Zum Tod des Philosophen Hans Rütter / Hans F. Geyer
Von Johannes Beringer, Tages-Anzeiger, 16. September 1987
Man könnte ihn einen praktizierenden Philosophen nennen - im
Unterschied zu jenen, die Philosophie als Wissenschaft oder Theorie betreiben
(und sich dabei selbst heraushalten).
Am 29. August ist er, der unter dem Namen Hans F. Geyer
schrieb, im 73. Lebensjahr stehend, tödlich verunglückt.
Was bedeutete solcherart Praxis, wie drückte sie sich aus?
Bei Hans F. Geyer ist man fast versucht, vom 'somatischen'
Ursprung seiner Philosophie zu reden: Sie ist ihm so nah wie der eigene Körper,
geht aus der „Sensation des Physischen“ hervor und nimmt sich so Selbst
in die Verantwortung. Immer wieder hat er leidenschaftlich darauf beharrt - sich
auf das in jedem Menschen (wenigstens dem jugendlichen) angelegte philosophische
Gespür berufend -, dass die Philosophie nicht etwas ‚Abgehobenes’ ist, sondern
aus dem Leben herauskommt und wieder in es eingehen muss. Einige mögen eine
solche Haltung naiv oder unwissenschaftlich gefunden haben (denn mit dem
Eintritt in die Akademie legt man die 'Unschuld' wohl ab). Dem möchte ich, mit
Hans F. Geyer, einen Satz von Vauvenargues entgegenhalten: "Eine aufgeklärte
Naivität ist ein Reiz, dem nichts gleicht." Und wenn man Hans F. Geyers
kenntnisreichen und staunenswerten Umgang mit Philosophie- und
Literaturgeschichte erlebt hat, wird man am Status seiner 'Aufgeklärtheit' nicht
zweifeln.
Hans F. Geyer kann - zusammen mit Ludwig Hohl - für sich in
Anspruch nehmen, die besonders in Frankreich gepflegte Tradition der prägnanten
Reflexion oder des Fragments - Maxime, Sentenz, Kurzessay - in der Schweiz
aufgenommen und weitergeführt zu haben. Seine erste Buchveröffentlichung, "Gedanken
eines philosophischen Lastträgers" (Zürich 1962), ist eine Sammlung (bzw.
Auswahl) von thematisch angeordneten Gedankensplittern „zur Phänomenologie
des 20. Jahrhunderts“. Ihr vorangestellt, quasi als Motto, sind diese
Zeilen: "Diogenes Laertius erzählt, dass unter den Philosophen Athens einer
gewesen sei, den sie den Lastträger nannten. Er hätte während des Tages Lasten
getragen, abends aber Philosophie getrieben."
Hans F. Geyer kann sich da auf die Zweiteilung seines eigenen
Alltags berufen: Er riskiert - bescheiden-unbescheiden - die verwegene, aber
auch schöne Vorstellung, an die anonyme Existenz dieses Philosophen
anzuschliessen, und wie dieser unter dem 'Volk' sein Tagwerk verrichten zu
wollen.
Das hiess dann also: zwei Leben zu führen und zwei Namen zu
tragen, wovon jeder, wie es in einem französisch geschriebenen Aphorismus von
Hans F. Geyer heisst, das „Anonym“ des anderen ist ("Double anonymat au
lieu du simple anonymat de M. Teste"). Es sollte also nicht der 'Name', der nur
das Publikum 'namenlos' macht, vor der Philosophie stehen, die Philosophie
sollte nicht nur dem Namen nach geschehen, sondern unmittel bar da sein - die
Bewährungsprobe mit dem Alltag aufnehmen. In dieser Notwendigkeit - und aus ihr
heraus - würde sie zugleich wirklich frei sein können.
Im Vorwort zum "Lastträger" heisst es: "Wenn ich
also zwischen Beruf und Berufung lebe, so will das nicht heissen, dass ich
"neben' meinem Beruf philosophieren würde, sondern es bedeutet vielmehr, dass
meine Philosophie sowohl den Beruf wie die Berufung begreift und umgreift, ja,
die Ausübung meines Berufs ist ein Teil meiner 'Lebensphilosophie', da sie eine
für die Entstehung der Philosophie wesentliche Gemütsstimmung schafft, nicht der
Qualität wohl aber der Funktion nach zu vergleichen der Apathie der alten
Stoiker oder der Ataraxie der antiken Skeptiker. Es geht mir um das
'Gedankenexperiment' meines Lebens, das bisher seinen Niederschlag gefunden hat
in dem ungefähr 1900 Druckseiten starken Manuskript meines 'Philosophischen
Tagebuchs'."
Diese Ausgangsposition blieb auch nach 1964, als Hans F.
Geyer sich vom Beruf zurückziehen musste und sich ausschliesslich seiner
Philosophie widmete, prägend: Immer war er stolz darauf, wie er sagte, den Weg
in die Industrie gewählt und auf eine universitär ausgerichtete Laufbahn
verzichtet zu haben. Für ihn war das Festhalten am 'Nährgrund' des Lebens so
bestimmend, dass es ihn fast mit Notwendigkeit in Gegensatz zur Schulphilosophie
und auch zu den Existenzphilosophen bringen musste.
Er hat diesen konsequent eingehaltenen Standort über den
grössten Teil seines philosophischen Lebens hinweg mit dem Abseits
bezahlt. Aber das heisst ja nicht, dass er keine Existenz gehabt hätte - und
vielleicht ist er gerade dadurch, dass er 'draussen' war (querlag zur Zeit),
wirklich 'drin' gewesen.
Es wäre also zunächst zu sprechen von dem, was Hans F. Geyer
hinterlassen hat: dem sechsbändigen „Philosophischen Tagebuch“
(erschienen 1969 bis 1974), dessen jeder einzelne Band auch für sich stehen kann
(„Von der Natur des Geistes", "Arbeit und Schöpfung", "Das
Kontinuum der Offenbarung", "Biologie der Logik", "Dialektik der
Nacktheit", "Gedanken des Leibes über den Leib"); und zu sprechen
wäre von der in den letzten Lebensjahren abgeschlossenen 'Trias': "Physiologie
der Kultur", "Kritik der neurophysiologischen Vernunft" und "Sturz
der klassischen Vernunft".
Es versteht. sich, dass ein Hinweis an dieser Stelle
kursorisch sein muss. Die Schätze, die mir zum Beispiel im „Philosophischen
Tagebuch“ zu liegen scheinen, können nur durch die je eigene Arbeit des
Lesens gehoben werden. Einige 'Bedenken' braucht man gewiss nicht
zurückzustellen, und man braucht auch nicht alles, was da steht, gut zu finden -
wichtiger ist allemal die Auseinandersetzung. Anscheinend Schwächeres könnte
dann im umfassenderen Bezug plötzlich stark werden, seine bislang abgewendete
oder verdunkelte Seite ans Licht kehren (oder auch zurückbleiben).
Immer jedoch ist Hans F. Geyers spürbare Be-geisterung
ansteckend, überträgt sich leicht - mir jedenfalls kam, nachdem ich ein paar
Hemmnisse oder anfängliche Widerstände abgelegt hatte, das „Philosophische
Tagebuch“ wie ein richtiges Leseabenteuer vor ... Da ist nichts abzusehen,
gibt es unvorhersehbare und doch naheliegende 'Weiterungen', entwickelt sich,
wie ich finde, eine schöne, immer intensivere Begrifflichkeit. Selten habe ich
erlebt, wie etwa bei dem zuvor etwas scheel angesehenen Band III, "Kontinuum
der Offenbarung", dass die Dinge durch Schreiben wieder so in Fluss gerieten
und neu festgelegt werden konnten. (Ludwig Hohl, der Hans F. Geyer als "den
unbedingt grössten Schweizerphilosophen" bezeichnete, stand diesem Band
reservierter gegenüber.)
Man hat schon bemerkt, dass ein Werk oft nichts anderes als
eine Sache - eine manchmal sogar ziemlich einfache Einsicht - ausdrücke oder
variiere, also in einen
Prozess eintrete, in dem diese Sache sich in der Arbeit des Schreibens immer
wieder materialisiere. Das stimmt in gewisser Hinsicht (wenn man konzediert,
dass das Eine vieles freisetzen kann) auch für Hans F. Geyer: ein Satz, der
bereits im "Lastträger" steht und dort einen Kurzessay einleitet, ist
vielleicht – etwa im Blick auf "Physiologie der Kultur" - tatsächlich
zentral. "Die Gedanken, die wir aussprechen, sind die Gedanken unseres Leibes."
Da wird bereits von der 'Abstraktion des Sinns' gehandelt und die
Wechselbeziehung zwischen dem 'inneren Prinzip' des Wortes und dem Leib des
Sprechenden angedeutet. "Vom Leibe abgetrennt ist das Wort des Geistes
beziehungslos und hat kein
Mass..." –
Das scheint mir eine tragende Säule in Hans F. Geyers
Philosophie auch insofern zu sein, als sie ihn selbst trägt: ihm von einer
körperlichen Mitte her zu sprechen erlaubt, ihm in der ungeahnt „intimen
Empirie“ des leiblichen Gesamtzusammenhangs Erkenntnismöglichkeiten
eröffnet, ihm also sein
Mass gibt. Denn in der “Innerleiblichkeit“ als ganzer sind ja Erfahrungen
aufgehoben, die tief in die Menschheitsgeschichte und, wie Hans F. Geyer meint,
sogar in die Vorgeschichte reichen. Gerade von daher, weil der Geist auch eine
Natur hat, kann er gegen das grosse Schisma der Trennung von Natur- und
Geisteswissenschaften angehen. Überhaupt. wäre da, zumal für die Gegenwart,
etwas zu lernen darüber, wie es um die „Souveränität des Bewusstseins"
bestellt ist: wie die Naturgeschichte die „Geschichtsnatur“ des Menschen
tingiert, wie die Dialektik zwischen beiden - die grösste vielleicht überhaupt -
spielt.
Zum Tode des Philosophen Hans F. Geyer
Von Hans Saner, Basler Zeitung, 10. September 1987
In Hans F. Geyers «Philosophischem Tagebuch» steht der schöne
Satz: «Das Glück ist das Geistwerden des Unglücks.» Durch ein Unglück, einen
Absturz am Pilatus, kam Geyer am 2. September ums Leben. Sein Tod hat etwas
merkwürdig Gleichnishaftes: Geyer fühlte sich in den Tagen zuvor nicht wohl. Er
hatte die fast zwanghafte Vorstellung, eine Reise auf den Pilatus könnte alles
in Ordnung bringen. Das Überblicken der Welt als Einheit: das ist es, was er in
seinem Denken gesucht hat und wovon er sich offenbar auch eine physische Heilung
versprach. Denn die Physis und der Geist waren für ihn letztlich geeint. Nur:
man musste sehr hoch steigen, um diese Einheit sehen zu können.
Als er schon fast 50 wurde - er war damals (1964) seit zwei
Jahrzehnten erfolgreich in der Industrie tätig und veröffentlichte gelegentlich
in der «Tat» philosophische Rezensionen -, beschloss er, sein Leben fortan ganz
der Philosophie zu widmen. Er gab seinen Beruf auf und brachte in der Folge,
über ein imposantes Lesepensum, Ordnung in seine Gedanken. Die Frucht dieser
Arbeit waren 6 Bände «Philosophische Tagebücher», die in den Jahren 1969-74 bei
Rombach erschienen. Sie sind thematisch geordnete Sammlungen von Gedanken, die
jedoch nicht systematisch zu Tode gestrickt sind. In intuitiver, bald
aphoristischer, bald essayistischer Lebendigkeit umkreisen sie die grossen
Fragen nach der Natur des Geistes, dem Verhältnis von Arbeit und Schöpfung, der
Offenbarung als Kontinuum, der Biologie der Logik sowie der Dialektik der
Nacktheit und der Leiblichkeit. Die Jahre ihrer Niederschrift waren wohl Geyers
fruchtbarste Schaffenszeit. Die Bücher sind voll origineller Gedanken In oft
glänzenden und glücklichen Formulierungen. Die 6 Bände sind nicht nur die
längste, sondern auch die bedeutendste Sammlung von Kurztexten in der
philosophischen Literatur unseres Landes. Man darf sie den «Notizen» Ludwig
Hohls zur Seite stellen. Geyer und Hohl waren über viele Jahre befreundet.
Die Tagebücher machten Geyer vor allem ein Problem bewusst:
Die Philosophie hatte in ihrer Geschichte die verhängnisvolle Trennung von Natur
und Vernunft immer tiefer fixiert, so dass die Einheit des Menschen in eine
Zweiheit des Unmenschen auseinanderklaffte. Seine ganze Kraft des Denkens setzte
er in den letzten Jahren in den Versuch, diese Zweiheit systematisch zu
schliessen. Eine Trilogie entstand, deren erster Band, die «Physiologie der
Kultur», 1985 im Insel-Verlag erschien und deren Folgebände, die «Kritik der
neurophysiologischen Vernunft» und der «Sturz der klassischen Vernunft»,
abgeschlossen worden sind. Der Grundgedanke der 3 Bände besagt, dass alle Kultur
eine physiologische Basis hat, aber ebenso die Physis des Menschen eine
kulturelle Entfaltung, dass mithin der Vernunft eine Physiologie zugrundeliegt,
die es topologisch zu erkennen und kritisch zu begrenzen gilt, und dass
schliesslich die einseitige Spiritualität der klassischen Vernunft zu Fall
gebracht werden muss. Es ist jenes Projekt, für das man gleichsam sehr hoch
steigen muss, um das Getrennte neu als Einheit sehen zu können. Der Weg des
Philosophen ist ein Gang auf den Berg, von dem aus der Blick die Einheit der
Landschaft erfasst.
Geyer lebte nicht ganz ohne Anerkennung, aber fast ganz ohne
öffentlichen Erfolg. Anerkennung fand er bei wenigen einzelnen, aber bei keiner
Gruppe und keiner Institution. Die Universität überhörte ihn, die
Intellektuellen übersahen ihn, die Nation verpasste ihn. Er gehört zu jenen
Schriftstellern, die man nach ihrem Tod nicht neu, sondern erstmals entdecken
muss.
«Gelebte gegen gelehrte Philosophie»
Von Guido Schmidlin, Zürichsee-Zeitung, 19.9.1987
Zum Tod des Philosophen Hans Rütter (Hans F. Geyer)
Ende August ist Hans Rütter in den Bergen tödlich
verunglückt. 1985 war im Insel-Verlag unter dem Titel «Physiologie der Kultur»
und unter dem Pseudonym Hans F. Geyer, dessen er sich auch bei der
früheren Publikation seines sechsbändigen Philosophischen Tagebuches bediente,
der erste Band eines auf drei Teile angelegten Werkes erschienen, das nun zu
seinem abschliessenden Vermächtnis werden sollte. «Die Kritik der
neurophysiologischen Vernunft» und «Der Sturz der klassischen Vernunft» sind die
Überschriften der noch unpublizierten Bände.
Hans Rütter, der 1915 in Wädenswil geboren wurde, in Zürich
bei Eberhard Grisebach mit einer Arbeit über den Deutschen Idealismus
promovierte, sich dann aber beruflich während zwei Jahrzehnten in einem
Industrieunternehmen betätigte, bis er sich 1964 als freier philosophischer
Schriftsteller etablierte, war seit Jahren im hiesigen philosophischen Leben
unauffällig, aber unverkennbar gegenwärtig. Als Rezensent und als
Diskussionsvotant ergriff er immer eigenständig das Wort. Da dies nicht aus
einer beruflichen Stellung geschah, schien er etwas selten Gewordenes zu
verkörpern, wie er es auch im ersten Band seines Philosophischen Tagebuches
schon gefordert hatte: An ihm wurde philosophische Haltung öffentlich sichtbar;
er nannte sich im Titel seines ersten Buches einen «philosophischen Lastträger».
Es vertrug sich mit seiner ausgeprägten Bescheidenheit, dass er für sich das
Vorbild im Auftreten des antiken Philosophen in Anspruch nahm. «Gelebte gegen
gelehrte Philosophie», meinte er.
Es liegt nahe, die Arbeit Rütters als Beitrag zur
philosophischen Anthropologie mit derjenigen von Helmuth Plessner zu
vergleichen. Dabei fällt auch sogleich der Unterschied zwischen den beiden auf,
indem bei Rütter das existenzielle Moment stärker betont ist. Er macht die Probe
aufs Exempel, ob sich mit den durch die moderne Evolutionstheorie aufgekommenen
Auffassungen vom Eigen- und Sonderwesen des Menschen auch wirklich ein
menschliches Leben führen lasse. In der Verbindung von Existentialismus im Sinn
Kierkegaards und der heutigen Existenzphilosophen mit einer
naturwissenschaftlich fundierten Anthropologie dürfte ein Teil der Originalität
von Rütters Lebenswerk liegen.
Obwohl sein Denken, das sich in den späteren Darstellungen
immer entschiedener und differenzierter mit den grossen Sinnfragen der
Evolutionstheorie befasst, auf kleine Wünsche keine Rücksicht nimmt, wirkt es
auf den Leser und Mitdenker aus einer enthusiastischen Grundstimmung heraus
beflügelnd. Den Verhältnissen, denen Plessner mit seinem Begriff der
Exzentrizität des Menschseins und der damit verbundenen natürlichen
Künstlichkeit und Kulturbestimmtheit beizukommen sucht, begegnet Rütter mit
seiner Lehre vom Geisttrieb, der, die animalischen Triebe durchformend, eine
neue Grundstruktur bewirkt. In der Zunahme des Gehirnvolumens und in der
Ausbildung der den kulturellen Funktionen vorbehaltenen Gehirnareale besitzt er
seine organische Grundlage, die Grundlage für seine organologische Funktion, die
ihren Niederschlag in den kulturellen Produkten, im Organismischen, findet.
Im Schlusskapitel seines zuletzt veröffentlichten Buches
erinnert Rütter an C. F. Meyers Gedicht «Chor der Toten», um die Bedeutung
dieses «Organismischen» hervorzuheben:
Und was wir an gültigen Sätzen gefunden,
Dran bleibt aller irdische Wandel gebunden.