Briefe Der Zusammenstoss des Menschen mit dem Masslosen
Die Wissenschaftskirche
Ludwig Hohl

Der Zusammenstoss des Menschen mit dem Masslosen

 

Lieber Herr Dr. Roland Müller,

 

Meine herzliche Gratulation zu Ihrem sehr schönen Ludwig Hohl-Geburtstagsartikel in der "Tat"! Ich habe ihn gerade gelesen. Sie haben es besser gemacht, als ich es hätte tun können. Ich denke zwar oft an Ludwig Hohl, aber nicht an seinen Geburtstag. Mea maxima culpa. Zwischen Ihnen, Ludwig Hohl und mir besteht doch so etwas wie ein "elektrisches Rundum".

 

Ich habe schont lange die Absicht, Ludwig Hohl wieder einmal zu besuchen und werde ihn deswegen nächstens anläuten. Es ist dann wohl so ungefähr mein sechster Besuch. Ludwig Hohl sitzt zu Beginn oft da wie eine Statue, die man beleben muss. Das gelingt früher oder später. Und wenn die Statue einmal lebt, dann ist sie unübertrefflich, dann ist sie menschlicher als ein Mensch. Aber ich möchte sie eher früher beleben als später. Zu diesem Zweck greife ich zu einem STRATAGEM. Ich werde "Variationen" (wenn gut) und Kommentare (wenn weniger gut) zu seinen Aphorismen vorbereiten. Ein Beispiel soll folgen.

 

Notizen I, S. 125. Nur daraus, dass das masslose Prinzip mit dem Mass zusammenstösst, entsteht der Glanz. (Nicht also aus der Vereinigung zweier geformter Dinge, nicht aus dem Zusammenstoss zweier chaotischer Dinge).

 

Variation. Es ist die Bändigung des Masslosen durch das Mass, der unmenschlichen Materie durch die menschliche Form. Über das Chaos der alten Griechen breitete sich der ästhetische Glanz, der letztlich der Abglanz des schönen griechischen Leibes ist, der, auch er, als Sophrosyne aus dem Abgrund des Chaos, auftaucht wie Aphrodite, die schaumgeborene, aus dem Meer.

Wir brauchen diesen Kontrast des Masses und des Masslosen, er ist für uns ein psychisches Bedürfnis, und mehr als das, ein logisches, ein geistiges. Vielleicht wäre ein gewaltiges soziologisches Ereignis wie die Entdeckunqsfahrten ohne diese geheime innere Triebfeder nicht möglich gewesen. Gold wollten diese Abenteurer, Macht, Kolonien? Auch das. Aber vor allem, ihr Mass in die masslose Weite des Weltmeeres hinaustragen. Das war der tiefe Glanz ihres Abenteuers.

Man schützt oft handfeste materielle Interessen vor, weil man für verrückt erklärt würde, bekennte man sich zu seinem Ideal der Innerlichkeit. Das musste auch Kolumbus erfahren, bis er von Gold zu sprechen begann. Aha, sagten die Zeitgenossen, jetzt wissen wir, was er will. Sie wussten es nicht. Und vielleicht wusste nicht einmal mehr Kolumbus um das, was ihn zuerst bewegt hatte, um sein primum movens.

Was bewegte ihn im Innersten? Das Licht des Masses zu werfen, des menschlichen Masses auf die ungeheure Weite des Meeres und die Landmassen, die er jenseits des Meeres ahnte. Im Zeichen dieses Glanzes segelte er ins Ungewisse.

Der Kontrast des Masses und des Masslosen ist etwa wirksam im Gefühl des Erhabenen, dem auch Kolumbus sehr zugänglich war. Es beseelte ihn als religiöses Gefühl, als der lang ersehnte Ruf "Land!" vor Amerika ertönte.

Wie entsteht das Gefühl des Erhabenen? Wir verspüren es, beispielsweise, angesichts des stürmischen Meeres oder einer wilden Gebirgslandschaft. Was wir sehen, empfinden wir als masslos, das Mass tragen wir bei, es entsteht eine Proportion zwischen der Masslosigkeit das Schauspiels und unserer Stimmung, die uns das Ungeheure ästhetisch empfinden lässt. Ästhetisch empfinden wir es, weil wir dahinter ein Mass ahnen, das unser eigenes Mass transzendiert. Dieses Ungenügen des eigenen Masses vor dem Ungeheuren ist selbst wieder ein Mass, welches das Masslose misst und es als schön beurteilt.

Auf dem Erhabenen des unendlich Kleinen beruht auch die Infinitesimalrechnung, die Pascal vorausahnte. Sein Schauer angesichts des infiniment petit und des infiniment grand war ein Schauer des Erhabenen. Hier stiess sein Mass mit dem Masslosen zusammen.

Eine andere Definition des Zusammenstosses des Menschen mit dem Masslosen ist der Bürger im höchsten Sinne, der Bürger als citoyen,

 

Mit herzlichen Grüssen und Wünschen

Ihr

 

Brief an Dr. Roland Müller, 6.4.1974

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