Aufsätze 1 von Hans F. Geyer Der Alptraum Darwins
Innenwelt - Aussenwelt: Umwelt
Über das Denken
Über die "Arbeit" des Philosophen

Der Alptraum Darwins

 

Von Hans F. Geyer

 

Nach Hölderlin wohnt der Mensch dichterisch. Nicht nur der Dichter also. Der Mensch.

 

Daraus erwächst die Erkenntnis, dass das Dichterische im erweiterten Sinne einer Beziehung von Poesie und Poiesis, von Imagination und Praxis, eine eminent anthropologische Qualität sei.

 

Über Hölderlin hinaus: Nicht nur eine anthropologische - eine evolutionstheoretische.

 

Von Darwin wird berichtet, dass ihn das Prachtkleid des Pfauen sehr beunruhigt habe. Ein Alpdruck!

 

Ein Alpdruck?

 

Die viktorianische Armut, die viktorianische Sparwut Darwins!

 

Wesentliches Element der Theorie Darwins ist die Vorstellung, dass die Arten sich der Umwelt anpassen. Auf Gedeih und Verderb.

 

Natürlich tun sie dies, Aber darin erschöpft sich nur ein Bruchteil ihrer Lebensleistung.

 

Denn der überwältigende Reichtum ihrer Antworten auf die Herausforderung der Umwelt ist nicht nur notwendig, er ist auch frei. Also schöpferisch, dichterisch.

 

Der Antworten sind nicht nur eine, sondern Millionen.

 

Der "Dichtungen" nicht nur eine, sondern Millionen.

Wo ist die Notwendigkeit, wo die Freiheit? Wo die Grenze zwischen beiden?

 

Das Prachtkleid des Pfauen. Wo seine "Anpassung"? Wo seine Phantasie?

 

Das hat Darwin geplagt. Ihn, der auch kein schlechter "Dichter" war.

 

Dichterisch wohnet der Mensch.

 

Dichterisch aber wohnt auch die Natur.

 

Reflexiv ist die Dichtung des Menschen.

 

Präreflexiv die Dichtung der Natur..

 

Es ist von jenem mächtigen Genius die Rede, dessen Wirken wir nie ganz werden ergründen können, weil wir selbst dieser Genius sind, vielmehr eines seiner "Existentiale".

 

Wir kennen nur einige seiner Werkzeuge. Und zwar die deutlich primitiveren, die sich unserem (im Verhältnis abkünftigen) Intellekt erschliessen.

 

So Mutation und Selektion.

 

Wenig genug.

 

Nicht einmal der kleine Finger des Genius.

 

Aber es ist Wissenschaft.

 

Und Dichtung.

 

Reflexive Wissenschaft.

 

Reflexive Dichtung.

 

Dichtung aus Armut.

 

Nicht Dichtung aus Reichtum.

 

Aber auch Dichtung aus Verlässlichkeit des Wissens, was wir nicht gering schätzen sollten.

 

Es gibt einen Begriff der Verhaltensforschung, der das Verhältnis von Dichtung und deren Intention zur Aussenwelt beschreibt.

 

Und zwar sowohl im Prozesse der Evolution wie der Wissenschaft.

 

Es ist der Begriff des "hypothetischen Realismus".

 

"Hypothetisch" steht für die freischwebende Tätigkeit von Organismus und Wissenschaft, "Realismus" für die Bindung an die Aussenwelt.

 

Die story eines Insekts - des Lieblingstierchens von Uexkülls soll deutlich machen, worum es geht.

 

Es ist die story der Zecke.

 

Sie ist sehr bekannt. Weniger bekannt ist ihre erkenntnistheoretische, im weiteren Sinne auch dichterische, poetisch-poietische Bedeutung.

 

Die Dichtung "tun".

 

Das ist, was Hölderlin meint.

 

Und so "tut" die Zecke. Aus präreflexiver Nötigung allerdings.

 

Dis Zecke hängt oben auf einer Grasspitze, einem Strauch, einem Baum. Zehn, zwanzig bis zu dreissig Jahre,

 

Was sie einzig und allein in Bewegung bringen kann, sind zwei Merkmale.

 

Zwei Merkmale, die einzig und allein auf ein Säugetier hinweisen: 31 Grad Körperwärme und Buttersäure.

 

Die "Poesie" der realistisch ausgerichteten Selektion geht also in zwei Richtungen: von der Zecke zum Säugetier, vom Säugetier zur Zecke.

 

An diese strikt definierten Angelpunkte ist die Existenz der Zecke gebunden.

 

Millionen anderer wären möglich.

 

Je phantasiereicher die Auswahl, desto grösser das "Kunstwerk" der Natur, desto treffender, genauer, "realistischer" mutet auch die "Definition" an.

 

Desto abstrakter auch.

 

Das Leben der Zecke ist inhaltsarm.

 

Nicht für sie.

 

Für uns.

 

Das Leben der Zecke hat einen Grad der Abstraktion erricht, den wir in der Nähe des Grades der Abstraktion moderner Wissenschaften sehen können.

 

Die "Definition" der Zecke ist vergleichbar den Definitionen der Physik.

 

Zwei Eigenschaften, die sie gemeinsam haben.

 

Die "Poesie" der Auswahl.

 

Die "realistische" Treffsicherheit.

 

Und was begleitet sie beide?

Die Armut des lnhalts.

 

Die Vorderseite der "Dichtung" ist der Reichtum.

 

Ihre Rückseite die Armut.

 

Der Reichtum?

 

Die zahllosen Möglichkeiten der Auswahl.

 

Die Armut?

 

Die Wirklichkeit des "Treffers".

 

Aber die Zecke.

 

Wenn sie sich auf das Wirtstier hinunterfallen lässt, es sticht und dessen Blut saugt, sich fortpflanzt, hat sie ihren Lebenszyklus beendet.

 

Derjenige der Gattung aber hat neu begonnen.

 

 Für die Zecke. Das Leben der Gattung ist „verlässlich“, wenn die Hypothese trägt.

 

Für die Wissenschaft. Für sie gilt dasselbe.

 

Die Fittiche des "dichterischen Wohnens" von Organismus und Wissenschaft sind die Abstraktionen. Sie greifen in die Welt hinaus, greifend und begreifend.

 

Jener hat Erfolg. Diese hat recht.

 

Jener geht zugrunde. Diese irrt sich.

 

Was die Zecke und den Wissenschafter ("Organismus, der Wissenschaft treibt") noch verbindet, ist, dass sie beide von "hinter der Haut" her spekulieren.

 

Intrakutan.

 

Der Gegenstand ihrer Spekulation liegt "vor" ihnen.

 

Extrakutan.

 

Jede Art von Dichtung, die präreflexive wie die reflexive, geht von einem intrakutanen Zustand her auf einen extrakutanen Gegenstand.

 

Die "Gefahr"?

 

Sie liegt, wie ein Wegelagerer, auf der Lauer am Orte des Überschreitens der Grenze der "Haut", der Grenze der intrakutanen und extrakutanen Dimension,

 

Hier offenbart sich der "realistische" Gehalt der hypothetischen Dichtung, ihre "jenseitige" Macht und Gewalt.

 

Gott?

 

Die Utopie?

 

Sie bedeuten die "Absenz" der Dichtung, sowohl der organischen wie der wissenschaftlichen, der künstlerischen, der lyrischen.

 

Sowohl der präreflexiven wie der reflexiven.

 

Gott ist jene Art von Lyrismus, die potentiell jede Art von Lyrik aufhebt.

 

Dasselbe gilt von der Utopie.

 

Fruchtbar bleiben sie als "Poesie".

 

Als "Idee" im Sinne von Kant.

 

Ja, sie sind der innerste Kern aller Poesie.

 

Furchtbar aber sind sie als Poiesis, als poietische Poesie, als "getane", vollbrachte Dichtung.

 

Und zwar deshalb, weil sie die eminent dichterische Grenze zwischen intrakutaner und extrakutaner Dimension aufheben.

 

Der Embryo lebt "göttlich".

 

Warum?

 

Weil er in einer Welt lebt, die noch keine "Grenze der Haut" kennt.

 

Es ist die Welt des Mutterleibs.

 

Die Aufgabe, in einer Welt zu leben, die nicht ihre Innenwelt ist, ist gross und drückend, sie bedrängt alle Lebewesen.

 

Dem Säugling stellt sie sich tanz plötzlich.

 

Man spricht deshalb von "Geburtsschock".

 

Der Säugling ist der "jüngste Dichter", ist es phylogenetisch, ist es ontogenetisch.

 

Mit ihm beginnt der Mensch, dichterisch zu wohnen.

 

Dichterisch wohnen?

 

Will sagen, leben zugleich in einer Innenwelt und einer Aussenwelt, zugleich in seiner Vorstellung und seiner Darstellung, zugleich hypothetisch und realistisch.

 

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