Rezensionen der
"Physiologie der Kultur"
Die Philosophie des Leibes (Jaeckle)
Ideeller Körper, leiblicher Geist (Brügger)
"Physiologie der Kultur" (Beringer)
Philosophie der Leiblichkeit (Mächler)

Philosophie der Leiblichkeit

 

 

Von Robert Mächler

Schweizer Monatshefte, 9/1985, 802-805.

auch in:

Robert Mächler - ein Don Quijote im Schweizer Geistesleben?. Herausgegeben und eingeleitet von Gabriele Röwer. Zürich: Pano-Verlag 1998, 310-312.

 

 

Zu Hans F. Geyers »Physiologie der Kultur«

 

 

Der jetzt siebzigjährige Hans F. Geyer ist ein Aussenseiter der Philosophie. Er schloss ein reguläres Philosophiestudium mit dem Doktortitel ab, war dann aber zwei Jahrzehnte lang in der Industrie tätig. In einem weiteren Jahrzehnt, das er als Privatgelehrter in der Nähe von Zürich verbrachte, schuf er ein sechsbändiges Philosophisches Tagebuch (1). Walter Robert Corti, Ludwig Hohl, Ernst Jünger und andere Namhafte bezeugten ihren Respekt vor dieser Leistung. Vom geistreichen Aphoristiker ist Geyer mehr und mehr zum Systematiker geworden, der nun ein zusammenfassendes Werk unter dem Titel Physiologie der Kultur (2) vorlegt.

 

Die Lehren des Tagebuchs verfeinernd und ergänzend, entwickelt er hier seine Philosophie der »Dreieinheit von Körper, Seele und Geist als Ganzes, das mehr ist als die Summe seiner Teile«. Mittels einer Wesensschau des »ideellen Körpers«, der Sein und Bewusstsein zugleich ist, sucht er sowohl den Idealismus wie den Materialismus hinter sich zu lassen.

In vielen Abwandlungen umschreibt er die Bindung des bewussten Ich an die unbewusste Natur und die regelkreisartige Beziehung zwischen dieser und der Kultur. Entgegen der Annahme Freuds, dass ein Über-Ich allen Trieb negiere, versteht er den Geist selber als einen elementaren Trieb. Mythos und Logos - beide als Äusserungen des dreieinigen Leibes aufgefasst - entfalten sich in unaufhörlicher Wechselwirkung. Dem Mythos, als der »Quintessenz der inneren Erfahrung«, ist ein weites Spielfeld eingeräumt:

»Der Mensch nimmt wahr, dass etwas da ist, und - siehe da - er will, dass etwas da sei. So schafft er sich die Welt noch einmal, jenseits der theoretischen Annahme ihrer Existenz, durch die Leidenschaft seines mythischen Willens.«

Geyer weiss sich jedoch dem kritischen neuzeitlichen Logos hinlänglich verpflichtet, um die geschichtlichen Religionen sacht beiseite zu schieben; der Mythos wird nur noch als »pragmatischer«, als unendlicher »Lernprozess« fortleben.

 

Auf Grund seines Begriffes der Leiblichkeit kann der Verfasser sagen, der Körper sei Geist, der Geist Körper. Entsprechend konstatiert er die Untrennbarkeit von sensuellem und abstraktivem Reiz, Willen und Erkenntnis, Mythos und Logos. Ein hiernach folgerichtiges Paradox ist die Lösung des Freiheitsproblems: frei sei der Mensch »nicht durch die Freiheit von sich selbst, von seinem Denken, seinem Handeln, frei nicht durch den Abstand der Selbstreflexion von sich selbst, frei nicht durch den Abstand der Reflexion von seinem Denken und Handeln, sondern frei durch die Identität mit sich selbst, seinem Denken und Handeln, frei durch die Rückkehr des Geistes in seiner Natur zur Natur seines Geistes, frei durch Notwendigkeit«.

 

Die Sprache versteht Geyer als Einverleiblichung der Aussenwelt, als körperlich-semantische Funktion. Der mit Bedeutung geladene »semantische Strahl« bewegt sich zwischen sprechendem Organismus und sprachlich benannter und erkannter (»organismischer«) Umwelt hin und her. Durch Ausstrahlung und Rückstrahlung der Sprache werden sowohl Körper wie Umwelt verändert. Die Einverleiblichung neuer abstraktiver Reize, lehrt Geyer, sei für die Menschheit »ähnlich wichtig wie ihre Ernährung schlechthin«.

In subtilen Gedankengängen beschreibt er die Verwandlung abstraktiver Reize der Aussenwelt in abstraktive Empfindungen der Innenwelt und die weitere, über transzendentale Vorgänge führende Umwandlung des Empfangenen in kulturelle Schöpfung, die für den Mitmenschen zu einem neuen abstraktiven Reiz wird: »Es ist der ‚kybernetische Kreis’ der Genesis kultureller Werte, an dem die Naturgeschichte wie die Geschichtsnatur des Menschen teilhaben, sein Geist wie sein Körper, also sein ideeller Körper.« Kultur bedeutet Kampf des ideellen gegen den organischen Körper, was aber - contra Freud - als ein Prozess innerhalb der »Hierarchie des Leibes« aufzufassen ist.

 

In einem Epilog würdigt der Verfasser einige Denker, die in der Richtung seiner Philosophie Vorarbeit geleistet haben: Helmuth Plessner, Arnold Gehlen, Adolf Portmann, Hugo Fischer, Hermann Schmitz, Hans Hass und besonders Alfred North Whitehead, dessen Empfindungslehre der seinigen nahekommt. Im übrigen ist sein Buch, wie schon die vorausgegangenen Publikationen, eine Kriegserklärung an die »zweieinhalbtausendjährige Tradition der körperlosen Philosophie des Abendlandes«.

 

Was ist von den Chancen dieses Feldzugs zu halten? Als Kritiker einseitiger idealistischer und materialistischer Doktrinen hat Geyer wohl recht, und mit der Betonung der unauflöslichen Verflochtenheit von Natur und Geist mag er allerhand menschlicher Hybris vorbeugen. Eher zweifelhaft ist, ob sich aus seiner Lehre wesentliche neue Einsichten in den einzelnen Natur- und Geisteswissenschaften ergeben. Wenn er bemerkt, die tiefsten Gesetze der Materie seien unbekannt, so ist damit wohl auch eingestanden, dass die Entwicklung des Geistes aus der Materie ein nach wie vor ungelöstes Welträtsel ist. Der Geisteswissenschaftler wird zwar die von Geyer festgestellte besondere physiologische Beschaffenheit eines jeden Menschen nicht leugnen, aus ihr jedoch schwerlich neue Gesichtspunkte etwa für die Deutung von Gedichten gewinnen können. Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft werden vermutlich weiterhin auf grundverschiedene Methoden angewiesen sein.

 

Neben der scharfsinnigen Erörterung der Wechselwirkung von Körper und Geist kommen die Fragen von Wert und Sinn in Geyers Buch zu kurz. Indem er die Vernunft aus dem leiblichen Substrat hervorgehen lässt, gelten ihm auch die Ideen des Wahren, Guten und Schönen als Erzeugnisse der physiologischen »Geschichtsnatur« des Menschen; sie sind bei jedem einzelnen mit dessen individuellen Merkmalen behaftet. Müsste dann, so ist zu fragen, nicht jeder Wahn, zum Beispiel Hitlers Rassenwahn, als physiologische Notwendigkeit vernünftig genannt werden? Die Nähe zu Hegels fragwürdiger Gleichsetzung des Wirklichen mit dem Vernünftigen ist nicht zu verkennen.

 

Problematisch ist auch Geyers Dialektik von Mythos und Logos. Ungeachtet der im geschichtlichen Prozess zunehmenden Bedeutung des Logos lehrt er die unbeschränkte Fortdauer des Mythos als der religiös empfundenen »Idee« des Wirklichen. Die Utopie verwirft er jedoch als ein den Mythos tötendes falsches Streben nach Endgültigkeit und erklärt den »Kampf des Mythos gegen Natur und Geschichte« für unendlich. Mythisches Erleben und Denken meint indessen Erfüllung. Er stirbt nicht so sehr infolge von Utopismus als dadurch, dass die Erfüllung als unerreichbar erkannt wird.

Theoretisch verspricht Geyer dem Mythos - einem dogmenfreien, »pragmatischen« - unbegrenzte Zukunft, praktisch verweist er ihn in die Vergangenheit. Dieser Eindruck wird verstärkt durch das, was er im Anschluss an Whiteheads »hybrides physisches Empfinden von Gott« über die menschlichen »Vollkommenheitsgefühle« ausführt. Durch solche ist, wie er wohl weiss, die Existenz Gottes nicht bewiesen. Vorsichtig spricht er von einer kulturphysiologisch zu verstehenden »Verbalstruktur des Göttlichen«. Da er aber die Gottesfrage offenlässt, scheint er die Möglichkeit eines körperlosen Geistes mindestens nicht auszuschliessen. Ist der monistische Ansatz seiner Philosophie dadurch nicht in Frage gestellt?

 

Alles in allem mangelt es dem System nicht an Konsequenz. Es ist etwas Neues, das zur Kenntnis genommen und diskutiert werden sollte. Selbst wenn sich Hans F. Geyers philosophischer Brückenschlag zwischen Natur- und Geisteswissenschaft für die einzelwissenschaftliche Forschung als unergiebig erwiese, wäre die Physiologie der Kultur ein imponierendes Gedankenkunstwerk. Helmuth Plessner freilich hat die Einschätzung der Philosophie als Kunst abgelehnt, da der Philosoph im Unterschied zum Künstler durch rationale Argumente echte Erkenntnis vermitteln wolle (3). Nach Geyers eigener Lehre hingegen wäre die Annahme einer derartigen Entsprechung nicht so abwegig, billigt er doch, wie bereits erwähnt, jedem Kopf seine besondere, »leibgerechte« Vernunft zu. Dem Wettbewerb der Künstler ähnelt derjenige der vielen tausend Philosophen in Vergangenheit und Gegenwart offenbar auch darin, dass aus ihm noch keiner als unbestrittener Sieger, als Schöpfer einer allgemein anerkannten »Philosophia perennis« hervorgegangen ist.

Hans F. Geyer gehört zu den sendungsbewussten Denkernaturen, die sich durch die höchst vertrackte Wettbewerbssituation von der Teilnahme am Spiel nicht abschrecken lassen.

 

 

1) Hans F. Geyer, Philosophisches Tagebuch. Sechs Bände. Verlag Rombach, Freiburg im Breisgau 1969-1974.

2) Hans F. Geyer, Physiologie der Kultur. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1985.

3) Helmuth Plessner, Gibt es einen Fortschritt in der Philosophie? (In Band IX der Gesammelten Schriften, 172f. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1985.)

 

 

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