Hans F. Geyer
Eine kleine Zitatenlese
Aus Werke Band III
Um den Appetit auf die
Lektüre des originalen Spätwerks von Hans F. Geyer anzuregen, wird eine kleine
Sammlung sorgfältig ausgewählter, thematisch jedoch nicht geordneter Zitate aus
den drei Büchern geboten. Es handelt sich dabei um Kostproben unterschiedlichen
Geschmacks: eindrückliche Metaphern etwa, dialektische Kabinettstücke,
besonders originelle Formulierungen, treffsichere Beobachtungen und zum
Nachdenken anregende Gedankensplitter.
Diese „Lektüre für Minuten“
kann die eigene, persönliche Auseinandersetzung mit dem Werk nicht ersetzen,
bestenfalls stimulieren. Die Zitate werden nicht kommentiert, aber durch die in
Klammern angegebene Seitenzahl kann der interessierte Leser jederzeit den Kontext
nachschlagen, in dem das jeweilige Zitat steht.
Die nun folgende „Anthologie“
wird ihren Zweck erst erfüllt haben, wenn sie Lust macht auf das Entdecken der
Zusammenhänge.
Physiologie der Kultur
Der Geist des Menschen aber ist ein Trieb, ein elementarer,
wie der Geschlechtstrieb. Seine Energie ist originär, sie wird keineswegs durch
‚Sublimierung' aus dem Geschlechtstrieb gewonnen. (47)
Die ‚Weltoffenheit' des Menschen ist immer nur relativ,
nur eine Weiterentwicklung und Milderung der extremen Weltverschlossenheit der
ersten Organismen ... Der Mensch ist immer noch sehr viel mehr ein gebundenes,
ein ‚religiöses' als ein weltoffenes Wesen. (78)
Die Sprache ist die zweite Geburt, die Geburt des zweiten
Genoms, der menschlichen Kultur ... sie ist die physisch-geistig-seelische
Projektion des Leibes. (123)
Das Essen kann man als eine Art Einverleibung von
Ausserleiblichem, eben der Nahrungsmittel, begreifen. Die Sprache ist nicht
Einverleibung, wohl aber Einverleiblichung der Aussenwelt. (124)
Der Mensch wird zweimal
geboren, organisch und organismisch, körperlich und geistig; durch seine
Naturgeschichte und seine Geschichtsnatur. (134)
Die Revolutionen des Wissens sind ‚Vitalstösse' der
Leiblichkeit. Ein solcher millenarer Vitalstoss war die Abkehr Galileis vom
leiblichen Innen des Mittelalters und seine Hinwendung zum leiblichen Aussen
der Neuzeit. (149)
Der Organismus ist immer leidend, vor allem auch in
seiner Aktivität ... Die ‚freie Gebundenheit', die aktive Passivität beginnt
mit der ‚Auswahl' der Reize (224) ... Die relative Freiheit des Denkens hat
denn auch zu dem Irrtum geführt, dass das Denken von Reiz und Empfindung
unabhängig sei. (225)
Es ist die Welt
der Sprache und Begriffe, mit denen so geschaltet und gewaltet werden kann,
dass die Welt, als ‚Wiedergabe' der Welt, frei disponibel wird. Die Zeichen
stehen für die Welt, und sie schiessen zu einer ‚neuen Welt' zusammen. (225)
Kritik der neurophysiologischen Vernunft
Die idealistische Vorstellung vom Geist als ‚rein', ‚ohne
alles Interesse', gleichsam ‚vom Himmel gefallenes Wesen' führten auch bei Marx
und Freud zu alternativen Schubkrafttheorien des Geistes: Ökonomie, Sexualität.
(293)
Durch die Gastronomie wird der Hunger zum Appetit ... Der
Hunger, als Appetit, wird aktuell unendlich durch seine Qualität ... Die
weibliche Mode. Sie diversifiziert den Geschlechtstrieb, sie vergeistigt ihn.
Sie macht ihn witzig, amüsant, überraschend ... (301)
Der Geisttrieb geniesst eine elementare Befriedigung,
wenn er sein Reich der Ordnung und des Sinns gründen und gegen den Ansturm der
undifferenzierten Grundtriebe behaupten kann. (305)
Durch die Einwirkung des Geisttriebs sind die tierischen
Grundtriebe im menschlichen Bereich einerseits schwächer, andrerseits aber auch
gefährlicher geworden. Es fehlt ihnen, als solchen, das tierische Mass. Der
Geisttrieb hat sie mit seiner Unendlichkeit des Strebens ‚infiziert'. (306)
Der Geisttrieb hat sein eigenes Erlebnis der Lust,
genauso wie die Grundtriebe. (321)
Das Tier verhält sich eben ‚tierlich', nicht ‚tierisch'.
(359)
Der handelnde Mensch verhält sich in der Geschichte wie
ein ‚Künstler', der der Inspiration bedarf, um in die Klaviatur des
theoretischen Wissens zu greifen. Deduktion erweist sich als undurchführbar,
das ‚Spiel' von Intuition und Inspiration leistet den Dienst. (378/9)
Die Praxis ist der ‚Zahn der Zeit', an dem die Theorie
nagt. Der Mensch beginnt theoretisch mit einer ‚Sicht der Praxis', er endet
praktisch mit einer veränderten ‚Sicht der Theorie'. (411)
Es ist nun einmal so, dass die Welt nicht ‚von selbst'
erscheint. Die Erscheinung der Welt ist eine ‚Tat', eine Tat der vereinigten
Innen- und Aussenwelt des Leibes, eine Tat allerdings, die untrennbar ist von
ihrem ‚Leiden', denn sie ist immer zugleich aktiv-passiv, passiv-aktiv. (425)
Der materialistische Fehlschluss muss abgewehrt werden:
die Aussenwelt der Innenwelt ist kein ‚Abbild' der Welt, ebenso aber auch der
idealistische: die Aussenwelt der Innenwelt ist keine ‚Kreation' des Subjekts.
(444)
Die Abstraktionen sind einerseits ‚welthaltig',
andererseits sind sie selektiv ... Dass dieses Etwas ist, drückt den
Weltgehalt der Aussage aus, dass dieses Etwas, aber den
selektiv-abstraktiven Gehalt. Das ‚Beziehungsgeflecht' der Abstraktionen könnte
man so sehen: Die eine Seite zielt auf die Welt, die andere auf den
abstrahierenden Organismus des ideellen menschlichen Körpers. (445)
Der Mensch setzt zwar seine Welt, die Ordnung seiner
Welt. Aber die sensuelle Gegebenheit der Welt ist stets Grundlage dieser
Setzung ... das Setzen ist ja nicht einfach schöpferisch. Es ist nicht nur
aktiv, es ist aktiv-passiv ... und passiv-aktiv... (451)
Das Organismische (das ganze Kulturerbe, PAB), erhält und
‚verewigt' in seinen Denk- und Tatmalen den historisch bedeutsamen Hauch
(Pneuma) des Organischen und Organologischen, das einst war ...ist gleichsam
‚gefrorene Musik'. (462)
Die leibliche Innenwelt könnte man als eine ‚Brandung'
sehen, die sich in die Welt ergiesst, die noch nicht ‚organisierte', noch nicht
energetisch und aktiv durchsetzte Aussenwelt dagegen als den ‚Felsen', an und
gegen welchen die Brandung ‚hochschlägt'. (477)
...im Sexualtrieb ... vermählen sich der Grundtrieb des
Tierleibs und der Geisttrieb des Kulturleibs derart, dass sie nicht mehr
voneinander zu trennen sind ... (490) ... das Bedürfnis erhebt sich zur
Phantasie. Die Phantasie ihrerseits verwandelt das Bedürfnis. (493)
Was beim Schimpansen (vgl. Köhlers berühmtes
Banane-Kiste-und-Stab-Experiment, PAB) nur ein Einfall war, gebunden an
günstige äussere Umstände, wird beim Menschen zu einer ‚Welt für sich', die der
anderen ‚Welt für sich', der Aussenwelt, souverän entgegentritt, und sie ...
organisiert, revolutioniert und - leider - vielleicht auch zerstört. (498)
Sehr viele kulturphysiologische Fertigkeiten beruhen auf
der Entwicklung von Automatismen. Es ist dann, als wäre das
kulturphysiologische Element zur physiologischen Basis zurückgekehrt. Aber auf
dem Weg über die ‚Kunst' ...
So sucht ‚Kunst' nach ‚Natur', ‚Natur' nach ‚Kunst', das
kulturphysiologische Element nach dem physiologischen des Vollzugs, das
physiologische des Vollzugs nach der gültigen kulturphysiologischen Prägung.
(503)
Es ist aber nicht so, wie Schopenhauer meint, dass der
blinde Wille den lahmen Intellekt trägt. Vielmehr ist die triebgemässe Bestimmung
durchgängig, aber auch die erkenntnismässige ... Beide haben sie ‚Augen' und
‚Muskeln'. (529)
Sturz der klassischen Vernunft
Es wird nicht bewusst, dass das Denken ein Teil des
menschlichen Trieblebens ist, dass es eine grosse naturgeschichtliche Vergangenheit
hat. Das Cogito wird, wie bei Hegel, ‚absolut' gesetzt. Als ein Sprung aus dem
Dunkel. Es hat keine Vergangenheit ... Es hat keinen ‚Weg'..
Ganz allgemein gilt: Das Denken ist Sein, nicht Werden
... ein sich selbst genügendes Ganzes ... Das Denken wird nicht gesetzt, es
setzt sich selbst. Es ‚leidet' nicht, es ist reines Tun. Das hängt natürlich
mit der ‚Unkörperlichkeit' des Denkens zusammen ... Ein Denken als Form,
aber ein Denken ohne Inhalt. (568)
Der Körper selbst hat
‚ratiomorphe Gestalt' ... Der Organismus hat die Vernunft präformiert, sie ist
bloss die ‚Spitze des Eisbergs'. (583)
Jede Art von Organismus steht in einem Verhältnis des
‚Auswählens' zur Aussenwelt. Die Welt ist für ihn nicht einfach ‚Welt', sondern
diese Welt, seine Welt ... der Organismus ist auch nicht einfach
‚Organismus' ... jede organische Relation ... ist energetisch geladen, ist
zugleich Beziehung zur wie auch ‚Ausbruch' in die Welt ... (603/04)
Es liegt in der Richtung der
abendländischen Philosophie ..., dem Trieb die Einsicht abzusprechen. Jeder
Trieb hat aber seine je besondere Einsicht und die damit verbundene
‚Intelligenz', sei es nun der Dominanz nach eine bewusste oder unbewusste, eine
rationale oder ratiomorphe... (645)
Es gibt nicht nur eine ‚Kraft' des Urteils, die dessen Wahrheit,
sondern auch eine ‚Kraft' des Urteils, die dessen Energie betrifft, eben
deren Psychomotorik ... Insofern bilden Herkunft (Energie) und Ziel (Wahrheit)
des Urteils ein Ganzes, ein vom Ursprung her ‚gerichtetes', vom Ziel her ‚ausgerichtetes'
Ganzes. Zielstrebig ist bereits jede Energie, aber ihre Zielsicherheit muss sie
erst noch erlangen. (661/2)
... ohne Emotion keine ‚Information', da sie sonst
gleichgültig bleibt und folglich gar nicht aufgenommen wird ... (681)
Das Verschwinden der ‚Spektralfarben' in der ‚weissen
Farbe' des Urteils hat zu der Erkenntnistheorie der klassischen Vernunft
geführt, nach der das Urteil keine gerichtete Energie besitze, das Urteil als
‚adaequatio rei et intellectus' habe nur die Aufgabe, Urteilssubjekt und
Urteilsobjekt in die wahrheitsgerechte Verbindung zu bringen. (689)
Das Hirn ist nicht das ‚Ding an sich' des Bewusstseins,
dazu wissen wir zu viel über das Gehirn, das Bewusstsein ist nicht das ‚Ding an
sich' des Gehirns, dazu wissen wir zuviel über das Bewusstsein, aber beide
stehen im Lichte eines Wissens und zugleich eines Nichtwissens, das keine allzu
scharfen Konturen zulässt, sei es nun der materialistischen oder der
idealistischen Theorie. (753)
... es kommt ans Licht, dass der Naturwissenschafter und
der Mensch unserer Tage religiös dort entschieden hat, wo er vermeinte, rein
‚rational' zu handeln, im Sinne der naturwissenschaftlichen Vernunft ...
Der Mensch erwartet nun nicht mehr das Heil von der
Rettung seiner ‚Seele', nicht mehr von der Innenwelt seiner Aussenwelt,
sondern von der Organisation seiner Aussenwelt, der Aussenwelt seiner
Innenwelt. (769)
Denken, Reden und Verstehen sind nicht nur
formal-logische, es sind transzendental-natürliche Vorgänge. (818)
Auch noch in der scheinbar profansten Tätigkeit sucht der
Mensch sein Heil. So wie alles Seiende mit dem Sein, gehen alle Tätigkeiten
zusammen mit der Suche nach dem Heil ... der Mensch hat nicht nur
Religion, er ist sie. (822)
Es ist die fatale
Verwechslung des historischen Ursprungs der Religion mit ihrer Gültigkeit, die
dazu geführt hat, die Religion als das Absolute im Relativen zu
versteinern, anstatt sie zu sehen ... als das entwicklungsfähige Relative
im Absoluten. (822/3)
Zusammengestellt von Peter Andres Brügger,
Ende August 1996