Hans F. Geyer
Von Helmut Holzhey
Hans F. Geyer eröffnet den ersten Teil seines Philosophischen Tagebuchs
mit einem »Der Lastträger« überschriebenen Kapitel. Er knüpft damit explizit an
seine erste Buchveröffentlichung an, die - in programmatischer Selbsteinschätzung
betitelten - Gedanken eines philosophischen Lastträgers (1962). Die
sechs Teile des Philosophischen Tagebuchs (1969-1974), die nun die
ersten zwei Bände der neuen Werkausgabe bilden, enthalten zwanglos unter
Leitthemen geordnete Gedanken, die in teils aphoristischer, teils
essayistischer Form die grossen Fragen nach der Natur des Geistes, dem
Verhältnis von Arbeit und Schöpfung, der Evolution, der menschlichen
Leiblichkeit behandeln. Diese nicht nur längste, sondern auch bedeutendste
Sammlung von - oft glänzend formulierten - Kurztexten in der philosophischen
Literatur der Schweiz darf in die Nähe der Notizen Ludwig Hohls gerückt werden,
mit dem Geyer über viele Jahre befreundet war.
Das Grundproblem, das diese Schreibarbeit begleitet, ja von Anfang an
stimuliert, geht Geyer in seinem, als Trilogie konzipierten, systematischeren
Hauptwerk an (Band 3):Wie lässt sich der verhängnisvolle Dualismus von Natur
und Vernunft überwinden? Der Autor sucht deren Einheit in einer Physiologie
der Kultur - so lautet der Titel des ersten, 1985 erschienenen
Teils. Zunächst war im Anschluss an die neuere anthropologische Forschung
klarzumachen, dass alle Kultur eine physiologische Basis hat, dass jeder
historische Zustand auch ein physiologischer, und zwar ein Zustand des
menschlichen Körpers ist. Umgekehrt wollte Geyer nie einem anthropologischen
Naturalismus das Wort reden: Dieser Gefahr zu begegnen ist Anliegen des zweiten
Teils (Kritik der neurophysiologischen Vernunft), während der dritte
Teil (Sturz der klassischen Vernunft) das Ungenügen einseitig
spiritualistisch orientierter Vernunft ins Blickfeld rückt. Diese Trilogie
erscheint erstmals, die zwei letzteren Teile nach dem Manuskript des
Verfassers, als dritter Band der Werkausgabe.
Obwohl Geyer in Relation zu den herrschenden philosophischen Strömungen ein
„Querdenker“ genannt werden muss, bewegen sich seine Schriften nicht am Rande
der heutigen Problemlage oder in einer geschützten Nische, sind weder formal
noch inhaltlich isoliert. Die Naturphilosophie, die in den letzten Jahren
angesichts der Erfordernisse ökologischen Umdenkens generell einen neuen
Aufschwung erlebte, hat in Geyers Arbeiten unkonventionelle und tiefgründige
Förderung erfahren, nicht zuletzt mit einer produktiven Rezeption der Theorien
Alfred N. Whiteheads.
Auf die kulturelle Situation des Menschen, die der Anthropologe Helmuth
Plessner mit seinem Begriff der Exzentrizität und der damit verbundenen
natürlichen Künstlichkeit des Menschseins beschrieb, geht Geyer mit seiner
Lehre vom Geisttrieb ein: Mit der Durchformung der animalischen Triebe entsteht
die neue, »organismische« Grundstruktur des symbolisch vermittelten Lebens in
der Kultur. Und jenseits abstrakter Theorie macht der Denker immer wieder die
Probe aufs Exempel, ob sich mit den durch die neuere Anthropologie entstandenen
Vorstellungen vom Eigen- und Sonderwesen Mensch auch wirklich ein menschliches
Leben führen lasse.
Das lässt sich durch den Hinweis ergänzen, dass Geyer mit seinen gelebten
Einsichten zeigen wollte und konnte, wie sehr Sache und Person zusammengehören:
eine an der Naturwissenschaft kritisch geschulte anthropologische Kulturtheorie
und der existentielle Einsatz des philosophierenden Individuums.