Die Wissenschaftskirche
Verehrter lieber Herr Professor Feyerabend,
Adolf Muschg (ETH Zürich) machte den Vorschlag, dass ich, zusammen mit
Ihnen und Friedrich Dürrenmatt, an der letzten Podiumsdiskussion der Reihe
"Wissen und Tradition" am 15.7.82 in der ETH Zürich teilnehmen sollte
(Thema der Diskussion: "Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und
Kunst").
Ich möchte mein Votum mit einem "Gedicht" beginnen, so ein
bisschen nachempfunden dei Art eines japanischen HAIKU:
Da meinte Galilei
Die Monde
Jupitermonde
Die Realität
Absturz des dichterischen Bewusstseins.
Da werden die sagen: Dem sitzt der Schalk im Nacken, Eine Eulenspiegelei.
Und doch meine ich, dass die Poesie besser eingehen könnte als die
Philosophie. Die Philosophie, nämlich, braucht sehr viel Imagination.
Und etwas weniger "Logik" als die meisten Philosophen annehmen,
Dasselbe gilt wohl für die Wissenschaften.
Warum soll die Erkenntnis nur im Gewande der akademischen Prosa und des
akademischen Denkens auftreten? (Erkenntnis für freie Menschen. S. 235).
Eine Bemerkung zu dem "Absturz des dichterischen Bewusstseins".
Vernichtet die Wissenschaft den Traum von Religion. Kunst und Literatur? Ich
meine nicht. "Nicht" mit einer Bedingung. Wenn man nämlich die
"Traumqualität" der Wissenschaft erkennt, die von den Aufklärern
übersehen wurde. Physik. Chemie, Biologie, etc. gibt es in der Natur nicht (nur
in der "Natur" der Wissenschaft). Ebensowenig wie den Physiker, den
Chemiker, den Biologen.
Zur "Traumqualität".
... man braucht eine Traumwelt, um die Eigenschaften der wirklichen Welt zu
erkennen, in der wir zu leben glauben (und die in Wirklichkeit vielleicht nur
eine andere Traumwelt ist). (Against Method, Suhrkampausgabe, S. 51).
Es ist kein Angriff gegen die "Wissenschaft" beabsichtigt. Gegen
"Vernunft und Wissenschaft", wie Goethe sagen würde. Sondern ein
Angriff gegen eine, meiner Ansicht nach, falsche Interpretation des
wissenschaftlichen Bewusstseins, diejenige der historisch gewordenen Aufklärung
("historisch geworden" avec une vengeance in Gestalt des "Wiener
Kreises"). Ich meine, die "Aufklärung der Aufklärung" steht vor
der Tür. Sie ist, wie ich glaube, auch eines Ihrer Anliegen.
Für viele Naturwissenschafter entsteht ihre Wissenschaft ohne Selbstsicht,
ohne das, was ich die "Praxis des naturwissenschaftlichen Körpers"
nenne, den Standpunkt des biologisch und geschichtlich verwurzelten
"handelnden Beobachters", der mitten in einem naturgeschichtlichen
und geschichtsnatürlichen evolutionären Kontinuum drin steht. Auch der Evolutionstheoretiker
entgeht der Evolution nicht (und deren Mutationen, Sprüngen,
"Inkommensurabilitäten", wie Sie vielleicht sagen würden). Er ist, in
unerhörter Aufgipfelung, gleichsam das "Auge" der Evolution.
Mit ihm taucht das Auge der Evolution ins Auge der Evolution und entdeckt
schliesslich sich selbst. Ein heimlicher, aber auch unheimlicher Vorgang. Hat
nicht E. T. A. Hoffmann über den "Doppelgänger" geschrieben? Man kann
verstehen, dass der Naturwissenschafter dieser Dämonologie zu entrinnen
versucht, indem er seine Person reinlich von dem Objekt der Erkenntnis trennt
(und von dessen "Geschichte"). Aber sie bleibt ihm nicht erspart.
In Ihr "Wider den Methodenzwang ..." habe ich mich schon ziemlich
weit vorgearbeitet. Es ist eines der geistreichsten Bücher, die ich je gelesen
habe. Während der Lektüre habe ich oft laut gelacht. Es ist nicht Ihre Komik.
Sie liegt in der Sache. Es ist die Komik, die tief im "Bauch" der
modernen Wissenschaft steckt. Ihr Verdienst ist es, sie offenbar gemacht zu
haben. Die Wissenschaft erfährt an sich und realisiert sehr wider ihren Willen
den höchst unwissenschaftlichen Grundsatz des TAT TWAM ASI. Sie wird
mythologisch, weil entmythologisierungssüchtig.
"Die Wissenschaft ist zu einer Kirche geworden" schrieb Ernst
Mach ... (Against Method,
S. 12, Fussnote).
Per separate Post sende ich Ihnen Ihr Widmungsexemplar von Band III ("Das
Kontinuum der Offenbarung") meines "Philosophischen Tagebuchs"
(eine Kapitelübersicht sämtlicher sechs Bände habe ich diesem Brief beigelegt).
Dort trägt ein Kapitel (S. 115) den Titel: "Die Wissenschaftskirche".
Es beginnt wie folgt:
Die "Wissenschaftskirche". Einer der widersprüchlichsten
philosophischen Begriffe der letzten zwei Jahrhunderte. Nicht, dass er ein
Begriff de iure wäre, denn die Philosophen, denen ich ihn in den Mund lege,
kämpften ja eben an gegen die Traditionen der Kirchen, gegen das, was sie
"Religion" nannten. Aber es ist ein Begriff de facto von grosser, ja
von ungeheurer und ungeheuerlicher, von globaler Wirksamkeit, es ist
wohl der mächtigste philosophische Begriff seit Bestehen der Menschheit.
Kein Begriff könnte deutlicher beweisen, wie sehr die Philosophie (und die sie
stützenden religiösen Hilfsvorstellungen) heute im Zentrum des Weltgeschehens
steht.
Die "Wissenschaftskirche" hat natürlich ihre Vorläufer, die bis
weit ins Altertum zurückreichen (vor allem Platon). Als das eklatanteste
Beispiel für diese philosophische Richtung möchte ich Comtes System der
positiven Philosophie nennen. Bei Comte ist die Allianz von Wissenschaft und Kirche
noch ganz naiv konzipiert, er verlangt ein Priestertum, einen Kult, der
erinnert an den Kult der nackten "Göttin der Vernunft", die zur Zeit
der Französischen Revolution triumphal auf einem Wagen durch die Strassen der
Stadt Paris geführt wurde.
Bei Marx ist die "Wissenschaftskirche" sehr viel
weniger evident, sehr viel versteckter, aber eben darum auch umso gefährlicher.
Die Wirkung jedoch ist dieselbe. Die Identifikation von Theorie und Praxis, von
Wissenschaft und Handeln, von Methode und Geschichte, von Logik und Zukunft
bedeutet die Instauration des roten Kaiser-Papsttums, des roten Cäsaropapismus.
Der Marxismus ist nur ein Beispiel. Natürlich könnte ich, ausser dem
Marxismus, manche andere Gruppe nennen, die grenzüberschreitend nach
methodologischer Alleinherrschaft strebt. Seit dem Mittelalter haben sich die
"alleinseligmachenden" Kirchen vervielfacht. Auch eine paradoxe
Wirkung der Aufklärung, die meistens in den sogenannten
"Standardwerken" ignoriert wird.
Sie haben es nicht von mir. Ich habe es nicht von Ihnen. Und Ernst Mach
wusste darum vor uns. Aber solche Übereinstimmung ermutigt. Es gibt
Übereinstimmung in der Philosophie, die auf ähnliche Weise zustande kommt wie
in der Naturwissenschaft, nämlich nicht durch "Schule" oder erstarrte
Methodologie, sondern ganz einfach durch Forschung, die ihre Geschichte
"macht", so vor sich hin, provisorisch, unvollkommen, von Fall zu
Fall (von Unfall zu Unfall), aus dem "Detail", aus dem Detail der
historischen Situation. C'est la provisoire qui dure. Sie haben recht. So entsteht
Wissenschaft, so entsteht Philosophie als Geschichte. So auch Religion.
So wie ich es sehe, kommen Sie von der Wissenschaftstheorie zur
Religionsphilosophie. Meine Entwicklung ging im umgekehrten Sinne vor sich: von
der Religionsphilosophie zur Wissenschaftsphilosophie. Die beiden Stationen
liegen an einem Weg. Es ist allerdings heute noch weder der Weg der
Theologie noch der Wissenschaft, noch (im allgemeinen) der
Universitätsphilosophie.
Dr. Otto A. Böhmer im Insel Verlag hat mir aufgetragen, Ihnen einen Gruss
auszurichten. Er hat seinerzeit mit Ihnen korrespondiert. Gegenwärtig prüft er
mein Manuskript "Physiologie der Kultur", das einige
Berührungspunkte mit Ihrem Werk aufweist. Dazu folgende Überlegungen.
S. 373 in Against Method, Suhrkampausgabe, stellen Sie fest, dass die
Relativitätstheorie "inkommensurabel" ist mit der klassischen Physik.
Sie fügen hinzu: "Sie (die Relativitätstheorie) hat keine einzige Aussage
mit ihrem Vorgänger gemeinsam ..."
Dazu meine These: Wissenschaft ist die "verdaute" Welt. Die
Inkommensurabilität erklärt sich dadurch, dass der
"Verdauungsprozess'" ein totaler Vorgang ist, der sich durch
eine innige Verbindung von Tatsache und Theorie (die eine steht und fällt mit
der andern), eine innige Verbindung von Data und logischen Überlegungen (das
Ästhesiologische, wie Husserl sagt), der sensuellen und abstraktiven Empfindung
(Komplex des Sensuell-Abstraktiven), des Organischen und Organologischen (wie
ich sage) abspielt. Daran ist beteiligt die leibliche Dreieinheit von Körper,
Seele und Geist, was ich als "ideellen Körper" bezeichne (was Sie
"parataktische Aggregate" nennen, beruht auf einer ähnlichen
Konstellation).
Anders ausgedrückt: Wissenschaft (Kunst. Literatur, Sprache, aber auch das
alltägliche Leben des Menschen) gründet auf einem "psychischen
Metabolismus“, der so tief geht, dass im Verhältnis dazu die bekannte
adaequatio rei et intellectus nicht einmal als eine Annäherung gelten kann. Ein
Abschnitt des Manuskripts "Physiologie der Kultur" trägt den
Titel "Idee einer grammatischen Biologie und einer biologischen
Grammatik auf der Basis eines psychischen Metabolismus". Dort heisst
es:
Niemand denkt daran, die Tatsache eines physischen Metabolismus zu
bestreiten. Der Mensch muss essen, um zu leben. Die Nahrung wird aufgenommen,
die verwertbaren Elemente werden in Energie umgewandelt und der Rest
ausgeschieden. Warum nehmen wir ohne weiteres die Tatsache des physischen
Metabolismus an und nicht auch diejenige des psychischen, obwohl die Analogie -
bis in den physiologischen Prozess hinein - unabweisbar ist?
Der Geist des Menschen, worunter wir auch immer seine seelische Basis
mitverstehen, wurde religiös, philosophisch und wissenschaftlich nicht organisch
interpretiert, Er wurde entweder als unabhängig vom Körper vorgestellt, wie im
Falle der Ideentheorie Platons, oder als passiver Empfänger der Eindrücke der
Aussenwelt, so wie das Wachs einen Abdruck aufnimmt. Man kam nicht auf den
Gedanken, den menschlichen Körper so in die Erkenntnistheorie einzuschalten,
wie es doch beim physischen Metabolismus auf ganz natürliche Weise geschieht.
Der physische Körper "verzehrt" die Aussenwelt und kommt so zu sich
selbst, zu seiner Gestalt. Ähnlich der psychische Körper. Auch er
"verzehrt" die Aussenwelt und kommt ebenfalls zur Gestalt, zur seinigen.
Welcher Art ist nun diese Gestalt, in Analogie, aber auch im Unterschied
zur physischen? Die Gestalt entsteht durch sensuelle und abstraktive
Verarbeitung der Empfindungen der Aussenwelt. Dadurch erbaut sich die Psyche
ihre geistige Welt. Sie ist darin nicht unabhängig von den Trieben des
menschlichen Tierleibs in der Verarbeitung der sensuellen Empfindungen,
ebenfalls ist sie nicht unabhängig von der tradierten Kultur, was die
Verarbeitung und Nutzung der abstraktiven Empfindungen anbelangt.
Meine Theorie der sensuellen und abstraktiven Empfindung (Komplex des
Sensuell-Abstraktiven) habe ich ganz unabhängig erarbeitet. Ich war deshalb
sehr erstaunt, auch freudig überrascht, als ich bei Alfred North Whitehead die
Begriffe "physische" und "begriffliche Empfindung" vorfand,
die den meinigen weitgehend entsprechen. Eine Brücke in philosophicis über den
"grossen Bach"! So wie jetzt bei Ihnen.
Es würde mich freuen, wenn ich mich, anlässlich Ihres Zürcher Aufenthalts,
mit Ihnen über den "psychischen Metabolismus" und dessen Beziehung zu
Ihrem Werk unterhalten könnte.
Mit freundlichen Grüssen
Ihr
Brief an Prof. Paul K. Feyerabend, 24.3.1982