Ludwig Hohl
Sehr geehrter Herr Professor Stadler,
Ja, ein Bericht, wie Sie ihn vielleicht erwarten, wird nicht
möglich sein. Ich weiss überhaupt nicht, ob Sie meinen Text verwenden können. Es
handelt sich um eine Beziehung von zwei Autoren auf gleichem Niveau, mit
gleichem Anspruch.
Meine Arbeit ist so wichtig wie diejenige von Ludwig Hohl.
Und so hat er sie selbst auch eingeschätzt. Und deshalb ist im Text so viel von
mir die Rede wie von Ludwig Hohl, was vielleicht doch nicht in den Rahmen des
vorgesehenen Berichtes passt. Aber Sie werden ja über die Verwendung
entscheiden.
1955 las ich den zweiten Band der "Notizen", bald darauf den
ersten. Die Lektüre ging sehr schnell vor sich, ja ich war die Lektüre
selbst. Es schien mir, als hätte ein anderer in meinem Auftrag geschrieben (Hohl
hatte einen Ausdruck dafür: im "Sekretariat"). Warum? Weil ich gerade zu dieser
Zeit intensiv beschäftigt war mit meinem Projekt des "Philosophischen
Tagebuchs", das dass von 1969 bis 1974 in sechs Bänden herausgekommen ist.
So etwas wie die "Notizen" schwebte mir vor, ich hatte es
auch bereits teilweise verwirklicht: die lose Konzeption von Aphorismen und
Kurzessayas, aber auch die unerbittliche Folge und Abfolge von Leitgedanken, die
immer wieder, in immer wieder andern Formen, aufgegriffen wurden.
Auch das Stilmittel der Variation. Sie wissen ja,
welche Rolle das Stilmittel der Variation im Werk Hohls spielt. Darüber schrieb
ich, ganz aus eigener Regie, aber mit dem Blick auf Ludwig Hohl, in meinem
ersten publizierten Werke (Gedanken eines philosophischen Lastträgers,
1962).
Echte Gedanken machen denken. Sie besitzen zeugende Kraft,
sie haben Kinder, kräftige Kinder, sie regen an, sie muntern auf. Eich echter
Gedanke, ein echter Aphorismus ist gewissermassen auch nur ein Blitz
eines kostbaren, nach allen Regeln der Kunst geschliffenen Steines. Wie, wenn
wir das Licht etwas anders einfallen liessen, in einem andern Brechungswinkel?
Es würde damit nur bewiesen, dass es derselbe Stein ist, der wie Feuer
brennt und uns sein Licht schenkt. Es wäre ein weiterer Beweis für die Echtheit
des Steins. Deshalb die Bedeutung der Variation auch in der Philosophie.
Auch der folgende Kurzessay (aus demselben Buch) ist
eindeutig (und gerade deshalb zweideutig) sowohl auf Hohl wie auf das "Tagebuch"
gerichtet:
Das Prinzip meines Philosophierens ist gewissermassen
vegetativ. Ich lasse es einsinken in die Tiefe meines Gemüts, und es wächst dann
schliesslich und endlich empor wie eine Pflanze. Ich bin der Gärtner
meiner Gedanken. Aber es handelt sich hier um sehr langjährige Pflanzen, wie sie
es in der Natur kaum gibt, es kann zehn Jahre dauern, zwanzig oder dreissig, bis
sie nur der Erde entronnen sind ...
Die "Eruption" de "Notizen" ist ja auch das Ergebnis einer
langjährigen unterirdischen vulkanischen Vorbereitung. Da ist nichts schnell
geschrieben, nichts schnell entstanden. Obwohl vielleicht schnell geschrieben
aus einer vorbereiteten Unwillkürlichkeit heraus, die sich mit der hellsten
Geistesgegenwart zu verbinden weiss. Das "Es" wird zum "Ich".
Ich besuchte Hohl zum erstenmale im Jahre 1957, in seiner
Kellerwohnung. Ich sah die karge Einrichtung, die beiden Stühle. Den Tisch. Ich
atmet ein den Kellerdunst. Da übermannte es mich. Ich warf den Stuhl hinter
mich, so dass er beinahe zerschellt wäre und wandte mich gegen die Wand. Hohl
fragte: Wie ist Ihnen? Eine Antwort war nicht nötig. Er wusste, wie mir war.
Nachdem ich die Tränen niedergekämpft hatte, wandte ich mich um und nahm wieder
Platz. Das Gespräch ging weiter.
Hohl besass sämtliche sechs Bände des "Tagebuchs". In
einem Interview, das in einer Auflage von 800 000 Exemplaren erschien
("Brückenbauer" vom 4.11.77), bezeichnete er mich als den "unbedingt grössten
Schweizerphilosoph". In diesem Urteil ist eine mehr humoristische und eine mehr
ernsthafte Komponente zu unterscheiden. Die humoristische Komponente: Hohl hat
zeitgenössische Schweizerphilosophen nicht gelesen. Er verfügte also kaum über
Vergleichsmöglichkeiten. Die mehr ernsthafte Komponente ist das literarische
Urteil, ist doch das "Philosophische Tagebuch", zusammen mit den
"Notizen", die umfangreichste Sammlung von Aphorismen und Kurzessays der
deutschschweizerischen Literatur.
Ein amüsantes Detail. Hohl sah einen Abgrund zwischen Paris
und der Schweiz, insbesondere was die literarischen Zeitschriften anbelangt.
Deshalb wollte er es mir nicht glauben, dass der damalige "Literaturpapst" Jean
Paulhan im Aprilheft der "Nouvelle Revue Française" im Jahre 1961 eine Serie
meiner französischen Aphorismen veröffentlicht hatte. Trotz beschränkter Mittel
bestellte er die Nummer gleich bei drei Buchhandlungen. Eine der Nummern hat er
mir dann geschenkt.
Gemeinsam war Hohl und mir die Ablehnung des "Systems", die
Schätzung des "Fragnents". Nichts gegen Systematik. Aber alles gegen pedantische
Ableitungen. Er nannte sie das "Looogische". Ähnlich wie mir lag ihm sehr am
Zusammenhang, an der Herkunft, an der Genese seiner Überlegungen. Deshalb
die zahlreichen Verweise auf ankere Stellen in den "Notizen". Er macht immer
wieder "Front zur Realität". Auch Schopenhauer ist der Ansicht, dass man mit
dieser Methode der Wirklichkeit näher komme als mit Abstraktionen à la Hegel.
Hohl war etwas enttäuscht, als in Band III meines "Philosophischen
Tagebuches" die Darstellungsweise etwas gedrängter wurde. Er atmete wieder
auf, als ich mich in Band V der unmittelbaren Inspiration wieder mehr öffnete.
Dieser Stil entsprach seinem Fühlen und Denken. Er entsprach seiner
morgendlichen Lust am Schreiben ("Valérys Morgenstunde") und dem Klang im Ohr
("Tagesklang"). Nie eine logische Untreue bei Hohl, aber ein weiter
Brückenschlag mit vielen stützenden Pfeilern. Man denkt an Aquädukte ...
Von 1957 bis 1964 besuchte ich Hohl gelegentlich, meistens
einmal im Jahr. 1964 erlitt ich einen gesundheitlichen Zusammenbruch. Ab1970
nahm ich die Besuche wieder auf bis etwa ein Jahr vor seinem Tode.
Ich erinnere mich noch gut an seine letzten Worte (im
Telephon). Der Anruf kam von Arlesheim. Er war schwer beinleidend
(Arterienentzündung). Das Bein sollte amputiert werden. Ich fragte ihn, ob er
damit einverstanden sei. Er sagte: Nein! Das konnte nur eines bedeuten: den Tod.
Ein würdiger Tod, der mich an denjenigen Montherlants erinnert.
Warum dieses Telephonat? Wollte er mir die "Fackel"
übergeben? Nichts in Worten deutete darauf hin. Aber vielleicht die Geste
selbst, der Zeitpunkt des Anrufs. Und die Intonation seiner Rede. Ich wünschte
ihm: "Alles Gute". Er entgegnete mit einer Akzentverlagerung: "Ja, alles
Gute". Er hatte gewählt. Das für ihn Gute, das für ihn Beste.
Ich habe von einem mehr humoristischen und einem mehr ernst
zu nehmenden Element im Urteil Hohle über mein Werk gesprochen. Aber auch im
Bereiche des humoristischen Elements wäre noch eine Unterscheidung zu treffen.
Es ist die Unterscheidung des Ranges von der Art. Was den Rang
anbelangt, so wage ich kein Urteil. Der Autor ist sich selbst zu nahe. "Ecce
Homo" legt Zeugnis ab für die verzweifelten Versuche Nietzsches, über den Rang,
aus eigenem Ermessen, zu einem Urteil zu kommen. Über die Art ist ein Urteil
schon viel eher möglich. Man kann Äpfel von Äpfeln unterscheiden, Werk von Werk.
Was die Art meines Werks anbelangt, so kann ich die
Behauptung wagen, das es in unserm Jahrhundert nichts Vergleichbares gibt (damit
sind gemeint das "Philosophische Tagebuch", der 1985 im Insel Verlag
erschienene Band "Physiologie der Kultur" und die beiden abgeschlossenen
Manuskripte "Kritik der neurophysiologischen Vernunft" und "Sturz der
klassischen Vernunft" - es liegen bei eine Orientierung über das "Philosophische
Tagebuch"„ die Kritik der NZZ über "Physiologie der Kultur" und die
Vorrede zu "Sturz der klassischen Vernunft").
Kant hat dazu eine subtile Bemerkung gemacht. Sie geht in diese
Richtung des Sinns: Der Rang konnte gefährdet werden durch die Art,
anders ausgedrückt: durch die Novität.
Für das Vorwort von "Sturz der klassischen Vernunft"
habe ich mir einen merkwürdigen Schutzpatron erwählt: MAGELLAN. Magellan als
Entdecker, als Erfahrer, Er-Fahrer. Aber gab es nicht auch bei Magellan, in
einem anderen als dem Kantischen Sinne, eine Gefahr der Novität? Wirren die 18
bis auf die Knochen abgemagerten Seeleute (von 240 ausgezogenen) nicht endlich
doch in Sevilla angekommen, so hätte Magellan seinen Weltruhm nicht erlangt.
Vielleicht gibt es für uns alle ein "Sevilla". Aber es könnte durchaus auch von
der inneren Art sein. Bei Hohl lag das "innere" Sevilla, sehr nahe beim
„äusseren".
Es war vor allem doch ein ausserordentlich glückliches
Zusammentreffen. Hohl hat wohl nicht gedacht, dass so etwas möglich wäre, eine
solche Konjunktion. Auch ich nicht . Da war Leidenschaft, eine ähnliche, der
Geisttrieb, ein ähnlicher, die tiefe Entfernung vom "Betrieb". Ein literarisches
Roulette", wenn man so will. Kein russisches. Ein Roulette des Lebens, des
geistigen, immer mit dem Bewusstsein, er gibt mir, was ich ihm gebe, ohne einen
Gedanken an das do ut des.
So wie Ludwig Hohl es sah, waren die "Notizen" ein
(schliesslich) entdeckter, das „Philosophische Tagebuch" aber ein
unentdeckter Kontinent. Er hat es nicht so formuliert, fühlte und dachte aber
so. Ich weiss nicht, ob er recht hat. Und Magellan? Was wusste er?
Ich hoffe, Ihre Geduld nicht zu sehr strapaziert zu haben.
Mit freundlichen Grüssen
Ihr
Brief an Prof. Stalder, 29.3.1987