Hans F. Geyer - ein unbekannter Schweizer Philosoph: Zitate Ausschnitte aus seinem Werk (1962-1985)
Eine kleine Zitatenlese aus: Werke Band III

Hans F. Geyer

 

Eine kleine Zitatenlese

Aus Werke Band III

 

Um den Appetit auf die Lektüre des originalen Spätwerks von Hans F. Geyer anzuregen, wird eine kleine Sammlung sorgfältig ausgewählter, thematisch jedoch nicht geordneter Zitate aus den drei Büchern geboten. Es handelt sich dabei um Kostproben unterschiedlichen Geschmacks: eindrückliche Metaphern etwa, dialektische Kabinettstücke, besonders originelle Formulierungen, treffsichere Beobachtungen und zum Nachdenken anregende Gedankensplitter.

Diese „Lektüre für Minuten“ kann die eigene, persönliche Auseinandersetzung mit dem Werk nicht ersetzen, bestenfalls stimulieren. Die Zitate werden nicht kommentiert, aber durch die in Klammern angegebene Seitenzahl kann der interessierte Leser jederzeit den Kontext nachschlagen, in dem das jeweilige Zitat steht.

Die nun folgende „Anthologie“ wird ihren Zweck erst erfüllt haben, wenn sie Lust macht auf das Entdecken der Zusammenhänge.

 

Physiologie der Kultur

 

Der Geist des Menschen aber ist ein Trieb, ein elementarer, wie der Geschlechtstrieb. Seine Energie ist originär, sie wird keineswegs durch ‚Sublimierung' aus dem Geschlechtstrieb gewonnen. (47)

 

Die ‚Weltoffenheit' des Menschen ist immer nur relativ, nur eine Weiterentwicklung und Milderung der extremen Weltverschlossenheit der ersten Organismen ... Der Mensch ist immer noch sehr viel mehr ein gebundenes, ein ‚religiöses' als ein weltoffenes Wesen. (78)

 

Die Sprache ist die zweite Geburt, die Geburt des zweiten Genoms, der menschlichen Kultur ... sie ist die physisch-geistig-seelische Projektion des Leibes. (123)

 

Das Essen kann man als eine Art Einverleibung von Ausserleiblichem, eben der Nahrungsmittel, begreifen. Die Sprache ist nicht Einverleibung, wohl aber Einverleiblichung der Aussenwelt. (124)

 

Der Mensch wird zweimal geboren, organisch und organismisch, körperlich und geistig; durch seine Naturgeschichte und seine Geschichtsnatur. (134)

 

Die Revolutionen des Wissens sind ‚Vitalstösse' der Leiblichkeit. Ein solcher millenarer Vitalstoss war die Abkehr Galileis vom leiblichen Innen des Mittelalters und seine Hinwendung zum leiblichen Aussen der Neuzeit. (149)

 

Der Organismus ist immer leidend, vor allem auch in seiner Aktivität ... Die ‚freie Gebundenheit', die aktive Passivität beginnt mit der ‚Auswahl' der Reize (224) ... Die relative Freiheit des Denkens hat denn auch zu dem Irrtum geführt, dass das Denken von Reiz und Empfindung unabhängig sei. (225)

 Es ist die Welt der Sprache und Begriffe, mit denen so geschaltet und gewaltet werden kann, dass die Welt, als ‚Wiedergabe' der Welt, frei disponibel wird. Die Zeichen stehen für die Welt, und sie schiessen zu einer ‚neuen Welt' zusammen. (225)

 

Kritik der neurophysiologischen Vernunft

 

Die idealistische Vorstellung vom Geist als ‚rein', ‚ohne alles Interesse', gleichsam ‚vom Himmel gefallenes Wesen' führten auch bei Marx und Freud zu alternativen Schubkrafttheorien des Geistes: Ökonomie, Sexualität. (293)

 

Durch die Gastronomie wird der Hunger zum Appetit ... Der Hunger, als Appetit, wird aktuell unendlich durch seine Qualität ... Die weibliche Mode. Sie diversifiziert den Geschlechtstrieb, sie vergeistigt ihn. Sie macht ihn witzig, amüsant, überraschend ... (301)

 

Der Geisttrieb geniesst eine elementare Befriedigung, wenn er sein Reich der Ordnung und des Sinns gründen und gegen den Ansturm der undifferenzierten Grundtriebe behaupten kann. (305)

 

Durch die Einwirkung des Geisttriebs sind die tierischen Grundtriebe im menschlichen Bereich einerseits schwächer, andrerseits aber auch gefährlicher geworden. Es fehlt ihnen, als solchen, das tierische Mass. Der Geisttrieb hat sie mit seiner Unendlichkeit des Strebens ‚infiziert'. (306)

 

Der Geisttrieb hat sein eigenes Erlebnis der Lust, genauso wie die Grundtriebe. (321)

 

Das Tier verhält sich eben ‚tierlich', nicht ‚tierisch'. (359)

 

Der handelnde Mensch verhält sich in der Geschichte wie ein ‚Künstler', der der Inspiration bedarf, um in die Klaviatur des theoretischen Wissens zu greifen. Deduktion erweist sich als undurchführbar, das ‚Spiel' von Intuition und Inspiration leistet den Dienst. (378/9)

 

Die Praxis ist der ‚Zahn der Zeit', an dem die Theorie nagt. Der Mensch beginnt theoretisch mit einer ‚Sicht der Praxis', er endet praktisch mit einer veränderten ‚Sicht der Theorie'. (411)

 

Es ist nun einmal so, dass die Welt nicht ‚von selbst' erscheint. Die Erscheinung der Welt ist eine ‚Tat', eine Tat der vereinigten Innen- und Aussenwelt des Leibes, eine Tat allerdings, die untrennbar ist von ihrem ‚Leiden', denn sie ist immer zugleich aktiv-passiv, passiv-aktiv. (425)

 

Der materialistische Fehlschluss muss abgewehrt werden: die Aussenwelt der Innenwelt ist kein ‚Abbild' der Welt, ebenso aber auch der idealistische: die Aussenwelt der Innenwelt ist keine ‚Kreation' des Subjekts. (444)

 

Die Abstraktionen sind einerseits ‚welthaltig', andererseits sind sie selektiv ... Dass dieses Etwas ist, drückt den Weltgehalt der Aussage aus, dass dieses Etwas, aber den selektiv-abstraktiven Gehalt. Das ‚Beziehungsgeflecht' der Abstraktionen könnte man so sehen: Die eine Seite zielt auf die Welt, die andere auf den abstrahierenden Organismus des ideellen menschlichen Körpers. (445)

 

Der Mensch setzt zwar seine Welt, die Ordnung seiner Welt. Aber die sensuelle Gegebenheit der Welt ist stets Grundlage dieser Setzung ... das Setzen ist ja nicht einfach schöpferisch. Es ist nicht nur aktiv, es ist aktiv-passiv ... und passiv-aktiv... (451)

 

Das Organismische (das ganze Kulturerbe, PAB), erhält und ‚verewigt' in seinen Denk- und Tatmalen den historisch bedeutsamen Hauch (Pneuma) des Organischen und Organologischen, das einst war ...ist gleichsam ‚gefrorene Musik'. (462)

 

Die leibliche Innenwelt könnte man als eine ‚Brandung' sehen, die sich in die Welt ergiesst, die noch nicht ‚organisierte', noch nicht energetisch und aktiv durchsetzte Aussenwelt dagegen als den ‚Felsen', an und gegen welchen die Brandung ‚hochschlägt'. (477)

 

...im Sexualtrieb ... vermählen sich der Grundtrieb des Tierleibs und der Geisttrieb des Kulturleibs derart, dass sie nicht mehr voneinander zu trennen sind ... (490) ... das Bedürfnis erhebt sich zur Phantasie. Die Phantasie ihrerseits verwandelt das Bedürfnis. (493)

 

Was beim Schimpansen (vgl. Köhlers berühmtes Banane-Kiste-und-Stab-Experiment, PAB) nur ein Einfall war, gebunden an günstige äussere Umstände, wird beim Menschen zu einer ‚Welt für sich', die der anderen ‚Welt für sich', der Aussenwelt, souverän entgegentritt, und sie ... organisiert, revolutioniert und - leider - vielleicht auch zerstört. (498)

 

Sehr viele kulturphysiologische Fertigkeiten beruhen auf der Entwicklung von Automatismen. Es ist dann, als wäre das kulturphysiologische Element zur physiologischen Basis zurückgekehrt. Aber auf dem Weg über die ‚Kunst' ...

So sucht ‚Kunst' nach ‚Natur', ‚Natur' nach ‚Kunst', das kulturphysiologische Element nach dem physiologischen des Vollzugs, das physiologische des Vollzugs nach der gültigen kulturphysiologischen Prägung. (503)

 

Es ist aber nicht so, wie Schopenhauer meint, dass der blinde Wille den lahmen Intellekt trägt. Vielmehr ist die triebgemässe Bestimmung durchgängig, aber auch die erkenntnismässige ... Beide haben sie ‚Augen' und ‚Muskeln'. (529)

 

Sturz der klassischen Vernunft

 

Es wird nicht bewusst, dass das Denken ein Teil des menschlichen Trieblebens ist, dass es eine grosse naturgeschichtliche Vergangenheit hat. Das Cogito wird, wie bei Hegel, ‚absolut' gesetzt. Als ein Sprung aus dem Dunkel. Es hat keine Vergangenheit ... Es hat keinen ‚Weg'..

Ganz allgemein gilt: Das Denken ist Sein, nicht Werden ... ein sich selbst genügendes Ganzes ... Das Denken wird nicht gesetzt, es setzt sich selbst. Es ‚leidet' nicht, es ist reines Tun. Das hängt natürlich mit der ‚Unkörperlichkeit' des Denkens zusammen ... Ein Denken als Form, aber ein Denken ohne Inhalt. (568)

 

Der Körper selbst hat ‚ratiomorphe Gestalt' ... Der Organismus hat die Vernunft präformiert, sie ist bloss die ‚Spitze des Eisbergs'. (583)

 

Jede Art von Organismus steht in einem Verhältnis des ‚Auswählens' zur Aussenwelt. Die Welt ist für ihn nicht einfach ‚Welt', sondern diese Welt, seine Welt ... der Organismus ist auch nicht einfach ‚Organismus' ... jede organische Relation ... ist energetisch geladen, ist zugleich Beziehung zur wie auch ‚Ausbruch' in die Welt ... (603/04)

 

Es liegt in der Richtung der abendländischen Philosophie ..., dem Trieb die Einsicht abzusprechen. Jeder Trieb hat aber seine je besondere Einsicht und die damit verbundene ‚Intelligenz', sei es nun der Dominanz nach eine bewusste oder unbewusste, eine rationale oder ratiomorphe... (645)

 

Es gibt nicht nur eine ‚Kraft' des Urteils, die dessen Wahrheit, sondern auch eine ‚Kraft' des Urteils, die dessen Energie betrifft, eben deren Psychomotorik ... Insofern bilden Herkunft (Energie) und Ziel (Wahrheit) des Urteils ein Ganzes, ein vom Ursprung her ‚gerichtetes', vom Ziel her ‚ausgerichtetes' Ganzes. Zielstrebig ist bereits jede Energie, aber ihre Zielsicherheit muss sie erst noch erlangen. (661/2)

 

... ohne Emotion keine ‚Information', da sie sonst gleichgültig bleibt und folglich gar nicht aufgenommen wird ... (681)

 

Das Verschwinden der ‚Spektralfarben' in der ‚weissen Farbe' des Urteils hat zu der Erkenntnistheorie der klassischen Vernunft geführt, nach der das Urteil keine gerichtete Energie besitze, das Urteil als ‚adaequatio rei et intellectus' habe nur die Aufgabe, Urteilssubjekt und Urteilsobjekt in die wahrheitsgerechte Verbindung zu bringen. (689)

 

Das Hirn ist nicht das ‚Ding an sich' des Bewusstseins, dazu wissen wir zu viel über das Gehirn, das Bewusstsein ist nicht das ‚Ding an sich' des Gehirns, dazu wissen wir zuviel über das Bewusstsein, aber beide stehen im Lichte eines Wissens und zugleich eines Nichtwissens, das keine allzu scharfen Konturen zulässt, sei es nun der materialistischen oder der idealistischen Theorie. (753)

 

... es kommt ans Licht, dass der Naturwissenschafter und der Mensch unserer Tage religiös dort entschieden hat, wo er vermeinte, rein ‚rational' zu handeln, im Sinne der naturwissenschaftlichen Vernunft ...

Der Mensch erwartet nun nicht mehr das Heil von der Rettung seiner ‚Seele', nicht mehr von der Innenwelt seiner Aussenwelt, sondern von der Organisation seiner Aussenwelt, der Aussenwelt seiner Innenwelt. (769)

 

Denken, Reden und Verstehen sind nicht nur formal-logische, es sind transzendental-natürliche Vorgänge. (818)

 

Auch noch in der scheinbar profansten Tätigkeit sucht der Mensch sein Heil. So wie alles Seiende mit dem Sein, gehen alle Tätigkeiten zusammen mit der Suche nach dem Heil ... der Mensch hat nicht nur Religion, er ist sie. (822)

Es ist die fatale Verwechslung des historischen Ursprungs der Religion mit ihrer Gültigkeit, die dazu geführt hat, die Religion als das Absolute im Relativen zu versteinern, anstatt sie zu sehen ... als das entwicklungsfähige Relative im Absoluten. (822/3)

 

Zusammengestellt von Peter Andres Brügger, Ende August 1996

 

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