Hans F. Geyer - ein unbekannter Schweizer Philosoph: Zitate Ausschnitte aus seinem Werk (1962-1985)
Eine kleine Zitatenlese aus: Werke Band III

Hans F. Geyer – Ein unbekannter Schweizer Philosoph

 

Ausschnitte aus seinem Werk

(1962-1985)

 

Die Philosophie hat bisher getrennt, was im Menschen nicht getrennt ist und nicht getrennt werden kann; die Sinnlichkeit auf der einen, die Abstraktion auf der anderen Seite. Mit dieser Trennung wird der Mensch unmenschlich. Wie gespalten durch das Schwert der Philosophie fällt er in zwei Hälften auseinander: der empfindende Mensch, der denkende Mensch. und so entsteht ein unmenschlicher Mensch (oder deren zwei).

 

 

In der Philosophie bin ich gar nicht Philosoph: ich liebe und hasse. Meine Gedanken, obwohl miteinander in einem logischen oder logisch herstellbaren Zusammenhang stehend, steigen doch auf aus dem Körper, aus meinem Körper, der sich in variabler "epischer Bewegung" befindet, aus immer wieder neuen Tiefen des Gemüts, verstanden als Leib-Seele-Geist Einheit, aus immer wieder andern Tiefen des "roten Meers" meines Blutes. Wer Bewegung sagt, sagt auch Ablauf, sagt Zeit, sagt Ziel, die Bewegung ist also einer Disziplin der beschränkten Zeit unterworfen, in der sie ablaufen muss, oder auch die Zeit ist der Disziplin der Bewegung unterworfen, die sie mit sich fortreisst.

 

 

Die Verzweiflung des Lebens vor dem Geiste, des Geistes vor dem Leben hat ihren Grund sowohl in einem starren Festhalten an diesem Gegensatz wie in seiner Aufhebung, d. h, der Vorstellung einer trügerischen Harmonie. Es gibt da nur eine Lösung: Aushalten des Gegensatzes, konkret gesprochen Leiden.

Also nicht sich vom Geiste abwenden, weil man glaubt, dass es jenseits des Geistes eine absolute Erfüllung geben könnte, aber auch nicht vom Leben, um in ein Nirvana des Geistes zu versinken. Sich von beiden Seiten verführen und verlocken lassen, immer in dieser leidvollen Mitte stehend. Keine Abwertung des Geistes um der Ruhe des Leibes, keine Abwertung des Leibes, um der Ruhe des Geistes willen. Der eigentliche Sinn der Harmonie im Leben des Menschen ist der Verzicht auf ein volles Ausleben in jeder Richtung. Verzicht also in der Erfüllung selbst, Erfüllung im Verzicht selbst. Das lehrt uns wie kein anderes das Leben Goethe's. Der Mensch, der so lebt, wird immer wieder, wenn auch selten, Momente reiner Erfüllung kennenlernen, auf denen nicht der geringste Schatten liegt.

 

 

Wer weit genug in die Wüste geht, wird eine Oase finden und bald mehr als eine Oase.

 

 

Über die Impertinenz in der Geistesgeschichte. Seit der Geist überhaupt eine Geschichte hat, war er ebenso autoritätsgläubig wie Feind jeder Autorität, er war immer beschäftigt, zugleich seine Herrschaft aufzurichten und sie zu zerstören. Die ältesten kulturgeschichtlichen Beispiele liefern die religiösen Mythen, der Aufstand Luzifers gegen Gottvater war ein Aufstand des Geistes wider den Geist ... Es ist wohl kein Zufall, dass gerade die griechische Göttergeschichte so reich ist an Beispielen von Aufständen wider die nährende Allgewalt; das berühmteste ist dasjenige des Prometheus.

Passend, pertinent ist, was der Seite der erfolgreich aufgerichteten, meistens auch mit äusseren Machtmitteln gestützten Autorität des Geistes entspricht; Impertinent, nicht passend, ist die ewige Gegnerschaft einer Autorität, die nicht nur Geist hat, sondern im besondern Sinne geistreich ist, weil der Geist dann zu glänzen beginnt, wenn er mit Witz, Satire und Ironie die Widersprüche aufdecken kann. Auch die Autorität mag glänzen, mag geistreich sein, aber sie tut es im Widerspiel gegen sich selbst, gewissermassen in Verrat an der eigenen Sache; indem sie sich der Waffen des Gegners bedient, läuft sie Gefahr, schliesslich der erst nur äusserlich angenommenen Form zu erliegen und dadurch die Substanz zu verlieren, für die sie kämpft. Denn ihr eignet der Ernst, so wie der Gegenseite die leichte Laune und der Witz.

 

 

Befasst man sich insbesondere mit der europäischen Geistesgeschichte, so stösst man auf ein eigentliches Sendungsbewusstsein der Impertinenz, dieser Aufstände des Geistes wider den Geist, die tief in der religiösen Überlieferung wurzelnd, sich hindurchziehen als eine ganze Kette von Revolutionen durch die antike und die moderne Kultur. Eine stolze Reihe von Namen wäre zu nennen ... Warum ist sie nötig, diese Selbstzerstörung des Geistes, dieser glänzende Zerfall, dieses Sichverzehren in der eigenen Flamme? Was verdankt ihr der europäische Geist?

Betrachten wir einmal das Schicksal jener Völker, wo der Autorität des Geistes dieser wendige, gewandte, listenreiche Gegner fehlt, dessen Luftgestalt gegen jeglichen Zugriff gefeit scheint. Die Autorität des Geistes erstarrt dort in sich selbst ... Der ungebrochene Ernst hat die Eigenschaft, immer sakrosankter zu werden, jede Änderung bedeutet selbst schon eine Erschütterung, eine Infragestellung des Ernstes. Der Ernst kann schliesslich nur noch sich selbst wiederholen, alle seine Energie gilt der Behauptung seiner unveränderten und unveränderlichen Identität. Ein ganzes System von Sicherungen soll dafür sorgen, dass die Autorität gottgleich über dem Menschen throne, und wirklich kann die Kühnheit, dieser Autorität zu trotzen, nicht anders denn impertinent wirken, weil die durchgeführte Norm des Passenden derart erdrückend auf den im System eingegliederten Individuen lastet, dass das einzelne Individuum keine andere Wahl hat, als sich im Gefühl eines fast verbrecherischen Leichtsinns von der Autorität loszusagen.

Die grossen Rebellen also, waren Rebellen auch in ihrem eigenen Geiste, sich selbst hatten sie verdammt, bevor es überhaupt zum Bannfluch der Autorität kam, sie fuhren im schwefelgelben Lichte aus der Hölle hinauf zum thronenden Gotte, um ihn zu überwinden, um seine Stelle einzunehmen - um dann endlich selbst in der Ruhe des guten Gewissens ein Reich der vernünftigen Autorität aufzurichten. Die Radikalität der Impertinenz, so wie ihr schlechtes Gewissen, sind notwendig, und wer glaubt, sich und andere schonen und in der Lauwärme bleiben zu können, der flieht das wahre Schlachtfeld des Geistes.

 

 

Das Neue und das Alte in der Wiederholung. Was sich wiederholt, ist neu und alt zugleich, alt zugleich und neu, die eigentümliche Macht der Wiederholung beruht auf dieser Vereinigung des alten, von jeher Dagewesenen, mit dem, was die Zeit fordert, mit dem Unbekannten, ja, dem Drohenden, dem drohend Hereinragenden, das die Vergangenheit, die teure Überlieferung, bedroht. Eigentlich erhalten aber wird die Vergangenheit nicht in ihrer Geborgenheit, in ihrem Segen, sondern in ihrer Gefahr, in ihrem Fluch. Die Wiederholung bedeutet die Prüfung der Vergangenheit, von ihr wird weiterleben nur, was des Weiterlebens würdig ist, was an ihr ewig ist, was ihrem Quell der Ewigkeit entspringt ... Die Gegenwart wie die Zukunft der Geschichte im Rahmen der Wiederholung werden zur schöpferischen Wiederholung des geschichtlichen Sinns, und zwar so, dass keineswegs nur das Alte das Neue, sondern auch das Neue das Alte, keineswegs nur die Vergangenheit die Zukunft, sondern auch die Zukunft die Vergangenheit exemplifiziert.

 

 

Gewaltiger noch als die Dimension der Vergangenheit scheint die Dimension der Zukunft. Teilhard de Chardin hält es nicht für ausgeschlossen, dass die Menschheit ein Alter von ein bis zwei Millionen Jahren erreichen könnte. Es ist aber klar, dass gerade die höchsten Repräsentanten der Menschheit, ihre Religionsstifter und Philosophen, ihre millenären Propheten und Weisen kaum eine Vorstellung von der Grösse der Naturgeschichte des Menschen haben. Deshalb überschätzen sie ganz allgemein die kleine Spitze des Eisberges, die über das Wasser ragt, sie überschätzen die infime Periode der bewussten Erinnerung, sie überschätzen die Historie. Deshalb auch jagen sich in diesem engen Zeitraum die Mythen des Ursprungs, die Prophezeiungen der Endzeit. Dieses eigentlich hektische Denken und Fühlen entspricht allerdings auch einer kritischen Phase der Naturgeschichte der Menschheit, nämlich der Phase einer ungeheuren Beschleunigung der Entwicklung, die eine grosse Hoffnung, aber auch eine grosse Gefahr bedeutet ... Gelingt es der Menschheit, diese kritische Phase ihrer Entwicklung, die zugleich einer Agonie und einer Geburt zu vergleichen ist und vielleicht noch einige Jahrtausende dauern wird, hinter sich zu bringen, so steht zu erwarten, dass der Fluss der Entwicklung aus dieser Stromschnelle in ruhigere Gewässer übergehen wird. Die Menschheit wird dann erleben das EINTRETEN DER NATURHISTORIE IN DIE HISTORIE. Sie wird endlich das religiöse wie das philosophische, das mythische wie logische Gefühl entwickeln für die grossen Zeiträume, in denen sie gelebt hat und in denen sie leben wird. Es ist dann, wie wenn ein Schiff aus der Enge eines Binnenmeeres mit steil schlagenden, kleinen Wogen herauskäme in die Weite eines Weltmeeres, wo es eine mächtige Dünung trägt, die aus der Unendlichkeit kommt und in die Unendlichkeit geht ...

Die breite Dünung des Weltmeeres der Zeit.

 

 

Ich halte der Wiederholung sehr viel zu gute, und dem Ausserordentlichen wenig.

 

Aber gerade damit wird die Wiederholung zum Ausserordentlichen.

 

Das Ausserordentliche ist die Inzucht der Wiederholung, es schwächt die Wiederholung, es schwächt ihre unwiderstehliche allmähliche Originalität.

 

Das Ausserordentliche ist die Spitze der Wiederholung. Wie leicht bricht eine Spitze!

 

Die Offenbarung ist die abgebrochene Spitze der Religion.

 

 

Als Berufsmann, als Mitarbeiter in der Industrie, war ich anonym der Berufene, als Berufener anonym der Berufsmann. So habe ich meine Philosophie gelebt, im doppelten Sinn einer neu orientierten Existenzphilosophie, in Abkehr von und im Widerspruch mit der einseitig theoretisch definierten Existenzphilosophie unseres Jahrhunderts, in der Nähe der antiken Lebensphilosophen, die lebten, was sie lehrten.

 

 

Es gibt Arbeiterpriester, warum nicht auch Arbeiterphilosophen? Damit ist nicht eine theoretisch über die Arbeit reflektierende Sozioökonomie gemeint, sondern die Gedanken eines mitten in der Arbeit und in der Theorie stehenden Menschen.

 

 

Mitten im Gedränge eines Arbeitstages gelingt es mir hie und da, mich der Bewegung zu entziehen, die ihren Zweck ausser sich hat, um mich wie in ein kühlendes Bad in die Bewegung zu stürzen, die ihren Zweck in sich trägt. Heimlich, wie ein Dieb, schleiche ich mich in den Lagerkeller hinunter, dessen glatter Boden zwischen den Gestellen zu einem Walzer einlädt, und drehe mich im tollen Wirbel, dass der weisse Arbeitskittel nur so fliegt. Nach dieser Belehrung durch den Körper kommt mir plötzlich alles viel einfacher vor, ich sehe ein: die Arbeit, die ihren Zweck ausser sich zu haben scheint, ist doch auch Menschenwerk, getan und geleistet von Menschen für Menschen, letzten Endes des Menschen, der die Menschheit in sich trägt, für sich selbst.

Die Mühe der Arbeit, das Aussersichsein in der Arbeit, die Entfremdung in der Arbeit, in der der Mensch sich selbst nicht wieder erkennt, wird dadurch nicht aufgehoben, nicht aufgehoben wird der Fluch, der auf Adam und Eva nach der Austreibung aus dem Paradiese lastet, aber man sieht das Ende der Mühe, das Ende der Arbeit, man sieht jenen Punkt der arbeitsmässigen Entwicklung, wo der Zweck der Arbeit, der frei für sich selbst zu bestehen schien und dem Menschen als eine tyrannische Unmenschlichkeit entgegentrat, wieder zurückgenommen wird in ein System der Zwecke, in dem der Mensch sich selbst wiedererkennt, in dem der Mensch sich selbst wieder zu fassen kriegt, in die Hand bekommt, in dem er weiss, dass er für sich arbeitet, in dem er die Souveränität seines Ich wieder gewinnt, sei es durch den Genuss des Erarbeiteten, sei es durch freien Verzicht auf Güter, die er nicht erarbeiten will, um nicht Schaden zu nehmen an seiner Seele. Die Arbeit ist kein Vergnügen, die Arbeit ist kein Tanz, aber in der Tiefe ist der Tanz die Wahrheit der Arbeit.

 

 

Jesus Christus war weder Priester noch Hohepriester noch bestallter Theologe, er war berufstätiger Laie.

 

Der Mensch ist so sehr göttlich und selbst Gott, wie es gilt, dass Gott ewig ausser ihm und unerreichbar bleiben wird.

 

Zwei Arten möglicher Barbarei in der Religion: Gott in dem Menschen und Gott ausser dem Menschen festhalten.

 

Die Vermittlung zwischen dem Gott im Menschen und dem Gott ausser dem Menschen ist eigentlich lebendige Religion.

 

Eine alte untergehende Religion verteidigen, heisst, Gott ausser dem Menschen festhalten wollen.

 

Atheismus bedeutet, den Gott im Menschen festhalten zu wollen.

 

Wahre Frömmigkeit bedeutet, sich zugleich des Gottes in sich und des Gottes ausser sich bewusst zu sein.

 

Wir haben nicht die Wahl zwischen Religion und Nichtreligion, sondern nur zwischen barbarischer und echter Religion.

 

Bei jeder Religionsgründung tritt Gott neu in den Menschen ein, neu aus ihm heraus. Kult und religiöse Zeremonien dienen der Erinnerung und der Wiederholung dieses elementaren Vorgangs.

 

 

Gegenstand der Religionswissenschaft war noch nie die Religion als elementare Tatsache, als Lebensluft und -licht des Menschen, sondern Gegenstand dieser Wissenschaft waren nur sehr späte, sehr abgeleitete, vor allem bereits historisch gewordene Formen der Religion. Das zugrundeliegende Faktum der elementaren Religiosität des Menschen, der eigentliche Urgrund und Ungrund aller historischen Religionen, die abgeleitete und vergängliche Gebilde von geringerer Eigenkraft sind, wurde übersehen. Dieser Urgrund und Ungrund aller geschichtlichen Religionen hat kein Dogma, hat keinen Mythos, hat keinen Gott, er steht zugleich jenseits und diesseits der Geschichte ... Er ist die Substanz der fliessenden Religionsgeschichte ... Andererseits stellt eine ausgebildete historische Religion eine Notwendigkeit für die Gemeinschaft der Menschen dar. Diese aber hinwiederum zieht ihre Kraft aus der in jedem Menschen wirkenden elementaren Religion.

 

 

Vom Ursprung der Religionen handeln im wesentlichen zwei gleich unfruchtbare Theorien, die dogmatische und die aufklärerische. Die dogmatische Theorie nimmt einen einmaligen historischen Ursprung durch Offenbarung an - die Spätern sollen in allem von dieser "religiösen Hochzeit" zehren. Die aufklärerische Theorie lehrt, dass der Mensch Gott nach seinem Bilde geschaffen habe ... Weder die eine noch die andere Theorie wird dem Phänomen der religiösen Setzung gerecht. In der religiösen Setzung geht der Mensch über sich hinaus, er transzendiert seine Menschlichkeit, er wird sich selbst unähnlich, aber nicht so, dass er seine Menschlichkeit gänzlich unter sich zurückliesse, vielmehr ist sie aufgehoben in der Göttlichkeit: der Mensch erkennt sich in Gott, der Gott im Menschen, ohne dass der eine im andern sich verlöre. Die dogmatische Theorie hält einseitig nur das Moment der Göttlichkeit fest, die aufklärerische nur das Moment der Menschlichkeit ... Jene erledigt die Geschichte, indem sie die Offenbarung in dem einen und nur einen Punkt der Zeitgeraden begreift (etwa im Jahre eins), diese sieht in der Religion nur eine vorübergehende Entwicklungsstufe der Menschheit, über die hinangeschritten werden müsse ..., nämlich jene Entwicklungsstufe, da der Mensch noch an den Karneval der göttlichen Masken glaubte, der Masken, worunter sich doch immer wieder nur das eine und selbe sehnsüchtige Antlitz des menschlichen Individuums verberge. Dem gegenüber behaupten wir die Kontinuität der religiösen Offenbarung ... Kein Mensch ist von ihr ausgeschlossen. So wie die Offenbarung im Raume bei allen Menschen und allen Völkern wirksam wird, so wirkt sie auch in der Zeit ... Die religiöse Offenbarung im "Jahre eins" erweitert sich damit zu einem geschichtlichen Prozess. Sie verliert dadurch weder ihre Heiligkeit noch ihre Transzendenz ... Denn die ewige Wahrheit der Religion kann einen adäquaten Ausdruck erhalten nur in der Zeit.

 

 

Dass die Innenwelt eine Innenwelt der Aussenwelt, die Aussenwelt eine Aussenwelt der Innenwelt ist, ist der neurophysiologische Ausdruck für die Interdependenz des Innen und des Aussen, der Ausdruck dafür, dass das Aussen, energetisch gesprochen, eine neurophysiologische Setzung des Innen ist, das Innen im gleichen Sinne eine Setzung des Aussen, und zwar im Zusammenhang des Geflechts der Reiz-Empfindungs-Komplexe und der Schwellen- und Entscheidungsstrukturen der neuralen Wirksphäre. Was uns immer wieder, wie ein Wunder beim Erwachen neu entsteht, ist gerade die Manifestation dieser verborgenen, uns verborgenen Dynamik. "Setzen" bedeutet aber keineswegs Setzen ohne Relation. Es ist nicht das "freie Setzen" im körperlosen Raum des Fichteschen Idealismus gemeint. Es ist auch nicht die "Vernunft" dieser Art von Setzen gemeint, sondern vielmehr die neurophysiologische Vernunft relationalen Setzens, wie sie sich aus der Kritik der neurophysiologischen Vernunft ergibt. Der "physiologische Webstuhl" des Gehirns wurde entdeckt (beispielsweise die Synopsis der punktuellen optischen Reize), noch nicht aber der "kulturphysiologische Webstuhl", weil geisteswissenschaftliche Data einbezogen werden müssten.

 

 

Die Dinge im Raume berühren sich so, dass sie sich gegenseitig ausschliessen; die Dinge des Geistes so, das sie sich gegenseitig einschliessen.

 

 

Innenwelt, Aussenwelt: Umwelt. Es geht ein Gespenst durch die Welt. Es ist die Furcht des Menschen vor seiner eigenen wissenschaftlichen, technischen und wissenschaftlich-technischen Aktivität, die seine Umwelt stört, ja zu zerstören droht ... Wäre das Gespenst, das durch die Welt geht, das eigene Gespenst des Menschen, das er als solches nur nicht erkennt? In der Tat: die Aussenwelt hängt von der Innenwelt ab und umgekehrt. Sie beide aber entlassen aus sich die Umwelt. Die Umwelt ist die gestaltete Aussenwelt. Sie könnte ein Garten sein; Garten, auf persisch: Paradies ...

... Ohne sehr handfeste materielle und utilitäre Interessen wäre es nicht zur weltweiten Forderung des Umweltschutzes gekommen. Die blosse Naturfreundlichkeit hätte nicht genügt. Aber eben aus jenen Interessen wurde die Umwelt verschandelt, geschändet und zerstört ...

... Um eine Übersicht zu gewinnen, müssen wir sicherlich nicht bis zu Adam und Eva zurückkehren, aber vielleicht doch bis ins Mittelalter, genauer: zu dem in die Neuzeit hineinwirkenden Mittelalter. Was der Mensch seiner Umwelt antut, tut er vielleicht zuerst seinem eigenen Leibe an. Der Supranaturalismus des Mittelalters war der Naturfreundlichkeit nicht günstig, zuerst und zunächst der eigenen Natur des Menschen, seiner innern Natur, seinem Leibe ...

... die Askese konnte zu Verwüstungen des Leibes führen. Es war eine Gewalttätigkeit, die als heilig empfunden wurde (man erinnert sich etwa an die Geissler-Umzüge). Der Supranaturalismus des Mittelalters verschwand in der Neuzeit. Luther kämpfte gegen die "Werkheiligkeit" sowohl der klösterlichen Askese wie der klösterlichen Kontemplation. Was geschah nun? Der Supranaturalismus wurde säkularisiert, seine eigentliche "Weltlosigkeit" übertrug sich auf die Welt. Der "Leib der Welt" tritt an die Stelle des an sich verachteten, nur als Mittel gedachten menschlichen Leibes. Die gestörte Symbiose des Menschen mit seinem Leibe wurde zur gestörten Symbiose des Menschen mit seiner Welt. Die Aussenwelt als Umwelt wurde zum Mittel des Menschen, zum Objekt seiner Leistungsaskese. So begann die Ausbeutung der Natur, zu der das Mittelalter weder die materielle Macht noch die metaphysische Richtung besass. Was in der Aussenwelt möglich ist, muss zuerst in der Innenwelt vorbereitet sein. So wird die Innenwelt des Menschen zum Schicksal seiner Aussenwelt, zum Schicksal der Umwelt.

 

 

Was Not tut, ist eine prinzipielle Umkehr. Der Umweltschutz aus rein materiell-utilitären Gründen genügt deshalb nicht, weil ein solcher Schutz immer zu spät kommt. Er hinkt hintendrein - hinter der Katastrophe. Der Weg geht von der Innenwelt über die Aussenwelt zur Umwelt.

 

 

Der Begriff der "Vernunft" als Herrschaftsinstrument des männlichen Diskurses

 

Die Vernunft hat ein Geschlecht. Wenn wir Hirnereignisse und Denkereignisse, Empfindungs- und Gefühlsereignisse, seien diese nun sensueller oder abstraktiver Art, auf der Basis der neuralen Wirksphäre sehen und beurteilen, so können wir nicht an der Tatsache vorbeigehen, dass es einen weiblichen und einen männlichen Körper, ein weibliches und ein männliches Gehirn gibt. Das Gehirn hat ein Geschlecht, die Vernunft hat ein Geschlecht, was bedeutet, dass sowohl Empfindungen wie Gefühle und die darauf gründenden abstraktiven Empfindungen und Gefühle von Frau und Mann je anderer Art sind ...

... Wie konnte diese ganz elementare Tatsache und ihre religiöse, philosophische und wissenschaftliche Theorie bisher dem geistigen Auge des Menschen verborgen bleiben? Der Grund dafür liegt nahe genug: Es ist die Monopolisierung der "Vernunft" durch den Mann. Es konnte also nur eine Vernunft geben, welche? Die klassische Vernunft ...

... Die Unterscheidung von weiblicher und männlicher Vernunft ist nicht sexistisch zu verstehen. Ausgangspunkt von psychischen Leistungen ist immer der Körper. Wer psychische Leistungen, auch diejenigen der Ratio, zu erklären versucht und vom Körper abstrahiert, der steht nicht mehr auf dem Boden der Realität. Der Weg zu dem, was wir als Vernunft ohne Anführungszeichen verstehen müssen, führt also über den weiblichen und männlichen Körper, über das weibliche und männliche Gehirn.

 

            Der Geisttrieb

 

Der Geist des Menschen aber ist ein Trieb, ein elementarer, wie der Geschlechtstrieb. Seine Energie ist originär, sie wird keineswegs durch »Sublimierung« aus dem Geschlechtstrieb gewonnen.

 

Durch die Einwirkung des Geisttriebs sind die tierischen Grundtriebe im menschlichen Bereich einerseits schwächer, andrerseits aber auch gefährlicher geworden. Es fehlt ihnen, als solchen, das tierische Mass. Der Geisttrieb hat sie mit seiner Unendlichkeit des Strebens »infiziert«.

 

Der Geisttrieb hat sein eigenes Erlebnis der Lust, genauso wie die Grundtriebe.

 

... im Sexualtrieb ... vermählen sich der Grundtrieb des Tierleibs und der Geisttrieb des Kulturleibs derart, dass sie nicht mehr voneinander zu trennen sind ... das Bedürfnis erhebt sich zur Phantasie. Die Phantasie ihrerseits verwandelt das Bedürfnis.

 

Die idealistische Vorstellung vom Geist als »rein«, »ohne alles Interesse«, gleichsam »vom Himmel gefallenes Wesen« führte auch bei Marx und Freud zu alternativen Schubkrafttheorien des Geistes: Ökonomie, Sexualität.

 

Die Revolutionen des Wissens sind „Vitalstösse“ der Leiblichkeit. Ein solcher millenarer Vitalstoss war die Abkehr Galileis vom leiblichen Innen des Mittelalters und seine Hinwendung zum leiblichen Aussen der neuzeitlich verstandenen Natur.

 

Die leibliche Innenwelt könnte man als eine »Brandung« sehen, die sich in die Welt ergiesst, die noch nicht »organisierte«, noch nicht energetisch und abstraktiv durchsetzte Aussenwelt dagegen als den »Felsen«, an und gegen welchen die Brandung „hochschlägt“.

 

Es gibt nicht nur eine »Kraft« des Urteils, die dessen Wahrheit, sondern auch eine »Kraft« des Urteils, die dessen Energie betrifft, eben deren Psychomotorik ... Insofern bilden Herkunft (Energie) und Ziel (Wahrheit) des Urteils ein Ganzes, ein vom Ursprung her »gerichtetes«, vom Ziel her »ausgerichtetes« Ganzes. Zielstrebig ist bereits jede Energie, aber ihre Zielsicherheit muss sie erst noch erlangen.

 

 

Denken, Reden und Verstehen sind nicht nur formal-logische, es sind transzendental-natürliche Vorgänge.

 

Ausgewählt und zusammengestellt von Rolf Looser

 

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