Aufsätze 1 von Hans F. Geyer Der Alptraum Darwins
Innenwelt - Aussenwelt: Umwelt
Über das Denken
Über die "Arbeit" des Philosophen

Über das Denken

 

Von Hans F. Geyer

 

Wenn man wirklich denkt, so geschieht etwas Ungeheures. Es geschieht nämlich, dass der Mensch, der bisher nur gedacht wurde, durch die Natur, durch die Kultur, auf den Sinn der Systeme kommt, die ihn an Drähten zogen und tanzen liessen wie eine Marionette. Das bedeutet dann meistens auch die Überwindung dieses Sinns, es bedeutet den Anbruch und Aufbruch einer neuen Morgenröte des Sinns.

 

Der Student hat seine Interessen (Gefühl), der Industrielle hat die seinigen (Umsatz). Sie denken beide nicht. Oder sie denken nur das Unmittelbare. Der Student an das Gefühl, der Industrielle an den Umsatz. Es käme darauf, diese Interessen zu durchdenken. Marx hat unrecht, wenn er behauptet, dass der Gedanke im Kampf gegen die Interessen sich blamiere. Im Gegenteil! Die Interessen blamieren sich im Kampf gegen das Denken. Nämlich immer vorausgesetzt, dass es wirkliches Denken ist. Und die thrakische Magd hat unrecht, wenn sie über Thales lacht, der mit zu den Sternen erhobenen Augen in einen Brunnen fällt.

 

Das Höchste und Beste, was man von einem Menschen sagen kann, ist: An ihn denken, macht denken, ganz allgemein denken. Das geschieht mir, wenn ich an Sie denke, verehrter lieber Herr S. Die subjektive Beziehung wird zu einem Träger, zu einem Vehikel, zum Vehikel des Allgemeinen. Das doppelte Subjektive, es wendet sich ins Objektive, hat die Einsicht und die Kraft dazu. Es gibt einen Namen dafür: Freundschaft.

 

Der Geist hat eine Einwirkung auf meine Tränendrüsen. Es geschieht, dass ich weine, wenn ich denke. Heraklit nannte man den „weinenden Philosophen“. Er war offenbar, wie ich, ein starker Psychosomatiker. Seine Gedanken bewegten sich mit seinen Eingeweiden. Merkwürdig: Man wird auch noch in zehntausend Jahren von diesen Gedanken und von diesen, bewegten Eingeweiden sprechen. Denn so weit in die Zukunft wird der Einfluss Heraklits reichen. Und noch weiter.

 

Der Philosoph philosophiert, auch mit seinem Bauch. Guts nennen es die Angelsachsen. Und das heisst auch: Mut.

 

Die Kraft des Heraklit. Es sind Hinweise (sémainei), weder entdeckende noch verdeckende. Es sind weder Abstraktionen noch Bilder. Philosophische Orakelsprüche.

 

Die philosophisch kuranten Münzen. Es ist meistens Falschgeld. Jedes Jahr einmal besuche ich Ludwig Hohl. Ein unerbittlicher Wahrheitssucher. Er nimmt so lange ein Wort nicht in den Mund, bis es dis Nagelprobe der Wahrheit bestanden hat. So muss man warten. Das kann, Minuten dauern.

 

Philosophie des Satzes. Mir schwebt vor dessen genetische Bedeutung. Hat man schon an eine biologische Grammatik gedacht? Ich meine, da weht ein neuer Geist, ein Pioniergeist der Philosophie.

Ein Satz und dessen Erkenntnis, das ist so etwas wie ein Apfel, der Newton auf den Kopf fiel. Ein Satz, den man ausspricht, ist ein kleines Wunder. Oder ein grosses. Besser noch: das grosse Wunder. In dem Satz, den ich spreche, steckt in nuce die ganze Genesis des Menschen. (Im Anfang war das Wort.) Das Subjekt, das Objekt und die „ausgespannte Leiblichkeit", die beides verbindet. Mit und damit auch die Unwirklichkeit des Auseinanderfallens von Subjekt und Objekt, von Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft. Es steckt darin der Abgrund, der Mensch und Welt trennt, der Abgrund der Abstraktion, der die Sprache erst ermöglicht.

Der Satz stellt nicht nur dar, er ist die Menschwerdung des Menschen und die Weltwerdung der Welt für den Menschen. Ich glaube, dass man geradezu zitternd und zagend spüren kann und muss, wie ein Pianist, bis in die Fingerspitzen hinein und in jeder Fingerspitze wieder anders, was der Satz ist.

Denn er ist nicht nur die Natur von Seele und Geist, er ist die Natur des menschlichen Körpers, er stellt den menschlichen Körper nicht nur dar, er ist der menschliche Körper. Er ist dessen Anatomie und zugleich dessen „Grammatik“. Er ist die aufrechte Haltung, er ist die Gegenüberstellung des Daumens, er ist die Werkzeugfähigkeit der Glieder, er ist die Ruhe des im Schädel gut gelagerten und geschützten Gehirns. Die Grammatik des menschlichen Körpers? Ein würdiges Thema für einen Essay.

Der Satz ist ja auch ein Sprung. Ein Sprung, eine Mutation. Der Quantensprung des Denkens.

 

Hans F. Geyer, Die Tat/Zürich, 25. 6.1976

 

 

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