Diese
Sachlage heisst gerade nicht, dass nicht auch Emotionen oder Willkürakte mit ins
Spiel kämen: das Wissenschaftssubjekt als neutrale, quasi objektive Instanz ist
eine Fiktion. Der Begriff der "radikalen Logizität" nicht nur der
Wissenschaftler, sondern des "Berufsmenschentums" überhaupt, verdankt
sich Hermann Broch - auf ihn (insbesondere auf die philosophischen Passagen des
dritten Teils seines Romans "Die Schlafwandler") verweist Hans F. Geyer auch in
der Hinsicht, als Broch ja lange Zeit (wie er selbst) ein "Doppelleben"
als Industrieller und Schriftsteller führte.
"Ordnung, Nüchternheit,
fachliche Klarheit, Furcht vor Komplikation und Konfusion" sind die
Spielregeln des Fachgebietes, gehören zur Psychologie des Fachmanns: es ist das,
was in "kaltem Enthusiasmus" dem unbekannten Gott geopfert wird (der,
unbemerkt, zum Gott der Zeit wird). Die religiöse Bindung besteht darin, dass
man dem Absoluten des Partialgebiets oder des Fachs verfallen ist. So hat auch
der Vorwurf der "Unwissenschaftlichkeit" einen dogmatisch religiösen
Unterton - für Hans F. Geyer ist das ein metaphysisches, ja schon theologisches
Argument.
Wie sich die "materialistische
Leistungsaskese" der Neuzeit bestimmt, wird von Hans F, Geyer in immer neuen
Ansätzen (vor allem in den folgenden Bänden des 'Philosophischen Tagebuchs')
herauszuarbeiten versucht: erst indem er Mittelalter und Neuzeit in Beziehung
setzt, dann im Dreischritt von Antike - Mittelalter - Neuzeit. "Die Seele war
Körperseele in der Antike, Seelengeist und Geistseele im Mittelalter, in der
Neuzeit wird sie zwischen dem emanzipierten Geist und dem emanzipierten Körper
zerrieben." (II/190) Für ihn hat sich der einseitig nach innen, aufs
Seelenheil gerichtete Bezug des Mittelalters in einen ebenso einseitig nach
aussen gerichteten, technisch-rationalistischen Bezug der Neuzeit verkehrt - das
Heil wird im Aussen gesucht, die logische Abstraktion, die die mythische
Abstraktion ablöst, trennt den bereits getrennten Leib nochmals, entfremdet den
Körper von der Seele und den Geist von Körper und Seele.
Hans F. Geyer:
Die Formalstruktur der Wissenschaftskirche. Welches ist die
harte Schale der Wissenschaftskirche, ihr Panzer, die Formalstruktur ihres
Glaubens und ihrer Gläubigkeit? Es ist der Glaube, dass die Quelle des Wissens
nur in der Aussenweit liege, dass unser Wissen nur von dieser her erschlossen
werde. Der Mensch Ist die "tabula rasa" Lockes. Diese Theorie ist aber schon
unrichtig, wenn man lediglich die abendländische Wissenschaft und nur sie ins
Auge fasst. Denn da die Wissenschaft selbst untrennbar- ist von ihrer
Geschichte, ist sie auch untrennbar von ihrem Subjekt und dessen Geschichte,
isst ihr Logos untrennbar vom Schicksal, vom Mythos des erkennenden Menschen. Es
ist leicht zu erkennen, wie es zu dieser Verhärtung, zu dieser Formalstruktur
der Wissenschaftskirche gekommen ist. Definiert man die Formatstruktur oder
Wissenschaftskirche als eine Grenzüberschreitung von aussen nach innen - der
ganze Mensch, seine Seele, soll vergegenständlicht, in Kategorien des "Aussen"
begriffen werden -, so wird man einsehen, dass es eine "Dialektik der
Grenzüberschreitungen" gibt, denn genauso wurde, unter dem Einfluss herrschender
Religionen, vorher die Grenze von Innen nach aussen überschritten: die
Aussenwelt sollte allein mit Begriffen des "innen" erfasst werden. So lehnte die
Kirche die um die Sonne kreisende Erde ab, denn diese Vorstellung passte nicht
in ihr souveränes Konzept von der menschlichen Seele und ihrem Heil.
Nach der damals geltenden
Formalstruktur sollte das Aussen sich nach dem Innen richten, heute aber, unter
dem Einfluss einer objektbesessenen Wissenschaft, das innen nach dem Aussen.
Aber in Wirklichkeit verhält es sich eben so, dass es ein absolutes Aussen nicht
gibt, die seelischen Kategorien und Wesensmächte sind in unseren
wissenschaftlichen Vorstellungen des Aussen durchaus noch anwesend. Doch sind
sie anders geworden. Es hat eine höchst fatale Veränderung stattgefunden: obwohl
innere Wesensmächte, haben sie sich von der Seele Iosgelöst, selbständig gemacht
und bedrohen nun die Einheit, das Bild
des Menschen. Fatal Ist vor allem, dass die moderne Wissenschaft nicht nur
erhellt, nicht nur ein Lichtquell ist, sondern auch eine Quelle des Dunkels und
der Verdunkelung, dass sie wie ein Polyp immer schwärzere Wolken von sich
stösst. Sie, die es verstanden hat, die seelischen Mächte unter die Schwelle des
Bewusstseins zu drücken, gibt sie sich nicht diesen Mächten, die eben doch da
sind und weiterwirken, in einer Weise hin, die auf Süchtigkeit
schliessen lässt?
Die Seele rächt sich an der
seelenlosen, das Subjekt an der subjektlosen Macht, indem Seele und Subjekt als
nicht erkannte Dämonen gegen die seelen- und subjektlose Macht wieder
auferstehen. Nur so wird man es sich erklären können, dass die Richtung nicht
geändert wird, dass der Blick der Erkenntnis immer nur von aussen nach innen
geht, in einem Reflex der Erkenntnis des Aussen. Die Seele wird zu einem Reflex
des Objekts. Die Dämonisierung der abgetrennten, unter die Schwelte des
Bewusstseins hinabgedrückten seelischen Mächte im Aussen bringt es mit sich,
dass im menschlichen Streben vor allem die im Aussen auftretenden, zähl- und
messbaren Errungenschaften gewertet werden, sie gelten als "Rekord", sie gelten
als Masseinheiten des Fortschritts der Menschheit. Der Dämon der Quantifikation
und der Quantisierung (Satz der Wissenschaftslehre, der die Quantifikation in
den einzelnen Wissenschaften prinzipiell fordert) verlangt der Menschheit immer
grössere Anstrengungen ab zum Nachteil Ihres Innenlebens, er wird zu einer
wahren Geissel eines Gottes, den sie, ohne es zu wissen, verloren hat an die
Aussenwelt, In der er als unbekannter Gott regiert. Die Laboratorien und
Apparaturen der Wissenschaft, ihre ins Ungeheure wachsenden "Forschungsfabriken"
sind die modernen Altäre dieses unbekannten Gottes.
(Werke Band I, 670-672)
Naturgeschichte / Geschichtsnatur
"Die Natur des Menschen ist
gerichtete Natur, sie untersteht dem Gesetz des Bios der Logik ... ", heisst
es in Band IV des 'Philosophischen Tagebuchs' ("Biologie der Logik"). "Die
formale Richtung des Tages nimmt von der transzendentalen Logik der Nacht die
Richtung an, über die sie sich keine Rechenschaft ablegt." (II/85) Über die
Erscheinung des Unbedingten, Absoluten im Bewusstsein, das sowohl von innen wie
von aussen kommt, kann der Mensch "nur stammeln, er hat den Bios der Logik
Gott genannt oder auch - in den humanistischen Sozialreligionen - den Menschen
in einem ausgezeichneten Sinne".
Eine Wissenschaftslehre - eine systematische Anleitung
darüber, wie Wissen zu Wissenschaft wird - kann es nicht geben, wohl aber eine
Geschichte der Wissenschaft, die Methodik und Zufall zeigt, d. h. all die
nationalen, historischen, inneren und äusseren Gegebenheiten und Zufälligkeiten.
Der Logos der Wissenschaft, heisst das, kann den Mythos nie abschütteln, er ist
immer anwesend: der wissenschaftliche Mythos, als "Wissen" um das nie erreichte
und nie erreichbare "Ganze", verfolgt die Wissenschaft wie ein Schatten.
Der Antrieb, die psychische
Motorik der Geschichte des Menschen liegt in der Naturgeschichte, die beim
Menschen zur "Geschichtsnatur" wird. Der Mensch ist das einzige "Tier",
dessen Natur zwei genetische Systeme umfasst: das erste genetische System ist
die Erbinformation, das Genom, die Eigenschaften der Gene; das zweite genetische
System ist das kulturelle und geschichtliche, Sprache und Schrift, all das, was
religiös, philosophisch, wissenschaftlich und künstlerisch erarbeitet worden
ist. Die ungeheure Lernfähigkeit des Menschen bewirkt eine Ungleichzeitigkeit,
eine verschiedene Temporalität der beiden Systeme: die Trägheit der
Naturgeschichte, die physiologisch gegründeten Instinkte und Verhaltensweisen
halten nicht Schritt mit der Geschwindigkeit des Fortschritts des zweiten
genetischen Systems - was eine tödliche Gefahr in sich birgt.
Der Ausdruck "Geschichtsnatur",
sagt Hans F. Geyer, weist auf eine neue Richtung der Reflexion hin: Wenn
Geschichte auch Natur des Menschen ist, ist sie keine rein
geisteswissenschaftliche Disziplin. Am Geist des Menschen, der Geschichte macht,
ist auch der Körper, als erstes genetisches System, beteiligt - es gilt also die
Trennung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften aufzuheben, die
beiden Disziplinen miteinander in Verbindung zu bringen.
Hans F. Geyer:
In der Nachgeschichte. Sie sollte
im Zeichen der Dreieinheit des Leibes stehen. Wenn dieser Imperativ gilt, dann
würde sich in der Nachgeschichte die vorwiegend ontologische Orientierung der
Vorgeschichte mit der vorwiegend transzendentalen der Geschichte, die Immanenz
der Transzendenz jener mit der Transzendenz der Immanenz dieser vereinigen. Die
"Kurve des Bewusstseins" könnte dann etwa so vorgestellt werden: in der
Vorgeschichte verläuft sie unter der Kurve des Seins, in der Geschichte über
ihr, in der Nachgeschichte deckt sie sich mit ihr, was aber nicht die Identität
von Sein und Bewusstsein bedeuten soll, sondern deren Aktionseinheit. Die
Einheit der Aktion von Sein und Bewusstsein wurde zwar vom Materialismus des 19.
Jahrhunderts verheissen, aber nicht geleistet. Die "Entzauberung" der Religion
durch Feuerbach und die darauffolgende Marxens trifft zwar die Magie der
draussen bleibenden Innerlichkeit Im Kern, vermochte aber nicht, die der
mythischen Abstraktion folgende logische Abstraktion auf den Menschen zu
beziehen. Bei diesen beiden Denkern verlagert sich nur das Übergewicht des
Bewusstseins von der mythischen Abstraktion auf die logische, eine logische
Abstraktion, hinter der aber - insbesondere bei Marx - insofern noch die
mythische steht, als nun auf Erden geschehen soll, was vorher im Himmel geschah.
Auch Freud bemüht sich um die
"Entzauberung" der Religion, und für ihn gilt, ähnlich wie für Feuerbach und für
Marx, dass er zwar eine Beziehung zur Materie hat, aber nicht zur organisierten
Materie, insbesondere nicht zur organisierten Materie im anthropologischen
Sinne, nämlich zum Körper
des Menschen. Einzig und allein durch seine körperliche Existenz ist der Mensch
unmittelbar seine Individuation. Jede Bestimmung der seelischen und geistigen,
jede Bestimmung der mythischen und logischen Abstraktion bedeutet bereits eine
Verflüchtigung. Es ist eben dieser Umstand, den der "Materialismus ohne
organisierte Materie" – der Materialismus des 19. Jahrhunderts - nicht
berücksichtigt, seiner ganzen Herkunft nach auch gar nicht berücksichtigen kann.
Die Aufklärung des 18. und 19. Jahrhunderts versuchte, den Menschen durch
logische Abstraktion aus dem Jenseits der mythischen Abstraktion zum Diesseits
seiner körperlichen Existenz zurückzuführen. Sie machte aber den menschlichen
Körper zu irgendeinem Körper, was er nicht Ist, denn der menschliche Körper ist
ganz natürlicherweise "absoluter Ort und Ort des Absoluten", das Zentrum der
Weit. Deshalb musste auch wieder verloren gehen, was durch die Aufklärung
gewonnen wurde. Die Aufklärung befreite zwar durch ihre Anthropologie von der
Bindung der mythischen Abstraktion, zerschnitt aber diese Bindung auch dort, wo
sie lebenswichtig für den Menschen Ist, nämlich dort, wo sie ihn als Re-Ligio
rückbindet an ihn selbst, an seine einzige und einzigartige, an seine
unvergleichliche Individuation.
Kein Mensch ist Irgendein Mensch.
Der Ort des Menschen ist kein gleichgültiger Ort, folglich kein Gegenstand der
logischen Abstraktion allein, schon deshalb nicht, weil es ihn nur einmal gab,
gibt und geben wird. Da an diesem Ort der Nachgeschichte der Mensch allein ist,
allein aber mit seiner Bindung, ergibt sich eine Rückkehr zur Freiheit der
Vorgeschichte, aber nicht zu Ihrer Anarchie, eine Rückkehr zur Bindung der
Geschichte, aber nicht zu ihrer Tyrannei, so dass eine Einheit der Aktion von
Sein und Bewusstsein die Anarchie der Vorgeschichte zusammen mit der Tyrannei
der Geschichte zur Freiheit der Person aufhebt.
(Werke Band II, 225-227)
Dialektik der Nacktheit
Der "ideelle Körper" (und
die "leibliche Dreieinheit") rückt hier (in Band V des
'Philosophischen Tagebuchs') auch im Sinn eines Urerlebnisses ins Zentrum - wird
durch Platons "Ideen" und Aristoteles' "Entelechie" hindurch und hinaus gedacht,
erfahrbar gemacht. "Was ich bei der Abfassung dieses Buches empfinde? Freude,
Freude, Jubel, Jubel, die rauschartige Hingerissenheit einer creatio
ex nihilo, einer in die Tiefe dringenden, nicht nur geistigen und seelischen,
sondern auch körperlichen Mutation, es ist zugleich das Älteste und das
Jüngste, das sich wandelt, es ist ein Fest mächtiger Wiederholung, so wie die
Wiederholung Johann Sebastian Bachs ... Der Jubel ist sachlich kaum zu
hören, der Stil ist beinahe trocken (geladen mit einer von Trockenheit
knisternden Elektrizität, geladen mit der 'trockenen Seele' des Heraklit), doch
ist der Jubel unüberhörbar für jenen, der ein Ohr hat für die Musik einer
Philosophie, deren nüchterne Poesie gegen ihren Willen ausser sich gerät."
(II/377/8)
Die Menschwerdung des Menschen wird hier mit Anfang und Ende,
Natur und Kunst, gottmenschlicher und menschgöttlicher Inkarnation
zusammengedacht. Es geht um den inneren Antrieb, der in den Entschluss (und in
menschliches Reflexionsvermögen) mündet - um die "Mythopoese des Werkzeugs",
die "Ekstasis des Wesens", um Sprachfindung, Individuation von Individuum
und Gattung. "Das Werkzeug ist nicht nur Exkreszenz, es ist auch eine
Inkreszenz. Es bedeutet nicht nur ein äusseres, sondern auch ein inneres Wachsen."
(II/400) Unter Kunst wird "das werkschaffende Vermögen des Menschen
einschliesslich der Technik" verstanden - was den Vorteil hat auf den
gemeinsamen Ursprung der musischen und der technischen Kunst zu verweisen, die
sich dann in verschiedene Richtungen - eine zweckgerichtete und eine
sinngerichtete - entwickelt haben.
Bei dieser rückführenden Vorgehensweise muss auch eine
autobiographische Referenz ihren genauen Ort haben: Hans F. Geyer beschreibt die
"physische Sensation", die sich ihm in jugendlichem Alter über den
nackten Körper an einem Sonnentag am Genfersee vermittelte. "Die damalige
'tierische Vollkommenheit' zum Bewusstsein zu erheben und - sie wieder zu
vergessen, ist, was ich die Aufgabe meines Lebens nennen könnte." (II/412)
Das Gefühl des Idyllischen führt ihn in der philosophischen
Reflexion zwanglos weiter zu Jean Jacques Rousseau und dessen Vorstellung vom
"natürlichen Menschen" oder des "guten Wilden", die als Projektionen des
Zivilisationsmenschen entlarvt werden. (Er hält ihm die reale Erfahrung von
Herman Melville, wie er sie in "Typee" niedergelegt hat, entgegen.) "Idyll
und Terror" ist, wie Hans F. Geyer bereits in seiner ersten Buchpublikation
("Gedanken eines philosophischen Lastträgers", Zürich 1962) sagt, einer
der Angelpunkte seines Denkens; er bringt die idyllische Landschaft Rousseaus am
Genfersee zusammen mit der Landschaft Christi in Galiläa und am See Genezareth:
über beiden "brütet dasselbe Verhängnis eines 'unbedingten Ideals', das von
der Menschheit mehr fordert, als sie je zu geben vermöchte." (II/478)
Er verweist auf den Besuch des Studenten Robespierre bei
Rousseau und auf Rousseaus grossen Einfluss auf die geistige Entwicklung in
Deutschland (die durch Fichte verhängnisvoll abgelenkt wurde). "Die Katharsis
des Ideals. Der 'natürliche Mensch' von Rousseau, Marx und Freud: es sind für
mich drei Versionen des 'unmöglichen Ideals'. Nun kommt es darauf an, diese
Ideale zu 'reinigen', also die regulative Funktion der Kantischen Vernunft auf
sie anzuwenden." (II/464)
Hans F. Geyer:
Glück und Unglück. Das Glück des ersten Menschen schuldet
nicht viel dem Gestern, nicht viel dem Morgen. Der erste Mensch lebt in der
Systole des Glücks. Es ist ein Glück oder ein Unglück ohne Halblicht, ohne
Halbschatten. Ist es deshalb ein Glück des Augenblicks? Ja, einerseits, nein,
andererseits. Ja, denn die Erlebnisse in den drei Formen der Zeit, die der erste
Mensch durchmacht, gleichen einander so sehr, dass weder die Vergangenheit
bedauert noch die Zukunft erhofft wird. Der Augenblick also ist es, der den
Menschen in allen drei Zeitformen gefangen hält, denn es ereignet sich ja nur,
was sich ereignet hat und was sich ereignen wird. Nein, andererseits, denn der
Augenblick ist doch nicht identisch mit anderen Augenblicken, er ist
unverwechselbar dieser Augenblick mit seinen eigenen Gesetzen, mit dem
Gesetz seines Gelingens, dem Gesetz seines Misslingens. Der Mensch, der gerade
nicht als ein anderer erschien, wird eben doch ein anderer, er tritt aus sich
heraus in der Ekstasis des geschenkten Glücks oder des erlittenen Unglücks.
Für Glück und Unglück aber gilt, dass ihnen die Zeit eine
unüberwindliche Schranke setzt, sie können nicht ausbrechen aus der fliessenden,
der aktuellen Zeit, das Vermögen der Erinnerung und das Vermögen der Erwartung
sind beim ersten Menschen gleichermassen wenig entwickelt, so dass er lebt, wie
wenn er nichts verloren, aber auch, wie wenn er nichts zu erwarten hätte. Die
Systole des Glücks sperrt den Menschen in ein Gefängnis, das er bald als
Freiheit, bald aber auch als solches empfindet. Und zweifellos nagt eine
Versuchung an dem ersten Menschen, diesem Gefängnis zu entrinnen, zu fliehen aus
der Systole in die Diastole des Glücks.
Wenn wir nach der innersten Triebfeder der menschlichen
Entwicklung suchen, so finden wir sie wohl gerade hier. Die Schranken der Zeit
sollen durchbrochen werden, die Phantasie soll spielen in der Erinnerung der
Vergangenheit, im Ausmalen der Zukunft. Ohne eine solche gläubige Bereitschaft
wäre der Mensch nie ausgebrochen aus der Gegenwart. Er musste an das Ganzandere
glauben, ja, er musste zu diesem Glauben verführt werden. Die Diastole des
Glücks erst erschliesst ihm die Ekstasis der drei Zeitformen.
Es fällt nun wie ein magisches Licht auf die Gegenwart. Sie
erleidet die Verzauberung durch die Vergangenheit und die Zukunft. Es beginnt
die Absenz der Präsenz, die Verlorenheit in der Vergangenheit und der Zukunft.
Der Mensch tritt aus der Aktualität, aus der fliessenden Zeit heraus und befragt
den Menschen, der er war, und den Menschen, der er sein könnte, um seine
Existenz. Die Gegenwart ist nicht mehr die Königin der Zeit, nicht mehr ist es
so, dass ihr Glück und Unglück den Menschen beherrschen, verschwunden sind die
Mauern des Gefängnisses, aufgehoben ist die Trennung, wie ein vernichtender
Strudel dringen nun Vergangenheit und Zukunft in die Gegenwart ein.
Ein Mensch ist nicht glücklich, wenn er sich nicht darauf
versteht, sein Glück zu erinnern, sein Glück zu erwarten. Die Gegenwart dehnt
sich aus durch mannigfache Sorgen, Kümmernisse, Ängste, durch die Trauer über
Vergangenes, durch die Hoffnung auf Zukünftiges.
Achten wir auf diese Verwandlung der "inneren Landschaft" des
Menschen, auf diese Verwandlung seiner Seele! Es ist der grosse geschichtliche
Augenblick der Vorgeschichte. Denn erst jetzt kommt es zur Voraussicht des
Menschen, zur Vorsorge, zur Entwicklung aller seiner Hilfsmittel, seiner
Werkzeuge, seiner Bauten, seiner Kleider, seiner Waffen. Vergangenheit und
Zukunft sind ihm zu einer Realität geworden wie die Gegenwart, ja Vergangenheit
und Zukunft vermischen sich ganz eigentlich mit der Gegenwart, der Mensch lebt
nun in allen drei Zeltformen zugleich, er lebt in deren Nu, das zusammenbringt,
zusammenrafft, was je geschehen, was geschieht, was geschehen wird.
Was hat der Mensch dadurch verloren, was gewonnen? Verloren
hat er das volle Licht der Gegenwart, ihr ungemischtes Glück, verloren aber auch
die Nacht ihres Unglücks, die kein Lichtstrahl der Hoffnung erhellt. Die
Bedingungen von Glück und Unglück sind nun so schwierig geworden, dass sie kaum
mehr erfüllt werden können, weder grämt der Mensch sich ganz, noch freut er sich
ungetrübt.
Er lebt also nicht mehr in der einen Zeit, er lebt in einem
System von Zeiten. Es erreichen ihn die „Nachrichten“ aus der Vergangenheit,
welche ihm die Erwartung der Zukunft wie ein Echo wieder zuspielt, Nachrichten,
die trösten mögen, trösten können, die ihn aber auch zur Verzweiflung bringen.
Es genügt nun nicht mehr der eine Tag und das Glück des einen Tages. Nicht mehr
beherrscht den Menschen der kosmische Rhythmus.
Des Menschen Sorgen und Ängste machen ihm die Nacht zum Tag,
den Tag zur Nacht. Die Zeit ist ihrer Diskretion verlustig gegangen; was der
Mensch auch tut, er kann es nur tun vor dem grossen Auge der Erinnerung und der
Hoffnung.
(Werke Band II, 386-388)
Organisches / Organismisches
Band VI des 'Philosophischen Tagebuchs' („Gedanken des
Leibes über den Leib“) ist im ersten Teil eine Auseinandersetzung mit den
theoretischen Postulaten und praktischen Auswirkungen des Marxismus und
Neomarxismus (ich verweise auf das Erscheinungsdatum des Buches: 1974). "Den
Kern der Argumentation bildet der Nachweis, dass der Marxismus dort in den
Idealismus (Mächverfällt, wo er sich dessen am wenigsten versieht, nämlich in
seiner Konzeption des menschlichen Leibes in der Nachfolge Feuerbachs."
(II/697)
Es geht aber vor allem auch um die "mangelnde
Individuation" im Westen: durch die Auslieferung des Innen an das materielle
Aussen kommt es zu einer Verkehrung - das Aussen lädt sich spirituell auf,
materielle Güter erfahren eine Überwertung, werden zu so etwas wie einem
Religionsersatz, wissenschaftliche, technische und wirtschaftliche Leistungen
erhalten - über das Phänomen der "vergöttlichten Zahl" - eine Art
metaphysischer Aura.
Dem begegnet Hans F. Geyer wiederum mit einer seiner
weiterführenden Rückführungen: er beschreibt die organische und organismische
Existenz zwischen den Polen "Pflanze - Tier - Mensch" - als naturgeschichtliche
und geschichtsnatürliche Dynamik, Energetik von Körpertrieben und Geisttrieb.
Es geht um die Gesamtökonomie des Leibes, die organische
Einheit des Körpers im Zusammenhang mit anorganischer Materie: um die Spannung
der Dreieinheit des Leibes, die eine Spannung innerhalb der Natur dieses Leibes
selbst ist. "Die Stufen der Ausbildung des Genus homo sapiens beginnen mit
der organischen Tiefe und enden mit der organismischen Höhe, beginnen mit dem
Körper und enden mit dem Geist - ein Ende, das kein Ende ist, denn das Ende
bedeutet nur einen neuen Anfang, den Anfang der Vertiefung der leiblichen
Existenz." (II/845)
Die neuzeitliche Bewegung der Verabsolutierung des Aussen hat
zu einer progressiven Desakralisierung des Körpers geführt - zum Körper als
blosser "corpus" unter anderen, der Mittel zum Zweck ist und seine leiblichen
Eigenschaften verliert. Hans F. Geyer bringt diesen Vorgang mit
Gegenwartsphänomenen (der Pornographie, dem Leistungssport) in Zusammenhang und
versucht die Organisiertheit des ideellen Körpers an der unterschiedlichen
Leiblichkeit von Mann und Frau und an der "Disziplin von Lust und Unlust"
festzumachen.
Die Art und Weise der organisch-organismischen Differenz und
Indifferenz ist für ihn auch bestimmend in Hinsicht auf die Mitmenschlichkeit -
darin ist das gesellschaftliche Miteinander angelegt. In der gestörten Symbiose
zwischen dem Leib des Menschen und dem Leib der Welt - dem im Übergang vom
Mittelalter in die Neuzeit freigesetzten Potential an Aggression gegen Natur und
Umwelt - sieht er die innere Verwüstung: "Was der Mensch seiner Umwelt antut,
tut er vielleicht zuerst seinem eigenen Leibe an." (II/888)
Die seelisch-geistige Disposition, die sich die Erde untertan
macht, hat zu tun mit dem Phänomen "körperlosen Denkens" und "triebloser
Vernunft" in der abendländischen Geschichte.
All dies verweist bereits auf die "Physiologie der Kultur"
(erschienen im Insel Verlag, Frankfurt/M. 1985) und auf die zu ihrer Zeit
unveröffentlichten Folgebände "Kritik der neurophysiologischen Vernunft" und
"Sturz der klassischen Vernunft", die nun erstmals als 'Trias' in Band 3 der
Werkausgabe vorliegen.
Hans F. Geyer:
Organische Materie (Pflanze, Tier) und organisierte Materie
(Mensch). Die Pflanze hat wahrscheinlich eine Art von Bewusstsein, ein
Traumbewusstsein, ein schwächeres; das Tier, entsprechend seiner mobilen
Lebensweise, ein stärkeres. Der Mensch aber ist sich nicht nur bewusst, was
bedeutet, dass er der Welt als ein organisches Wesen gegenübersteht, er ist sich
auch seiner selbst bewusst: er steht sich selbst gegenüber, er weiss, zugleich,
und weiss, dass er weiss, was erklärt, dass seine lebende Materie nicht nur
organisch, sondern organismisch ist: sie organisiert fortwährend sich selbst
durch Reflexion auf sich selbst.
Der menschliche Leib, die leibliche Dreieinheit des Menschen
hat die Struktur eines Turms, dessen Spitze sich in den Wolken verliert. Auf den
Körper baut die Seele, auf Körper und Seele der Geist auf, aber so, dass weder
der Körper noch die Seele noch der Geist für sich sind, sie sind in ihrer
dreifachen Einheit je alldurchdringend und alldurchdrungen.
Dass der Mensch nicht nur organisch, sondern organismisch
ist, dass er nicht nur weiss, sondern weiss, dass er weiss, ergibt sich gerade
aus diesem sich türmenden Aufbau, der ein Aufbau ist wie von Spiegeln, von
Reflektoren, ein sich selbst spiegelndes, sich selbst reflektierendes Gebäude,
worin die Höhe ein Bild empfängt von der Tiefe, es in sich selbst verarbeitet
und an die Tiefe zurückgibt; worin die Tiefe ein Bild empfängt von der Höhe, es
in sich selbst verarbeitet und an die Höhe zurückgibt.
Die Idealität der organischen Form, die sich aus keiner
Materie je ableiten lassen wird, erscheint in der organisierten Materie des
Menschen als Idee des Leibes, als Idee des Körpers, der Seele und des
Geistes. Die organische Form des menschlichen Leibes wird konfrontiert mit ihrer
Spiegelung, sie ist nicht nur sie selbst, sie ist mehr als sie selbst, sie
stellt sich nicht nur dar, sie stellt sich vor, sie stellt sich vor als ihre
Idee.
So ist sie die in ihre Möglichkeit hinausgeworfene Form,
indem sie nicht nur ist, sondern sich selbst gegenüber ist als ihre Möglichkeit.
Als die Möglichkeit ihrer Idee wirkt sie ständig auf sich selbst zurück, von
ihrer Vorstellung auf Ihre Darstellung, von ihrem Bild auf ihr Dasein, von ihrer
Idee auf deren Verkörperung.
Durch seine ideelle Spaltung Ist der Leib des Menschen immer
zugleich, was er ist und was er sein sollte, was bedeutet, dass er auf sein
organische Materie zurückkommt, um sie zu organisieren, um sie auf die Stufe der
organisierten Materie zu erheben.
Seele und Geist sind höhere Potenzen dieses Prozesses
ideeller Spiegelung, aber die ideelle Spiegelung findet auch auf der Stufe des
Körpers statt, vermittelt durch Seele und Geist. Indem Seele und Geist tief in
das Sein des Körpers eindringen, erfahren sie dessen ideelle Möglichkeiten,
stellen sie ihm vor, stellen sie ihm gegenüber.
Der sich selbst organisierende Körper wäre undenkbar ohne die
seelische und geistige Idee, ideell aber ist er gerade dadurch, dass er nicht
nur durch Seele und Geist wesentlich ist, sondern Seele und Geist wesentlich
auch durch ihn, dass er nicht nur mit und aus ihrem Bilde leibt und lebt,
sondern sie auch mit und aus seinem Bilde. (Werke II, 825/6)