Aufsätze 2 von Hans F. Geyer Alfred North Whitehead Philosophie - Ende? Anfang?
Hirnereignisse und Denkereignisse Lebendige Bibel
Quer durch die Philosophie

Hans F. Geyer

 

Hirnereignisse und Denkereignisse

 

Zur Kritik der neurophysiologischen Vernunft

 

 

Diskurs über die Methode

 

Nietzsche meinte: «Die wertvollsten Einsichten werden am spätesten gefunden: aber die wertvollsten Einsichten sind die Methoden

Ziemlich genau vor 350 Jahren erschien der «Discours de la Methode» von Descartes. Heute stellt sich wieder einmal die Frage der Methode. Sind unsere Methoden noch zeitgemäss? Insbesondere die getrennt bleibenden Methoden der Naturwissenschaft und der Geisteswissenschaft? Entsprechen sie noch unserem innersten Gefühl, vor allem unserem Körpergefühl, das mit der Entwicklung des Sports eine neue Dimension erreicht hat? Das Körpergefühl erschliesst uns neue Einsichten, die wir noch nicht, oder doch nur teilweise, in der Literatur vermittelt finden.

 

Glauben wir wirklich daran, können wir noch daran glauben, dass wir einerseits einen Körper besitzen, der Gegenstand der Naturwissenschaft, andererseits einen Geist, der Gegenstand der Geisteswissenschaft ist? Ist es nicht vielmehr so, dass uns diese Trennung, je länger wir darüber nachdenken und nachsinnen, umso absurder erscheint? Drängt sich nicht, aus der elementaren Gegebenheit selbst, eine Korrektur der Methode auf, eine Korrektur, die ich zurückführen möchte auf einen Einbruch der Naturgeschichte in die Geschichte, denn dass der Körper in uns auch methodologisch seine Rechte verlangt, ist gerade ein solcher Einbruch, ein Einbruch, der, ausgehend vom elementaren Körpergefühl und den neuen Erkenntnissen der Naturwissenschaft, insbesondere der Evolutionstheorie, die geschichtlich erarbeiteten Methoden zwar nicht zerstört, nicht nutzlos macht, wohl aber relativiert.

 

Das bedeutet zuerst einmal einen Tabubruch, einen Tabubruch mit der bisher praktizierten naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Methode. Nehmen wir das Beispiel eines Begriffes, der im erwähnten Titel steht, das Beispiel eines zusammengesetzten Begriffes der «Kulturphysiologie». «Kultur» wird verbunden mit «Physiologie», ein geisteswissenschaftlicher Begriff mit einem naturwissenschaftlichen. Was hat «Kultur» mit «Physiologie» zu tun? Ist es nicht so, dass Kultur sich verändert, die unterliegende Physiologie des Menschen aber gleich bleibt, die Kultur sich geschichtlich verändert, die Physiologie naturgeschichtlich gleich bleibt, mindestens, wenn man nur in geschichtlichen und nicht auch in geologischen Zeiten und Räumen denkt?

Aber auch der Körper des Menschen steht in der Geschichte mitten drin. Auch er hat eine Geschichte. Und nicht nur eine Naturgeschichte. Es gibt UNE HISTOIRE DES CORPS, wie es Michel Foucault in dem ersten Band seiner «Histoire de la sexualité» formuliert. Müsste man also annehmen, dass es die UNBEFLECKTE EMPFÄNGNIS der Geschichte nicht gibt, dass Geschichte nicht unberührt bleibt von der Naturgeschichte, Naturgeschichte nicht unberührt bleibt von der Geschichte, dass Geschichte nicht einfach vorbeigeht an der Naturgeschichte, Naturgeschichte nicht einfach an der Geschichte, dass es im Grunde nur eine, wohl nie ganz zugängliche Geschichte gibt, nämlich die Naturgeschichte der Geschichte, die Geschichte der Naturgeschichte, die Geschichtsnatur der Geschichte, wie auch die Naturgeschichte der Geschichte?

 

Wenn dem so wäre, so müsste ein Umdenken methodologischer Art erfolgen. Das grosse Schisma der Methode, die Trennung der geisteswissenschaftlichen von der naturwissenschaftlichen, der naturwissenschaftlichen von der geisteswissenschaftlichen Methode, hat folgende Vorstellung begünstigt, die wohl nie ganz bewusst wurde: die Ontogenese des Menschen, wenn Sie so wollen, die Entwicklung und Auswicklung seines schon im Genom angelegten Seins, zusammen mit der Erziehung des Menschen und des Menschengeschlechts, spielt sich in der Geschichte ab.

Davon getrennt müssen wir uns vorstellen die Phylogenese des Menschen, seine Entwicklung in der Naturgeschichte, die ungeheuer viel langsamer passiert als in der Geschichte, so dass die Idee naheliegt: bis zur nächsten «Mutation» und der damit verbundenen «Selektion» geschieht in der «Geschichte der Naturgeschichte» nichts mehr.

 

Die Trennung der geisteswissenschaftlichen und der naturwissenschaftlichen Methode führt zur Trennung der Phylogenese und der Ontogenese des Menschen. Aber warum sollte die Phylogenese des Menschen «plötzlich» aufhören, wenn sie seiner Ontogenese begegnet, d. h. wenn ein Mensch geboren, erzogen, «gross» wird, geboren, erzogen in doppelter Hinsicht, in körperlicher und geistiger? Warum sollte die Phylogenese gleichsam auf ein «Stoppsignal» der Ontogenese stossen? Weil es unserer Methode so gefällt? Ich meine nicht. Deshalb der neue Diskurs über die Methode, 350 Jahre nach demjenigen von Descartes.

 

Der eigentliche Ursprung des «grossen Schismas» der Methode ist in einer vorwissenschaftlichen religiösen und philosophischen Normsetzung für die Wissenschaft zu suchen, eine religiöse und eine philosophisch-religiöse Normsetzung, die am Anfang der Kulturgeschichte des Abendlands steht.

Die erste Normsetzung, die religiöse, wir finden sie in der Bibel. Dort steht ein allmächtiger Geist, Jahwe, einer Natur gegenüber, die er als Stoff vorfindet, als Stoff formt. Der Geist Jahwes schwebt über den Wassern. Er senkt sein Bewusstsein in die Wasser ein. So entsteht die Schöpfung, als das «Anderssein» des Geistes Jahwes. Wir erkennen darin das Ur- und Vorbild der Hegelschen Vorstellung, dass der Geist die Natur aus sich «entlässt». Der andere Ursprung der Trennung der Methoden ist der griechische, vor allem der aristotelische. Mit Aristoteles wird die theoria vergöttlicht. Mit ihr erhebt sich der Mensch selbst zu Gott oder in die Nähe Gottes. Der göttlichen Tat der Schöpfung in der Bibel steht gegenüber die göttliche Kontemplation der griechischen Philosophie. Und in beiden Fällen gilt: «Geist» kommt vor «Natur», der Geist hat die Priorität, was folgt, ist die Natur, nicht der Geist geht aus der Natur hervor, sondern die Natur aus dem Geist, sei es nur. als die Praxis oder als die Theorie des Geistes.

Auch die Evolutionstheorie hat an dieser religiösen und philosophischen Normsetzung nichts zu ändern vermocht, denn auch hier noch trifft der Naturwissenschafter, etwa in der Gestalt Darwins, als Schöpfergott seiner Theorie auf. Denn Darwin sieht den Menschen aus der Natur hervorgehen, aber nicht den Menschen als Darwin, als den Schöpfer seiner Theorie. Was bedeutet: der Naturwissenschafter hat keinen «naturwissenschaftlich agierenden, handelnden, reflektierenden Körper», ebensowenig wie Jahwe und der Theoriegott des Aristoteles.

Anders ausgedrückt: die Neurophysiologie hat keine Vernunft, die Vernunft keine Neurophysiologie. Das Denken ist «hirnfrei», wenn auch nicht «hirnlos».

 

Idee einer neurophysiologischen Vernunft

 

Wir haben einerseits ein Nervensystem. Wir haben andererseits Gedanken. Da wird die Trennung der naturwissenschaftlichen und der geisteswissenschaftlichen Methode auffällig, da drängt sie sich auf.

Warum sollte das Nervensystem, bezüglich der Gedanken, «draussen» bleiben, warum die Gedanken bezüglich des Nervensystems? Hat denn das System der Gedanken mit dem System der Nerven nichts zu tun? Und wenn vielleicht doch, welcher Art ist denn diese Beziehung zwischen Nerven und Gedanken, zwischen Gehirn und Intellekt, zwischen Hirnereignissen und Denkereignissen? Ist sie materialistischer Art, wie Moleschott meinte, für den der Geist ein «Sekret» des Gehirns war? Oder ist sie idealistischer Art, wie Hegel meinte, nämlich so: der Geist «entlässt» die Natur aus sich, die Natur ist das «Anderssein» des Geistes? Da treffen die materialistische und die idealistische These aufeinander, zwei Thesen, die eng verbunden sind mit der methodologischen Trennung von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft.

 

Die Vernunft ist aus der Natur hervorgegangen. Wenn dem so ist, so ist sie auch nicht energiefrei, nicht frei von psychischer Energie, anders ausgedrückt: nicht triebfrei. Welche Triebe bewegen die Vernunft? Welche Gestalt nehmen die ratiologischen Triebe an? Welches ist der Ursprung dieser Triebe? Können wir diese Triebe mit rein psychologischen Mitteln wirklich erfassen?

Sind wir nicht genötigt, um ihre Genese zu verstehen, aus der Psyche herauszugehen, den psychologischen Rahmen zu sprengen und auch körperlich zu denken? Und körperliches Denken bedeutet für uns zuerst einmal neurophysiologische Denken. Wir nehmen also einmal an, stellen die Hypothese auf: Es gibt eine Neurophysiologie der Vernunft. Anders ausgedrückt: es gibt eine Struktur der Vernunft, die in Beziehung steht zur Struktur des Gehirns.

Dessen Neurophysiologie ist unheimlich kompliziert, nicht erschöpfbar, nicht zu erschöpfen. Aber es geht darum, nicht nur die Bäume, sondern auch den Wald zu sehen. Es geht auch darum, im Sinne einer neuen Methode gewisse naturwissenschaftliche Data in Beziehung zu setzen zu gewissen geisteswissenschaftlichen Data, so dass sich eine sinngemässe Synopsis ergibt. Da erweist sich die Wahl einer Einteilung als zweckmässig, nämlich die Einteilung des Gehirns in Stammhirn, Zwischenhirn und Grosshirn.

 

Das Stammhirn, eine Art von «Messapparat», sichert die vegetativen Funktionen. Auf seine «Messungen» in der Blutflüssigkeit geht beispielsweise das Gefühl des Hungers, das Gefühl des Durstes zurück. Die Funktionen des Stammhirns betreffen die Innenwelt des Organismus.

Grundlage der instinktiven Funktionen, welche auf die Aussenwelt des Organismus gehen, sowohl beim Tier wie beim Menschen, ist das Zwischenhirn. Das zwischenhirnlich bestimmte bewegende Prinzip der instinktiven Formen des Verhaltens nennen wir die Grundtriebe. Die körperliche Grundlage unseres bewussten Erlebens ist das Grosshirn. Wir nehmen aber auch an, dass das Grosshirn das neurophysiologische Fundament des Geisttriebs ist, eine Hypothese, mit der wir uns noch befassen werden.

 

Ja, der Geisttrieb. Eine Hypothese, die wohl auf grossen Widerstand sowohl der naturwissenschaftlichen wie der geisteswissenschaftlichen Fraktion der wissenschaftlichen Welt stossen wird. Warum? Weil dadurch, gerade dadurch, das durch die vorwissenschaftliche religiöse und philosophische Normsetzung bedingte Tabu am meisten und am schmerzlichsten verletzt wird. Aber es ist nicht einzusehen, warum das bedeutendste Organ des Menschen, das menschlichste, das eigentlich menschliche, nämlich das Grosshirn, über keine psychische Motorik verfügen sollte. EPPURE SI MUOVE. Auch gegen die Normsetzung. Das Grosshirn ist ein Organ. Organe verfügen über Triebe, Triebe über Organe. Eine elementare psycho-physische Entsprechung, die entscheidend sein wird für unsere Konzeption der Psychogenese des Menschen.

 

Die Psychogenese. Es handelt sich um einen Versuch über die Menschwerdung der Tierseele. Der körperliche Ursprung des Menschen ist leichter festzustellen als der seelische. Von der Seele der archäologischen Toten bleibt nichts übrig, es sei denn Reste, von denen man auf eine menschliche Aktivität schliessen kann, so Werkzeuge und Feuerstellen. Wohl aber vom Körper. Beispielsweise Knochen. Das lässt Schlüsse zu, sehr weitgehende, sehr scharfsinnige.

Wo aber ruhen die «Knochen» der Seele? Nicht in der Erde und nicht in den Gräben. Sondern im lebenden Gehirn selbst. Es gibt die archaischen Hirnteile. Als solche bezeichnen wir das Stammhirn und das Zwischenhirn. Es gibt also auch eine Archäologie des Gehirns, die zusammengesehen werden kann mit einer Archäologie der Seele. Die archaischen Hirnteile? Nun, sie sind noch ganz lebendig, ganz modern, keineswegs veraltet, obwohl ihr Ursprung ein bis anderthalb Milliarden Jahre zurückliegt.

 

Aber nun näher gesehen: Wie steht es mit der Menschwerdung der Tierseele aus der Sicht der neurophysiologischen Vernunft, die wir auch eine kulturphysiologische Sicht nennen könnten, aus der Sicht einer Ratiologie, einer Vernunftlehre, die zugleich als eine Kulturphysiologie des Gehirns auftreten möchte?

Wir fragen uns vor allem, wie es zur weithin reichenden Differenzierung der tierischen Triebe kommen konnte, die zu dem geradezu unendlichen Reich der Antriebe geführt hat, ein Reich, das die ganze Menschheitsgeschichte unverwechselbar prägte und prägt. Unsere Antwort: die tierischen Grundtriebe, deren organische Basis das Zwischenhirn ist, gehen eine Verbindung ein mit dem Geisttrieb, dessen organische Basis das Grosshirn ist. Beide zusammen, begleitet wie von einem basso continuo durch den stammhirnlichen Drang, bilden die Antriebe, unter deren Herrschaft und deren Dynamik der Mensch in die Geschichte eingeht - damit wäre die der Morgendämmerung der Geschichte unterliegende Triebgeschichte und Triebstruktur in ganz groben Zügen geschildert.

 

Als Grundtriebe gelten uns beispielsweise der Geschlechtstrieb, der Nahrungstrieb, der Brutpflegetrieb, der Gemeinschaftstrieb. Sie finden sich als Instinkte oder Verhaltensformen, patterns of behaviour, beim Tier wie beim Menschen. Beim Menschen aber, versetzt und durchsetzt mit dem Geisttrieb, erscheinen sie nicht als «reine» Triebe, sondern als Antriebe. Der Geisttrieb ist der Sinn- und Ordnungstrieb. Die ihm gegenüber stehenden Grundtriebe stellen das biologische und zugleich ethische Potential, auf das sich der Geisttrieb stützt, biologisch etwa als Nahrungstrieb, der Erhaltung des Individuums dienend, oder als Geschlechtstrieb, der Erhaltung der Art dienend, ethisch als Gemeinschaftstrieb, der sich, verbündet mit dem Geisttrieb, zum moralischen Imperativ entwickelt.

 

Die Verbindung von Geisttrieb und Grundtrieben erzielt, was man einen multiplen Effekt nennen könnte. Damit ist ein anthropologisches Grundprinzip angesprochen, das eine Analogie darstellt zu dem «Parlament der Instinkte» von Konrad Lorenz. Denn es gibt ja auch ein «Parlament der Antriebe».

Gesellschaft sagt man, beginnt mit mindestens zwei Menschen, was auch für die «Gesellschaft» der Triebe gilt: der Geisttrieb, zusammen mit mindestens einem Grundtrieb. Meistens sind aber mehrere Grundtriebe beteiligt.

Nehmen wir als sozioanthropologisches Beispiel ein Hochzeitsmahl. Die Vermählung hat in vielen Ländern noch eine religiöse Grundlage, sie ist ein Sakrament. Aber auch der Ziviltrauung unterliegt eine geistige Intention. So steht hinter dem Hochzeitsmahl, religiös oder politisch fundiert, der Geisttrieb. Unmittelbar leuchtet ein, dass mindestens noch zwei weitere Grundtriebe im Spiel sind: der Hunger, allerdings bereits wieder geistig versetzt als «Appetit», denn es geht ja nicht um die blosse Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern es handelt sich um ein gehobenes Mahl zur Feier des Anlasses, ebenfalls wieder geistig beeinflusst durch erotisch-psychische Momente, ausserdem steht hinter der Erscheinung der Braut die «Arbeit» der Vorbereitung wie hinter der Präsentation des aufgetischten Mahls, das Aussehen der Braut ist ungewöhnlich, ebenfalls ihr Kleid. Zwanglos könnte man weitere assoziierte, ebenfalls geistig besetzte Grundtriebe anführen, so den Brutpflegetrieb, den Gemeinschaftstrieb.

 

Als antikes Beispiel für die Verbindung eines Grundtriebs mit dem Geisttrieb führen wir die Einsicht der platonischen Diotima an: sie spricht von der Energiespende der Leidenschaft an die Vernunft im Verlaufe des erotischen Prozesses. Der Eros wird aufgefasst als eine Vereinigung des Sexus mit dem Geisttrieb. Irgendwie eine Urwahrheit, die sich immer wieder bestätigt, bestätigen muss. Also ein philosophischer Archetyp. Ein philosophischer Archetyp? Was habe ich getan.. dazu getan? Ich habe ihn nur «ausgegraben», fast nolens volens - mehr nicht.

 

Und die Quintessenz dieser Überlegungen? Die Vernunft, die neurophysiologische, als Inbegriff des « Parlaments der Antriebe», wird zu einer leidenschaftlichen und dabei ebenso produktiven wie kreativen Fähigkeit. Sie wird zur «Passion der Passionen>:, aber auch, wie Pascal sagen würde, zu deren «esprit de géométrie». Sie ist Leidenschaft, heiss, kalt, kalt, heiss, durchaus aber Leidenschaft.

Und es muss nochmals gesagt werden, gegen die «erstarrten» Landschaften der Vernunft, deren es viele gibt: EPPURE St MUOVE. Wer oder was bewegt sich? Die Vernunft als neurophysiologische Vernunft, die Vernunft als kalte und heisse Leidenschaft, die Vernunft als Geisttrieb und Grundtrieb, also als Antrieb, besser noch: als Antrieb der Antriebe.

 

Exteriorität der Hirnereignisse

 

Die Hirnteile sind räumlich getrennt. Anatomisch liegen die archaischen Hirnteile «unter» dem Grosshirn. Aber auch physiologisch gilt, dass die Hirnteile verschiedene Funktionen haben, im Zusammenhang ihrer räumlichen Lagen und der Verbindungen, die sich daraus ergeben. So erscheint das Gehirn nicht als ein Ganzes. Es wird in dieser Sicht durch seine Physiogenese, durch seine Physiologenese und schliesslich auch durch seine Psychogenese zu einer «Addition», zu einer Summe. Denn die räumliche Exteriorität überträgt sich auf die zeitliche. «Zuerst» waren die archaischen Hirnteile da, das Grosshirn entwickelte sich «später». So wie man arithmetisch ausführen könnte: Ich füge zu der einen Eins noch eine zweite hinzu.

 

Aber nicht nur das. Die Philosophie der «Summierung des Diskreten» überträgt sich auch auf die Verbindungen zwischen den einzelnen Hirnteilen. Diese formieren auch kein Ganzes, sie kommen zu den einzelnen Teilen «hinzu». Das «System» wird dadurch allerdings komplizierter und unübersichtlicher, aber es bleibt bei der summarischen Methode und der Summierung. Es bleibt bei der Exteriorität der Teile und von deren Verbindungen, und es bleibt bei der Vereinzelung der Teile und der Verbindungen, die wie ebenso viele res extensae des Descartes im Raum nebeneinander, untereinander und übereinander liegen.

 

Natürlich ist diese Methode zuerst einmal die Methode der Naturwissenschaft. Mehr noch: sie muss es sein. Die «Summe» ist wichtig, wichtig sind auch die « Summanden». Denn wir können nicht wissenschaftlich, wir können nicht philosophisch, wir können nicht kulturphysiologisch über das Gehirn nachdenken, wenn wir nicht aus anatomischer, physiologischer und psychologischer, aus physiogenetischer, physiologenetischer und psychogenetischer Sicht über eine Synopsis verfügen, eine Synopsis der Teile als Summe, die zuerst einmal eine solche bleibt, die aber dann über sich hinausführen soll. Nur die Sicht der Summe führt zur Sicht des Ganzen.

 

Trotzdem auch in der Genese die einzelnen Hirnteile getrennt auftreten, ist gerade die Genese selbst ein mächtiger Ansporn dafür, über das Ganze des Gehirns nachzudenken. Denn dieses Ganze, das mehr ist als die Summe seiner Teile, ist in der Genese «vorweggenommen», allerdings nicht als festgelegter Plan, als festliegendes Ziel, sondern als viele Pläne, viele Ziele, die zugleich dem Zufall, dem kontingenten Geschehen, wie einer teleonomischen und schliesslich teleologischen Notwendigkeit unterworfen sind, die bei weitem noch nicht ergründet wurde.

Das geht schon daraus hervor, dass die Naturwissenschaft die Kategorie des «Wozu» nicht entbehren kann, obwohl sie sie nachher «künstlich» abschafft, etwa in der Theorie des Neodarwinismus. Was als «diskrete» Summanden erscheint, das fasst die «fliessende» Zeit der Evolution zu einem Ganzen zusammen, so dass das Prinzip der «Diskretion» als eine vorbereitende Heuristik bewertet werden muss, die späteren Reflexionen methodologisch vorangeht.

 

Die Exteriorität des Gehirns steht also in einem eigentümlichen Verhältnis zum Bewusstsein (das man dessen « Interiorität» nennen könnte), ebenso dessen Hirnereignisse zu dessen Denkereignissen, das, was wir als das umfassende «Sein» des Gehirns ansprechen, zu seinem Seienden, das sich ja gliedert einerseits in körperliche, also neurophysiologische Vorgänge, die sich abspielen in der Exteriorität, und in psychische Vorgänge, die sich offenbaren im Bewusstsein.

Natürlich würden wir gerne wissen, welcher Art die «Natur» des Gehirns, welche dessen verborgene «immanente Form» ist. Das Sein des Gehirns wird uns nicht ganz entgehen, wird nicht ganz im Dunkel bleiben, wenn wir berücksichtigen, dass methodologisch eben kein «Sprung» ins Zentrum des gehirnlichen Seins möglich ist, sondern nur die geduldige Erforschung sowohl der Exteriorität der Hirnereignisse wie der Interiorität der Denkereignisse und die Reflexion über ihre wirklichen und möglichen Beziehungen, eine Reflexion, die insofern den Charakter des unendlichen Urteils a gleich nicht b hat, als sie ja die Denkereignisse voraussetzt.

 

Interiorität der Denkereignisse

 

Geht die Naturwissenschaft von der Exteriorität der Hirnereignisse aus, so die Geisteswissenschaft von der Interiorität der Denkereignisse. Sowohl die Hirnereignisse wie die Denkereignisse können aufgefasst werden als je eine Abfolge von Seiendem, die zusammen das «Sein» des Gehirns ausmachen. Ignoriert die Naturwissenschaft das «Ganze» des Gehirns, so abstrahiert die Geisteswissenschaft von den Hirnteilen, also von dessen Exteriorität.

Die Gründe, die für dieses Verfahren sprechen, sind methodologischer, vor allem heuristischer Art. Man geht vor nach dem Descarteschen Prinzip der geteilten Schwierigkeiten, also des leichtern Zugangs, des zuerst einmal überhaupt möglichen, des unmittelbar zugänglichen Anfangs.

Unmittelbar zugänglich sind nun einmal für die Naturwissenschaft die Exteriorität der Hirnteile, für die Geisteswissenschaft die Interiorität des Bewusstseins. Diese Verkürzungen des Zugangs zum «Sein» des Gehirns sind dann erlaubt, wenn die Vorläufigkeit der Methode erkannt und in den Erwartungen berücksichtigt wird. Sie ist aber dann eine erkenntnistheoretische Sünde, wenn die These aufgestellt wird, ein Anderes und Besseres sei nicht möglich, wenn also die vorläufige und vorlaufende Methode verabsolutiert wird.

Es ist die erkenntnistheoretische Sünde der klassischen Vernunft, in deren Spielarten des naturwissenschaftlichen und des geisteswissenschaftlichen Cogito. Einerseits sollen die exterioren Data letzten Aufschluss geben über das «Sein» des Gehirns, andererseits die interioren über das Seiende der Phänomene des Bewusstseins. Das naturwissenschaftliche und das geisteswissenschaftliche Cogito werden nicht aufeinander bezogen, sie bleiben getrennt. Der «Sprung ins Sein» des Gehirns wird aber weder der Reinkultur der naturwissenschaftlichen noch der geisteswissenschaftlichen Methode gelingen.

 

Immerhin gilt, dass wir uns mit dem Erlebnis der Interiorität der Denkereignisse, dem Erlebnis des Bewusstseins, bereits im Ziel befinden. Denn offenbar ist das Ziel, die Entelechie des Aufbaus der Hirnereignisse, der Aufbau der Denkereignisse. Wir befinden uns im Ziel aber nur faktisch. Wir wissen nicht, wie wir an dieses Ziel gelangten.

Es fehlt uns die Erkenntnis der Genese, die wissenschaftliche Eruierung des Wegs, den die Hirnereignisse, darüber hinaus die ganze Evolution, bis zu dessen Erreichung zurückgelegt haben. Obwohl die Faktizität oder auch, erkenntnistheoretisch und wissenschaftlich gesprochen, Kontingenz der Denkereignisse nicht zu leugnen ist, haben sie, als letzte Phase der Entwicklung, eine erkenntnistheoretische Priorität vor den Hirnereignissen. Diese «Priorität» der Denkereignisse, dieser «Primat» der Interiorität des Gehirns, ist sowohl ein Primat der theoretischen wie der praktischen Vernunft.

 

Der erwähnte Primat ist umso erstaunlicher, als das, was wir zuerst einmal im Bewusstsein vorfinden, nur diese Vagheit des Cogito ist, eine Vagheit, deren sich von jeher die religiöse und metaphysische Kühnheit unbedenklich bemächtigte, um ihre Begriffsgebäude zu errichten.

Der Primat der Interiorität ist aber in sich selbst dialektisch. Er ist ja auch, erkenntnistheoretisch gesehen, der Primat auf dem Gebiete der Exteriorität, insofern nämlich, als die Erkenntnis der Hirnereignisse den Gesetzen des Bewusstseins untersteht, also den Gesetzen der Verknüpfung von Bewusstseinserlebnissen, deren individuellhistorische Kontingenz, trotz aller logischen Disziplin und Disziplinierung, nicht geleugnet werden kann.

 

Das Verhältnis der Exteriorität der Hirnereignisse und der Interiorität der Denkereignisse? Es ist zugleich von der beweisbaren und der unbeweisbaren Art. Nirgendwo ist uns, was wir die «Faktizität der Theorie» nennen können, näher als gerade hier. Durch die Theorie wird das Faktum zuerst eingeordnet, seine blosse Vorfindlichkeit, seine Faktizität zuerst einmal überwunden. Es wird Teil einer Ordnung, eben der theoretischen.

Aber diese Ordnung ist vorläufig. Sie verlangt andere Ordnungen und dann wieder andere. Warum? Weil die Exteriorität der Ereignisse überhaupt im Grunde unüberwindbar ist. Es bleibt immer ein unerkannter Rest. Diese Unüberwindbarkeit des Gegensatzes von Innen und Aussen rückt nun im Falle der Hirnereignisse und Denkereignisse auf den kleinstmöglichen Raum zusammen - den Raum des Schädels.

Es ist exteriore Nähe, es ist interiore Nähe. Da ist die res cogitans der res extensa, das denkende «Ding» dem räumlichen, am nächsten. Die Hirnereignisse finden sich nicht und finden sich wohl in den Denkereignissen. Dasselbe gilt für die Denkereignisse. Die Entsprechung ist da, aber sie ist von der unvollständigen, von der beweisbaren und der unbeweisbaren Art. Also Entsprechung, aber freischwebende.

John C. Eccles definiert die Beziehung von Hirnereignissen und Denkereignissen in «Das Ich und sein Gehirn» so: als eine «Interaktion», die «bis zu einem gewissen Grade Korrespondenz ergibt, aber nicht Identität».

 

Das neue Denken

 

Denken ist zugleich ein biologischer und ein kultureller Prozess, je nachdem, wie man den Akzent verschiebt, ein biokultureller oder ein kulturbiologischer Prozess. Auf den ersten Blick wirkt der Satz banal. Erleuchtet jedermann sofort ein. Aber weder im theologischen, noch im philosophischen noch wissenschaftlichen Denken wurden die Konsequenzen aus dieser Erkenntnis gezogen.

Um in unseren Reflexionen weiterzukommen, verwenden wir einen Schlüsselbegriff, denjenigen der Abstraktion. Aber wir verändern, vor allem wir erweitern ihn. In unserem Verständnis ist Abstraktion keineswegs nur (Hä Begriff des Denkens. Sie ist auch ein Begriff des Lebens, des menschlichen Körpers, des menschlichen Organismus, des Gehirns als Organismus, also der Hirnereignisse. Sie ist aber auch ein Begriff des Lebens überhaupt, also des tierlichen und des pflanzlichen.

Das Leben, der Organismus, steht zur Aussenwelt im Verhältnis des Wählens, Auswählens, des Abziehens, des Herausziehens, auch der Verwesentlichung. Denn der Organismus kommt zu seinem Wesen nur, wenn er das ihm Gemässe, seiner Ernährung Gemässe, richtig auswählt, um es zu assimilieren und dem Stoffwechsel zuzuführen. In diesem Sinne verhält er sich zu seiner Umwelt «abstrakt». Den Organismus interessiert nicht die ganze Welt, sondern nur, was für seinen Unterhalt, seine Selbsterhaltung nützlich, zu seiner Verwesentlichung dienlich ist.

Im Bereiche des Menschen hat der Prozess der Abstraktion organisch längst begonnen, bevor er organologisch, als Denken, beginnt, die organologische Abstraktion aber ist die sinngemässe Fortsetzung der organischen.

 

Das Denken, wie es bisher verstanden wurde, basiert auf der kulturellen Abstraktion. Diese baut auf auf dem Fundament der biologischen Abstraktion des menschlichen Körpers. Da sich aber die organische Abstraktion von der organologischen, oder wenn man so will: die naturgeschichtliche Abstraktion unseres Körpers von der geschichtlichen unseres Leibes, die biologische Abstraktion von der kulturellen nicht trennen lässt, so sprechen wir, je nachdem, wie der Akzent gesetzt wird, von einer biokulturellen oder einer kulturbiologischen Abstraktion.

 

Wie aber stellt sich nun im Raume der biokulturellen oder kulturbiologischen Abstraktion das abstraktive Verhältnis von Hirnereignissen und Denkereignissen dar? Bisher war nur von einer Abstraktionsebene die Rede, nämlich von der grosshirnlichen, und zwar immer auch implicite, da ja die Beziehung von Hirnereignissen und Denkereignissen nicht berücksichtigt wurde.

Diese Beschränkung auf eine und nur eine Abstraktionsebene finden wir zuerst in der Theologie, dann auch in der Philosophie, und schliesslich, im Sinne der vorwissenschaftlichen religiösen und philosophischen Normsetzung, auch in der Wissenschaft. Es wurde unter dem Einfluss der Normsetzung nicht berücksichtigt, dass man sich die abstraktive Tätigkeit nicht nur geistig, sondern auch körperlich vorstellen muss. Es hängt damit zusammen, dass das ursprünglich theologische Bild des Körpers als servus spiritus, als Sklave des Geistes, sich auch in Philosophie und Wissenschaft als unbewusste Säkularisation in kryptoreligiöser Form durchgesetzt hat.

 

Demgegenüber nimmt die Kritik der neurophysiologischen Vernunft drei Abstraktionsebenen an, nämlich diejenigen des Stammhirns, des Zwischenhirns und des Grosshirns. Wie erwähnt, stand und steht die Tradition im Banne der grosshirnlichen Abstraktion.

Der Begriff der Abstraktion im Bereiche der neuralen Wirksphäre muss erweitert und bereichert werden durch die Begriffe der stammhirnlichen und der zwischenhirnlichen Abstraktion. Sowohl die Tätigkeit des Stammhirns wie die des Zwischenhirns und des Grosshirns ist im Gebiet der Hirnereignisse angesiedelt, ein Gebiet, das aber auch organologisch, also mit Beziehung auf die Denkereignisse, zu interpretieren ist, so dass sich die organische Abstraktion auf eigentümliche Weise mit der organologischen verbindet, anders ausgedrückt: die körperliche Abstraktion auch mit der geistigen.

 

Nun wird man fragen: Wie kommen die drei Abstraktionsebenen zusammen? Wie bilden sie zusammen ein Urteil? Wie muss man sich die Beziehung der Hirnereignisse des Stammhirns und des Zwischenhirns zu den Denkereignissen vorstellen? Gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen den Hirnereignissen des Stammhirns und des Zwischenhirns und den Denkereignissen?

Einen direkten Zusammenhang gibt es nicht. Wohl aber durch die Vermittlung des Grosshirns. Im grosshirnlichen Urteil wirken mit die stammhirnlichen und zwischenhirnlichen Abstraktionsebenen, und zwar ebensosehr durch ihren ratiomorphen, man könnte auch sagen präreflexiven Anteil, wie durch ihre Gefühls- und Empfindungsstrukturen. Im stammhirnlichen Einfluss erkennen wir die Sorge um das Überleben des Organismus, der zwischenhirnliche Einfluss stützt sich auf die Grundtriebe.

 

Die Tradition des grosshirnlichen Urteils, das die verschiedenen Abstraktionsebenen ignoriert oder «überfliegt», geht auf die klassische Vernunft zurück. Das Cogito der klassischen Vernunft scheint von nirgendwoher zu kommen. Es hat anscheinend keine «körperliche» Vergangenheit. Es ist farblos, oder es hat die «weisse Farbe» des Urteils.

Wie konnte die Theorie der «weissen Farbe» des Urteils entstehen? Das farblose Urteil hängt eng zusammen mit der Substantivierung und Personalisierung des Urteils der klassischen Vernunft. Man spricht von der Vernunft. Die Vernunft wird vorgestellt als ein «Ganzes» ohne erkennbare Teile, als reine Interiorität ohne Exteriorität. Man weiss auch nicht, welchen energetischen Ursprung sie hat, oder wenn man vom «Willen» spricht wie Kant, so bleibt der Zusammenhang mit dem menschlichen Körper verborgen.

Es ist auch richtig, dass das Bewusstseinsphänomen des Cogito über die Herkunft des Urteils nichts verrät. Es ist denn auch so, wie wenn die verschiedenen «Spektralfarben» des Urteils, entsprechend seiner verschiedenen Herkunft, entsprechend auch der ihm unterliegenden Dynamik der Hirnereignisse, unbemerkt «zusammenschiessen» würden zu der «weissen Farbe» des Urteils, so dass die These der substantivierten und personalisierten Vernunft sich auf ein Bewusstseinsphänomen stützen kann. Ein Phänomen allerdings, das einer « phänomenologischen Reduktion» zugeführt werden muss.

Wo soll die «Reduktion» stattfinden? Im menschlichen Körper, unmittelbar in der neuralen Wirksphäre. Um die bereits angedeutete physikalische Metapher zu Ende zu führen: die «weisse Farbe» des Urteils der klassischen Vernunft muss gebrochen werden im Prisma einer Kritik der neurophysiologischen Vernunft, so dass die «Farben der Herkunft» unserer Urteile wieder erscheinen, erscheinen können.

 

Erschienen in: Einspruch, Nr. 2/ April 1987, 7-12

Es handelt sich um einen vollständigen Nachdruck eines Vortrags, vermutlich aus dem Jahr 1986, den Hans F. Geyer mit folgenden Worten eröffnete:

 

Meine Damen und Herren,

Der Vortrag stützt sich auf folgende drei Werke: "Physiologie der Kultur" (erschienen im Frühling 1985 im Insel Verlag), "Kritik der neurophysiologischen Vernunft" (das Manuskript wird gegenwärtig im Insel Verlag gelesen) und "Sturz der klassischen Vernunft" (an dessen Manuskript ich gegenwärtig arbeite).

 

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