Aufsätze 1 von Hans F. Geyer Der Alptraum Darwins
Innenwelt - Aussenwelt: Umwelt
Über das Denken
Über die "Arbeit" des Philosophen

Über die „Arbeit“ des Philosophen

 

Die Hand am Puls der Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts

 

Von Hans F. Geyer

 

1. Bei Gelegenheit des "falschen Zitats". Diese Aphorismenfolge ist Ludwig Hohl gewidmet, weil sie von einer Aufassung geistiger Arbeit ausgeht, die er in den "Notizen" entwickelt hat. Man könnte meine Aphorismenfolge als eine Reihe von "falschen Zitaten" aus den "Notizen" Ludwig Hohls bezeichnen.

Falsches Zitat: Ein richtiges Zitat kann eine Leistung sein, vor allem, wenn es zu einem "falschen" führt. Es setzt das Zitierte in einen neuen Zusammenhang, der es "überfliegt", indem es ihm eine neue Bedeutung gibt, die es nicht hatte, wohl aber haben könnte.

Das Verhältnis den lebendigen Philosophierens zur Geschichte der Philosophie im Lichte das "falschen Zitats". So die "Entelechie" des Aristoteles. Sie ist ein "falsches Zitat" aus der Ideenlehre Platons. So die Kausalitätstheorie Kants: ein "falsches Zitat" aus der Erkenntnistheorie Humes.

Nicht nur die Kulturgeschichte, die ganze Geschichte lebt von "falschen Zitaten", weil sie nur so ein Kontinuum und zugleich auch Neuerung sein kann.

 

2. Überwiegt das "richtige Zitieren", anders ausgedrückt: die Philologie der Philosophie, so ist vielleicht der Schluss erlaubt auf eine verhängnisvolle Schwächung, die das "ungeschichtliche“ Neuerungsvermögen der Philosophie durch die, wenn auch meisterhafte, Darstellung ihrer Vergangenheit erlitten hat. Die Geschichte der Philosophie wird zum Bild der Gorgo, angesichts dessen die lebendige Philosophie erstarrt.

 

3. Der Komplex des "falschen Zitats". Er gehört zu jenen einerseits amüsanten, andererseits aber auch tiefer greifenden Reflexionen, an denen die deutsche Literatur eher arm ist, entsprechend der Grundstimmung, die hinter ihr steht und in ihr vorherrscht: "Ehrlichkeit", "Wissenschaftlichkeit“, was nicht mit intellektueller Redlichkeit zu verwechseln ist.

 

4. Ich arbeite sehr schnell.

 

5. Ich arbeite sehr langsam.

 

6. Das eine schliesst das andere nicht aus. Das langsame Arbeiten könnte schneller sein als das schnelle, nämlich was das Resultat anbelangt.

 

7. Dazu gehört allerdings auch, dass die Arbeit den Hindernissen nicht ausweicht, also dass es wirkliche Arbeit ist.

 

8. Bei Hindernisse, die immer grösser werden, kann das Tempo der Arbeit auf Null sinken.

 

9. Verzweiflung.

 

10. Die Qualität der Arbeit hängt ab vom Grad der Verzweiflung, die man bei der Arbeit noch aushalten kann.

 

11. Kant: Ein längeres Buch ist doch kürzer, ein kürzeres Buch doch länger. Das Buch wäre also kürzer gewesen, wenn es länger ausgefallen wäre. Das bezieht sich natürlich auf die bewältigten Schwierigkeiten. Das kürzere. Buch geht ihnen aus dem Wege.

 

12, Wirkliche Arbeit, bewältigte Schwierigkeiten: Zwei Wörter für ein und dasselbe.

 

13. Um nicht in Vergessenheit zu geraten, publiziert er jedes zweite Jahr ein Buch.

 

14. Was bedeutet dies?

 

15. Er kann sich die Langsamkeit des Arbeitens nicht leisten, nicht das schnelle Arbeiten, nämlich nicht jene Art der Arbeit, die zum Ziele führt.

 

16. Der geistige Widerstand, den das schnell entstehende Buch bewältigt, ist unbeträchtlich. Es sei denn, es handle sich um eine lang vorbereitete Explosion. Ein ausbrechender Vulkan verschleudert nicht nur Energie, sondern auch Zeit. Hunderte von Jahren. Er "bläst" die Entstehungsgeschichte seiner Explosion in die Luft.

 

17, Vorwurf: Du hast dieses Buch doch sehr schnell geschrieben. Antwort: Ich brauchte sehr lange dazu.

 

18. Die Entstehungsgeschichte dieses Buches: Der literarische Zustand war meistens nicht derjenige des Schreibens.

 

19. Diejenigen, welche die Entstehungsgeschichte nach Anzahl der gelesenen Bücher und der angeführten Zitate beurteilen. Der Mann war fleissig!

 

20. Wo der Widerstand so gross wird, dass die Arbeit nicht mehr weiter geht.

 

21. Die "schnellen" Autoren weichen dieser Schwierigkeit bewusst aus. Denn sie wollen zu Büchern kommen, nicht zu Erkenntnis.

 

22. Wo die Bewegung des Schreibens infinitesimal, gleich Null oder fast gleich Null wird, hört der literarische Zustand darum nicht auf. Im Gegenteil. Es könnte sein, dass. er dann gerade beginnt, sogar par excellence. Ein furchtbarer, aber auch ein fruchtbarer Zustand, vorausgesetzt, dass es gelingt, die infinitesimale Bewegung so zu erhalten, dass sie ganz unmerklich den Nullpunkt überwindet.

 

24. Das Infinitesimal der Bewegung vor, in und nach dem Nullpunkt.

 

25. Es drängt sich auf als Vergleich die Übertragung mechanischer Kräfte, die am langsamsten arbeitet, weil sie am meisten Widerstand überwindet. Sie gewinnt die Höhe am schnellsten. Ihre Bewegung würde dann infinitesimal, wenn sie sich vertikal erheben müsste. Sie wirkte dann in der genauen Linie der Gravitation. Dort ist es am schwersten, Es ist aber auch die genaue Linie der Gravidation (Gravidität). Die Linie des Schwererwerdens und des Schwangerwerdens. Dort ist es auch am fruchtbarsten.

 

26. Es geht beim Arbeiten nicht um den Autor, nicht um den Leser, sondern um ein Drittes, das über sie beide hinausgeht und ihr gemeinsames Interesse bilden sollte. Autor und Leser sind eine "Mannschaft". Eine "Mannschaft" war schon die "Akademie", die "Akademie" des Platon, der das geschriebene Wort verachtete. Warum? Wohl weil er annahm, dass man zu Menschen spricht, nicht schreibt, Das Schreiben war nicht die erste, aber die zweite Phase der Technik, die Technik des "innern Werkzeugs", der Sprache,

 

27. Es gibt Faulheit, die sich in der Faulheit, und eine Faulheit, die sich in der Tätigkeit gehen lässt, anders ausgedrückt: Trägheit in der Bewegung. Julian Huxley meinte dass die Biologen jener Zeit, die keine Kongresse versäumten, Charles Darwin nicht für sehr aktiv hielten.

 

28. Die Geselligkeit des Geistes ist dann besonders schwer zu definieren, wenn es sich um eine notwendige Ungeselligkeit handelt, nämlich jene Art von Ungeselligkeit, die den Enthusiasmus erzeugte von dem gerade die Geselligkeit lebt.

 

29. Ursprung und Geschichte der Philosophie. Noch elementarer: Das Philosophieren. Kein Philosoph kann einfach von vorn beginnen, Wahrscheinlich taten es " nicht einmal die Vorsokratiker. Wir kennen ihre Vorgänger nicht.

Wer zur Geschichte der Philosophie im Verhältnis des Zitierens steht, hat nicht begriffen, was Philosophie ist.

Geschichte der Philosophie ist da, um vergessen zu werden und so in das Philosophieren einzugehen, dass die ganze Geschichte der Philosophie sich wiederholt, aber als Reflexion auf höherer Ebene, als Reflexion auf die Reflexion.

 

30. Philosophie ist immer auch archaisch und archäologisch. In ihr wiederholt und bestätigt sich der Anfang.

 

31. Es geschieht Ungeheures. Es geschieht der Anfang (arché). Und wenn sich der Anfang bewegt, wie er sich bewegen sollte, bewegt sich auch das Ende. Der Anfang ist der Keim des Logos, der Logos spermatikos des Eschatons, des Endes.

 

32. Es gilt, das Urgestein der Philosophie zu erreichen. Es beklopfen, zerklopfen, zerkleinern und damit ein Gebäude errichten. Das tut jener nicht, der, eifrig zitierend, Philologie der Philosophie treibend, aus zehn Büchern ein elftes macht, wobei man nur hoffen kann, dass ihm nicht geschieht, was Lichtenberg befürchtet, nämlich: dass die zehn Bücher am Kopf des Autors vorbei in das elfte eingehen.

 

33. Vorsokratisch denken. Damit springt man über ganze Bibliotheken hinweg. Man wird dann die Erfahrung machen, dass die Bibliotheken nicht nur unter dem Sprung, sondern - wie durch Magie -, auch in ihm liegen.

 

34. Zitieren kann eine Meisterschaft sein. Philologie ist natürlicherweise kein Feind der Philosophie. Sie wird es nur allzu oft. Die furchtsamen Gemüter benutzen sie als Geländers das den Sturz in den Abgrund der Unbedeutendheit verhindern soll. Sie halten sich an Berühmtheiten. Die haben für sie gedacht, denken noch für sie.

 

35. Das höchste Lob: Er hat es gewagt, selbst zu denken. Die Geschichte der Philosophie lebt von diesen Anfängen.

 

36. Das zwanzigste Jahrhundert ist in der Philosophie weniger schöpferisch als das. neunzehnten Man erkennt es schon daran, dass die Philosophie, im Doppelsinne des Wortes, "gelehrter" geworden ist, im Sinne das historischen Wissens und im Sinne der Universitätsphilosophie, der an Universitäten gelehrten Philosophie, sagen wir es ruhig: der Studentenphilosophie.

 

37. Scholastik: Die Philosophie als schöpferischer Kommentar.

 

38. Wichtigkeit des schöpferischen Kommentars. Die drei philosophischen Hauptrichtungen des zwanzigsten Jahrhunderts, Existenzphilosophien Marxismus, und Phänomenologie/Ontologie, lassen sich auf Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts zurückführen: Sören Kierkegaard, Karl Marx, Brentano/Husserl.

 

39. Das zwanzigste Jahrhundert hat - am sichersten, wenn wir die deutsche Philosophie ins Auge fassen - das Pech, auf das am meisten schöpferische Jahrhundert in der Geschichte der Philosophie zu folgen. Es steht in der Reihenfolge im zweiten Range.

Das Absinken der Kurve: schöpferischer Kreativität ist vielleicht auf ein sehr begreifliches biologisches Tief zurückzuführen, wie wir es, noch frappanter, aus der griechischen Philosophie her kennen: die Epoche des Hellenismus nach derjenigen der grossen Philosophie.

Das zwanzigste Jahrhundert hat jede Entschuldigung, denn auch seine Leistungen sind beträchtlich - ausserdem unabsehbar wie ein Meer. Können wir uns damit begnügen? Keineswegs. Aus zwei Gründen nicht. Einmal weil Kulturgeschichte keineswegs nur die Angelegenheit eines kulturbiologisch zu bewertenden Leistungsstandards ist, sie untersteht vielmehr auch einem moralischen Gesetze. Die Moral "überfliegt" die Natur. Und so gilt, mit Kant zu reden: Du kannst, denn du sollst.

Der zweite Grund: Es geht, es muss gehen um das nächste Jahrhundert. Unter welchem Stern wird es stehen? Wird es gelingen, bis zum Jahre Zweitausend einen philosophischen Ansatz zu erarbeiten, der mehr verspricht, ergiebiger ist, länger durchhält als der stark historisch bestimmte des zwanzigsten Jahrhunderts?

In gewisser Hinsicht sollte nicht das zwanzigste, sondern das historisch unabhängigere neunzehnte Jahrhundert das Vorbild sein für das einundzwanzigste. Der Einstieg aber ins einundzwanzigste, er eröffnet sich, meine ich, bereits in diesem Jahrhundert.

 

 

Begleitbrief dazu vom 16.9.1979:

 

Lieber Herr Dr. Corti,

 

Was steckt dahinter? Der beigelegte Text soll schildern den "Geist hinter dem Geist" meines Vortrags am Winterthurer Symposium vom 19. Mai. Darin wird auch versucht, zu einem Urteil zu kommen über das Gesamtphänomen der Philosophie unseres Jahrhunderts, so weit wir es heute schon überblicken können. Unbestritten bleibt dessen Fruchtbarkeit. Es wäre jedoch der gültige "Rahmen" dieser Fruchtbarkeit zu definieren. Ausserdem wäre die Frage zu stellen nach der "Fruchtbarkeit dieser Fruchtbarkeit". Wie geht es weiter? Im 21. Jahrhundert? (S. 4)

 

Ein entscheidendes Versäumnis der Philosophie des 20. Jahrhunderts: Sie hat nicht den Mut, sie hat nicht das Herz der Philosophie das 19. Jahrhunderts, sie hat es nicht gewagt, Stellung zu beziehen, eine Bewegung zu vollziehen, die nun wohl dem 21. Jahrhundert vorbehalten bleibt: von der Naturwissenschaft übergreifend zur Geisteswissenschaft, von der Geisteswissenschaft mit ebensolcher Entschlossenheit zurück zur Naturwissenschaft. Ihre Sterilität: Sie verbleibt auf dem Boden der Geisteswissenschaft, ein Boden, der im 19. Jahrhundert doch noch sehr viel trag- und ertragsfähiger sein konnte.

 

Und da denke ich an eines Ihrer grossen Anliegen, nämlich die Relativierung das Unterschieds von Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft. Dieses Postulat, wir leben es. Der Mensch, als "Gegenstand" der Wissenschaft, gehört zugleich der Naturwissenschaft und der Geisteswissenschaft an. Warum die Trennung? Faktisch leugnet niemand, was die Theorie leugnet. Es leugnet niemand, was das Erlebnis jeden Tages, das Alltags ist. Aber die Theorie leugnet es, fährt fort, es zu leugnen.

 

In seiner Einleitung zu "Im Anfang war der Wasserstoff" spricht Hoimar v. Ditfurth von der "künstlichen und wirklichkeitsfremden Aufteilung der Wissenschaft in 'Geisteswissenschaft' und ‚Naturwissenschaft’." Es wird, wenn nicht alles täuscht, das Ceterum censeo des 21. Jahrhunderts sein.

 

Das philosophische 20. Jahrhundert hat nicht die Schwerarbeit geleistet, die ihm auferlegt war, es zog die leichtere Arbeit vor, die gebahnten Wege der Tradition. Demgegenüber ist die Philosophie des 19. Jahrhunderts nicht vorbildlich durch den Inhalt, sondern durch Tempo, Rhythmus, Energie des "Pinselstrichs" und das Existential philosophischer Kreativität, schliesslich auch durch den "Glauben", die philosophische Religio.

Der Ton tiefer Resignation der Philosophie des 20. Jahrhunderts, selbst ihrer "progressiven" Varianten, ist schwer zu überhören.

 

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