Aufsätze 2 von Hans F. Geyer Alfred North Whitehead Philosophie - Ende? Anfang?
Hirnereignisse und Denkereignisse Lebendige Bibel
Quer durch die Philosophie

Hans F Geyer

 

Quer durch die Philosophie

 

(Das letzte Manuskript)

 

 

MITLEID DURCH UNMENSCHLICHKEIT. Man könnte die private Mildtätigkeit (auch die organisierte) in Zweifel ziehen. Bestätigt sie nicht gerade die Unmenschlichkeit der Gesellschaft, die das Almosen überhaupt notwendig macht? Weiter entwickelt würde dieser Gedanke allerdings bedeuten, dass kein Mensch für den andern ein «Almosen» sein solle. Die Gesellschaft wird mit Hilfe des Staates zum Apparat, zur Apparatur. Der einzelne soll sich nicht vor- und eindrängen, da er sonst des Almosens verdächtigt wird. Die Teilnahme von Mensch zu Mensch kann aber kein Almosen sein. Sie geht weit über die finanzielle und soziale Hilfe hinaus. Insofern sind wir alle «Almosenempfänger» und «Almosengeber».

 

 

WIE MIR DIE GEDANKEN KOMMEN. Irgendwie erinnert mich die Herkunft meiner Gedanken an das Zimmer, in dem Lichtenberg wohnte und das er spinozistisch als einen Teil seines Ich empfand. Aber das Zimmer ist ungeheuer gross. Es umfasst die ganze Natur. Ego sive natura. Es umfasst das ganze Universum. Und vor allem: es umfasst meinen ganzen Körper - das Universum im kleinen. Die Bedeutung des menschlichen Körpers für das sich entwickelnde Denken ist kaum abzuschätzen. Sie ist darin zu suchen, dass sich der Körper noch nie, nie, nie für ein Ego entschlossen hat. Er widerstrebt dieser Disziplinierung. Ja, es ist seine für das Denken sehr wichtige Funktion, dass er dessen Disziplin, auch wenn sie hergestellt ist, immer wieder sprengt. Der Körper ist kein Ego, oder vielmehr, er ist eine unabsehbare Menge von Egos, von möglichen Egos. Der Körper ist das «Bergwerk» der Egos. Aus seinen tiefen Schichten steigen sie auf, immer wieder anders und immer wieder andere. Es ist vielleicht das unsterbliche Verdienst des Dadaismus, dass er, gegen die gesamte Tradition des abendländischen Rationalismus, die Brüchigkeit der Konstruktionen des rationalen Ego angegriffen und damit die Bedeutung der körperlichen Unendlichkeit möglicher Egos entdeckt hat. Cogito ergo sum. Wer spricht in dieser ersten Person und welcher Art ist das Sein, das daraus folgt? Diese Frage hat sich Descartes nicht gestellt, hat demnach auch nicht auf sie geantwortet, ja das Problem konnte ihm nicht einmal gegenwärtig werden gemäss der Bewusstseinslage der damaligen Zeit.

 

 

DER AUSSENSEITER IN DER PHILOSOPHIE. Das 19. Jahrhundert ist wohl das bedeutendste philosophische Jahrhundert der Moderne, zu vergleichen mit dem 4. Jahrhundert der Antike. Das 20. Jahrhundert fällt gegen das 19. ab, wenn es ihm auch im Rang unmittelbar folgt. Das erkennt man am besten an der Rolle, welche die Aussenseiter, verglichen mit dem 20. Jahrhundert, in der Philosophie des 19. Jahrhunderts gespielt haben: Kierkegaard, Marx, Schopenhauer und Nietzsche. Aber ein anderer, bisher nicht bekannter Aspekt wäre zu erwähnen. Die Rolle der «universitären» Aussenseiter: Fichte, Schelling und Hegel. Sie waren höchst eigenwillige und ursprüngliche Denker, gar nicht nach dem « universitären» Zuschnitt des philosophischen «Schriftgelehrten». Wie kamen sie an die Universität, wie begann ihre Karriere? Da war ein anderer Aussenseiter am Werk, ein gewaltiger: Goethe. Fichte, Schelling und Hegel lehrten zuerst an der Universität Jena, im Herzogtum Weimar, wo Goetlie als Kultusminister massgebend war. Der Aussenseiter für die Aussenseiter! Einmal legitim begonnen, liess sich die Universitätskarriere fortsetzen.

 

Welches ist die Funktion des Aussenseiters nun insbesondere in der Philosophie? Er hat ein ganz besonderes Verhältnis zur Geschichte der Philosophie, zu den Phi!osophen, welche die Geschichte der Philosophie machten. Natürlich nicht ein referierendes, philologisches. Der Aussenseiter sieht die Bruchstelle, er sieht, wie der Philosoph, der Geistesgeschichte machte, angefangen hat. Der Neuanfang dient ihm nicht als Vorbild, denn neu angefangen wird immer wieder anders. Aber er erkennt die «transzendentale Übersetzung» der philosophischen Sprachen ineinander.

 

Nehmen wir als Beispiel den Übergang der Philosophie Kants zu derjenigen Fichtes. Das Ich als die « transzendentale Einheit der Apperzeption» Kants, eine bloss formale Grösse, die den Regeln des Erkennens zugrunde liegt, wird bei Fichte zur weltenschaffenderi Macht des Ich, das sich sein «Nicht-Ich» durch gegenseitige Einschränkung und Hemmung wieder zusammenbringt. Dadurch wurde der Eingang und Übergang des formalen Ich Kants in die Naturgeschichte und Geschichte möglich, die dann allerdings erst Schelling und Hegel schufen.

 

So könnte man die Abfolge der Philosophien in der Geschichte der Philosophie als eine Kette von Fehlinterpretationen und Missverständnissen sehen. Eine neue Philosophie entsteht durch die «Schieflage» der alten. Sie entsteht auch durch «gewaltsames Lesen», Anderslesen der tradierten Philosophie, ein Lesen, das ihr Gewalt antut. So hat sich denn auch Kant entrüstet gegen Fichtes Ausdeutung seiner Philosophie in dessen «Philosophie der Offenbarung» gewehrt. Er fühlte sich missverstanden. War es auch. Aber eben so beginnt eine neue Philosophie, als eine Art «Explosion» der alten. Die « Explosion» der transzendentalen Einheit der Apperzeption Kants wurde zum weltschaffenden Ich Fichtes.

 

 

TOD, ENDE, ENDGÜLTIGKEIT. Sind sie nicht der grosse «Trost» des Lebens? Nicht dass der Tod das Ziel des Lebens wäre. Auch nicht jene disziplinierende, gewissermassen zur «Leistung vor dem Ableben» verpflichtende Macht eines Heidegger. Nein, der Tod ist gegenwärtig als Endgültigkeit vor jedem kräftigen Akt des Lebens. Denn das Leben trägt lebenslang den Stempel der Endgültigkeit auf der Stirne. Also auch den Stempel des Todes. Mit jedem Akt des Lebens stirbt eine Möglichkeit. Endgültig. Wie aber verbindet sich diese Endgültigkeit mit dem geradezu wollüstigen Gefühl ihrer Endlichkeit? Die Zukunft liegt vor uns wie ein tausendäugiges Ungetüm. Es sind die tausend Augen ihrer Möglichkeiten. Wenn aber die Tat geschieht, die unser Schicksal bestimmt, so bleibt nur ein Auge übrig, dem es gegeben ist, in die Zukunft zu blicken. Alle andern sind ausgerissen. Das Ereignis, mit all seinen schillernden Möglichkeiten, wir haben es, wie man sagt, «hinter uns». Hinter uns aber haben wir auch die Qual der Wahl. Hinter uns haben wir auch die Angst, uns zu täuschen, die falsche Entscheidung zu treffen. Denn es erweist sich jetzt die getroffene Entscheidung, auch wenn sie retrospektiv als falsch erkannt wird, als die einzig richtige. Das Kriterium der Entscheidung ist eben, dass wir sie treffen konnten. Eine andere Entscheidung wäre bei den gegebenen Umständen, aus subjektiven und objektiven Gründen, unmöglich gewesen.

 

Der Tod als das Monstrum, der Tod der tausend Möglichkeiten, erweist sich als das einzige Auge, das so etwas wie Zukunft überhaupt noch sehen kann. Und im Gehen und Eilen unseres Lebens eilen wir von Tod zu Tod, von Ende zu Ende, von Endgültigkeit zu Endgültigkeit, was mit sich bringt, dass der wirkliche Tod, der physische, den Heidegger meint, fast keine Bedeutung mehr hat: er wird zu einem Zufall, der früher oder später eintreten kann. Er hat nichts zu tun mit Ziel und Entscheidung, hat nichts zu tun mit dem «tausendäugigen Monstrum», das da heisst Zukunft. Wer aber zurückblickt auf das tausendäugige Monstrum, sieht keine Zukunft, ja nicht einmal die Vergangenheit. Ihn trifft das Los der Frau Lots in der Bibel, die sich umsah und nicht umsehen sollte. Er wird zu Stein erstarren, was bedeutet, dass er unfähig wird, für und auf die Zukunft hin zu handeln. Denn nicht die tausend Augen blicken in die Zukunft, sehen sie, sondern nur das eine, das einzig übrig gebliebene.

 

Der Mensch ist reich an Möglichkeiten, arm an Wirklichkeiten. Die Wirklichkeit ist der Tod der Möglichkeit. Das Ende und die Endgültigkeit der Möglichkeiten ist das eine Auge der Wirklichkeit. Es macht uns tüchtig und rüstig und schliesst uns das Schloss der Zukunft auf, die die unsere und nur die unsere sein kann. Denn das tausendäugige Monstrum, das als die Zukunft und ihre mannigfache Verheissung auftritt, ist das tausendfältige Monstrum des Kollektivs. Von jedem einzelnen aber auch des Kollektivs gilt, dass seine Zukunft nur ein einziges Auge besitzt.

 

 

IST DER STUHL NOCH IM ZIMMER? Stellen wir uns vor, ein Mensch sitze auf einem Stuhl in einem Zimmer ganz allein. Nun erhebt er sich vom Stuhl und verlässt das Zimmer. Ein Naturwissenschafter von der klassischen Denkweise etwa eines Konrad Lorenz würde sich über die blosse Frage entrüsten. Natürlich ist der Stuhl noch im Zimmer! Genau gleich und mit den genau gleichen Eigenschaften wie im Augenblick vorher, als der Mensch noch auf dem Stuhl sass. Der Naturwissenschafter glaubt eben an eine vom Menschen, genauer: vom Subjekt der Erkenntnis unabhängige Realität. Der Stuhl ist da, der Mensch ist da (oder auch nicht da). Die erkenntnistheoretisch wirksame Beziehung zwischen Stuhl und Mensch besteht einzig und allein darin: der gesehene oder der ungesehene Stuhl wird erkannt als Objekt der Erkenntnis. Aber ist dem wirklich so? Natürlich hat der Wissenschafter recht. Der Stuhl ist noch da im Zimmer, so wie er da war, als der Mensch auf ihm sass, bevor dieser das Zimmer verliess. Und doch ist ein Unterschied festzustellen. Einerseits ein subtiler, andererseits ein geradezu elementarer. Der subtile Unterschied: es kommt darauf an, wer oder was im Zimmer mit dem Stuhl zusammen eine Zimmergemeinschaft bildet. Der elementare Unterschied: nicht nur die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt bildet eine Relation, an welcher das Subjekt (beispielsweise der sitzende Mensch) oder auch das Objekt (der Stuhl, auf dem der Mensch sitzt) beteiligt sind. Es gibt kein einziges Ding in der Welt, das ohne Relation Ding wäre. Alle Dinge im ganzen Universum hängen von allen Dingen im ganzen Universum ab und hängen mit ihnen zusammen. So auch unser Stuhl. Nennen wir Beispiele. Zuerst ein organisches, dann ein anorganisches. Die Abwesenheit des Menschen benützend krabbelt eine Maus aus ihrem Loch und springt auf den Stuhl. Und schon hat sich etwas verändert. Der Stuhl steht nun nicht mehr in einer Beziehung Mensch-Stuhl, sondern in der andern Maus-Stuhl. Dann die anorganischen Beispiele. Der Stuhl steht auf dem Boden des Zimmers. Der Boden ist in den Mauern des Hauses verankert. Diese wieder stehen auf den Fundamenten. Und Stuhl wie Boden, Mauern und Fundamente des Hauses unterliegen der Gravitationskraft. Das ist nun keine menschlich-erkenntnistheoretische Beziehung mehr, schon deshalb (aber nicht nur deshalb), weil die Physik auch heute noch nicht eigentlich weiss, was Gravitationskraft ist. Der Stuhl «weiss»es. Auf seine Weise, eine Weise seiner Relation zum Boden, zum Hause, zur Erde, zum Weltall. Denn er unterliegt ihrer «Erfahrung», wenn man so will. Er erfährt etwas, was wir so nicht erkannt haben und so nie erkennen werden, denn «Physik» gibt es zwar im menschlichen Gehirn, aber nicht in der Natur. Dann wäre auch die mikrophysikalische Beziehung zu nennen. Sie bringt mit sich die milliardenfache Beziehung von Molekülen, Atomen, Partikeln, die im «innern» des Stuhls ihr Wesen treiben. Diese Beziehung wird vom Menschen nicht wahrgenommen, wenn er den Stuhl betrachtet. Damit diese Beziehung wichtig wird und ihre Rolle unabhängig vom Menschen spielt, muss der Mensch erst das Zimmer verlassen. Dann, erst dann wird das Zimmer zum «Königreich» des Stuhls.

 

 

A MOVEABLE FEAST. Wie bleibt man Philosoph? Ein ganzes langes Leben lang? Durch das Vorherrschen der organisch-organologischen Schicht, die philosophisch bestimmt ist. Sie ist das erste «Werk» des Menschen. Daraus erst können Werke im konventionellen Sinne entstehen. Dieses erste Werk ist nicht Philosophie, ist nicht Literatur, aber die Voraussetzung jeglichen literarischen philosophischen Werkes. Ohne es wäre das Verhalten des Sokrates vor seinen Richtern, wären seine Reden vor seiner Hinrichtung inmitten seiner Freunde völlig unverständlich. Ohne es könnte man sich auch Platon nicht erklären, der die organisch-organologische Schicht des Sokrates, das sokratische Leben und Sprechen in die organologisch--organismische Schicht übersetzte, schliesslich in die organismische Schicht in das literarische Werk (Dialoge), wobei zu bemerken ist, dass auch Platon ein gesundes Misstrauen empfand gegen das «bloss» literarische Philosophieren, gegenüber der Schicht des «bloss» Organismischen, des Geschriebenen. Er zog dem geschriebenen Wort das gesprochene, den Dialog vor, welcher der mittleren, der organologisch-organismischen Schicht angehört. Ohne den ständigen Durchbruch, Ausbruch des vulkanischen Inneren der philosophischen, eben der philosophisch bestimmten organisch-organologischen Existenz, die tief im Körper des Philosophen wurzelt, kann man sich eine lebenslange philosophische Existenz nicht vorstellen, ja nicht einmal eine zeitweilige. Dieses unterliegende philosophische Leben ist immer vorhanden, auch wenn der Philosoph im konventionellen Sinne nicht mehr Philosoph ist. Sie kann sich manifestieren in seinem Stehen, Gehen, Sitzen, Liegen, in seinem Blick zum Himmel, in seinem Blick zur Erde, sie ist, mit Hemingway zu reden, A MOVEABLE FEAST, ein ständig bewegtes und bewegendes Fest.

 

 

DER LEICHTSINN IM UNGLÜCK. Das Unglück verrückt zuerst nur die Werte, die man als positiv sah. Aber im Rücken dieser Entwicklung findet ein immer bewussterer Anpassungsprozess statt. Die Werte des «Glücks» werden relativiert. Und immer mehr Unwerte, die vorher als Unglück erschienen, gelten nun als Werte. Es ist der Anpassungsprozess des Lebens selbst. Das Leben muss weitergehen. Es kann aber weitergehen nur unter der Voraussetzung einer «Umwandlung» der Werte. Umwandlung der Werte? Es entsteht ein neues Wertuniversum. Es entsteht eine neue Dynamik der Werte, ihrer Kräfte, ihrer Mächte. Was uns vorher unwesentlich dünkte, trifft nun plötzlich in den Mittelpunkt einer Funktion der Vorstellung von Werten. Diese Umwandlung der Werte, sie kann einen historischen, sie kann einen individuellen Charakter haben. Das Christentum brachte eine gewaltige Umwandlung der Werte gegenüber dem Heidentum, die Nietzsche nicht entgangen ist. Entgangen ist ihm aber weitgehend die individuelle Umwandlung der Werte, die unser Thema ist, weil er weltgeschichtlich dachte und an den Säulenträgern der Menschheit orientiert war, nicht an der Menschheit. Denn diese ist es schliesslich, welche wirklich Geschichte macht, sie ist der «grosse Holzstoss», an welchen, Nietzsches eigenes Gleichnis zu verwenden, der Säulenträger die schwache Flamme seines Brennholzes legt. Brennt es oder brennt es nicht, nämlich aus der Sicht der nicht vollendeten, noch nicht übersehbaren Geschichte gesehen? Wenn der Holzstoss nicht Feuer fängt, hat der Säulenträger versagt, ist das Individuum mit seinem Werteuniversum isoliert geblieben. Seine Umwandlung der Werte hat sich als nicht übertragbar erwiesen. Und Säulenträger der Menschheit ist immer zuerst das Individuum, dessen eigentümliche Welt der Werte Nietzsche weitgehend ignoriert, denn sie wird ihm verdeckt durch den Schwung seines weltgeschichtlichen Enthusiasmus einer post festum erfassten und interpretierten Geschichte. Seine Geschichte kennt kein «Vorher», sondern nur ein «Nachher», ähnlich übrigens wie diejenige Hegels. Sie ist par excellence historia triumphans.

 

Der Leichtsinn im Unglück ergibt sich aber gerade aus der Umwandlung der Werte. Man nimmt auf die leichte Achsel, was vorher schwer drückte. Man entdeckt neue Satisfaktionen und Faszinationen, neue «Glückssträhnen des Glücks» die vorher unbekannt waren. Die antiken Lebensphilosophen waren Meister der Verschiebung der Gewichte und Akzente des Glücks. Deshalb waren sie seit zweieinhalb Jahrtausenden die eigentlichen Existenzphilosophen. Sie lebten ihre Philosophie, sie lebten ihre Existenz. Die modernen «Existenzphilosophen», die eigentlich den Namen nicht verdienen, sehen nur von aussen her, beschreiben nur, ohne eigentliche praktische Verpflichtung, was Existenz sei. Sie bleiben, im Widerspruch zu ihrer Devise, der Theorie verhaftet, also der Essenz, nicht der Existenz. Es ist der Widerspruch, den sie auf die Spitze treiben: «die Essenz der Existenz».

 

 

BLICK EINER FRAU. Er ist das Zeugnis eines uralten Selbstverständnisses und Einverständnisses zwischen den Geschlechtern. Eine ehrwürdige Zauberformel, ein Zeugnis phylogenetischen Ursprungs. Warum spreche ich nicht vom Blick des Mannes? Weil es die Frau ist, die wählt und auswählt, schon bei den Weibchen der Tierwelt. Man könnte von einem kosmischen und kosmologischen Einverständnis sprechen - das Einverständnis des Mannes vorausgesetzt -, zwei Sterne ziehen sich an. Es ist die Gravitation des Geschlechts. Es geht vielleicht nichts über diese Bestätigung hinaus, Bestätigung des Lebens, Bestätigung des Daseins. Es wurde gewählt, auserwählt. Ein Blick eröffnet sich in die Eternität der Fortpflanzung. Der Blick einer Frau. Er eröffnet die phylogenetische Perspektive nach hinten, in die Vergangenheit, die phylogenetische Sicht nach vorn, in die Zukunft. Die Menschheit wächst mit und aus diesen Blicken. Diese Blicke, sie gehören nicht der Geschichte an und gehören doch zur Geschichte. Sie gehören der Ontogenese nicht an, sind aber doch deren notwendige Voraussetzung. In dem Blick einer Frau, mag er auch noch so vergeblich sein wie ein Senfkorn, das nicht aufgeht, beginnt der Embryo zu leben, hat seine Entwicklung schon begonnen mit dem Augenkontakt, dem leidenschaftlichen. Dass man diesen Teil der Geschichte noch nicht erkannt hat, nämlich eben den Punkt, den wahrhaftigen Brennpunkt, wo Naturgeschichte, in Gestalt zweier Organismen, von denen der weibliche gegenüber dem männlichen der bestimmendere ist, in die Geschichte hineinwirkt, ja, sie immer wieder neu belebt und körperlich-ideell beeinflusst, hängt mit der Trennung von Naturgeschichte und Geistesgeschichte zusammen. Sonst würde man erkennen, dass Geschichte, Geistesgeschichte embryonal beginnt, mit dem brennenden, manchmal überwältigenden, ja als gewalttätig empfundenen Blick der Frau, die ihre Wahl getroffen hat mit einem Blick, der wie ein Pfeil, noch zitternd vor Kraft, in der Scheibe steckt.

 

 

DAS GENIE UND DAS GEWÖHNLICHE LEBEN. Was wäre das Genie ohne das gewöhnliche Leben? Es wird getragen von ihm, trägt es aber auch. So hoch man die Verwandlungskunst des Genies einschätzen mag, vor allem in Kunst und Literatur (die Wissenschaft ist eine Spezies für sich), so wird es nie gelingen, das gewöhnliche Leben, den Alltagsmenschen, einfach als das «Material» zu bewerten, das dem Genie für sein Werk als «Rohstoff» dient. Denn der «Rohstoff» hat es in sich. Schon Schopenhauer, den man wahrhaftig nicht als einen «Populisten» verschreien kann, machte die Bemerkung, dass jeder Mensch, ganz ohne Unterschied, sein eigenes Leben zu leben habe, dass er in dieser Hinsicht geradezu gezwungen sei, «originell» zu sein. Da nützt kein Buch, da nützen keine Vorschriften, keine allgemeinen Regeln. Die tiefgehende Originalität des gewöhnlichen Lebens hat von jeher die Realisten unter den Autoren begeistert und bezaubert. Kein Gedanke mehr an den «Rohstoff», sondern vielmehr die Einsicht, dass da ein «Superpoet» am Werke sei, dem nachzueifern gelte, dass das «Werk der Werke» aber nie erreicht werden könne, sondern nur ein schwacher Abglanz davon. Was man so abschätzig als «Rohstoff» bezeichnet, ist das «erste Spiel», vor dem kein Vorhang aufgeht, bei dem kein Publikum applaudiert. Dessen Darstellung, das Werk des Genies, ist erst das «zweite Spiel». Da fehlen Vorhang und Applaus nicht. Und doch ... Können diese Theaterrequisiten und Theatererfolge letzthin befriedigen? Shakespeare, eines der grössten Genies, wusste genau um die Problematik des «zweiten Spiels». Es fallen in seinem Werk einige sehr bittere Bemerkungen, die den Poeten fast wie einen Clown erscheinen lassen. Birgt Shakespeare, der trotz Falstaff und seinen Spiessgesellen sein Leben als umsichtiger, sparsamer und zurückhaltender Rentner beendet hat, ein Geheimnis in seiner Brust? Eine unbeantwortete und unbeantwortbare Frage. Jedenfalls ist der Unterschied zu Goethe bemerkenswert, der das «zweite Schauspiel» zum «ersten» gemacht hat.

 

 

DIE SOUVERÄNITÄT DES EGO UND DAS GEHIRN. Dass unsere Gedanken «Gehirngedanken» sind, wurde bisher in unserer Erkenntnistheorie zu wenig berücksichtigt. Damit soll nicht behauptet werden, dass unsere Gedanken ganz einfach als Hirnereignisse aufzufassen sind. Sie sind mehr als das. Sie besitzen ihre eigene Souveränität als Denkereignisse. Aber als Denkereignisse sind sie auch nicht unabhängig von den Hirnereignissen. Die « Reinheit» des Cogito, dem es um die Wahrheit und nur um die Wahrheit geht, gibt es nicht. Vielmehr steckt und steht das Cogito in den biologischen Gründen und Untergründen der Hirnereignisse, allerdings ohne mit ihnen identisch zu sein. Die Denkereignisse ruhen auf der neuralen Wirksphäre, auf der vereinigten Aktion, vom physiologischen Ursprung her gesehen, des Stammhirns, des Zwischenhirns und des Grosshirns. Das Stammhirn reguliert die innerleiblichen Vorgänge wie Kreislauf und Atmung, das Zwischenhirn bestimmt und gestaltet durch die Ausschüttung von Hormonen die Verhaltensformen (Beispiel: Sexualtrieb), das Grosshirn ist das eigentliche Reflexionsorgan, das aber nie tätig sein kann ohne den Einfluss der anderen Ebenen der neuralen Wirksphäre, eben des Stammhirns und des Zwischenhirns. Es könnte vielleicht absurd erscheinen, wenn man die These aufstellt, dass ein Gedanke, um den das Grosshirn kämpft, der der reinen Wahrheit und nur der reinen Wahrheit gilt, nicht zustande kommt ohne die durch das Grosshirn reflektierte Mitwirkung des Stammhirns und des Zwischenhirns. Aber die Hirnereignisse agieren immer total, als Ganzes, so agieren auch die Denkereignisse immer total, als Ganzes. Nehmen wir als Beispiel den Einfluss des Stammhirns, das unmittelbar die Existenz, das Überleben des Körpers sichert. Das Stammhirn denkt nicht, mindestens nicht im Sinne des Grosshirns. Aber seine Einflüsse sind in der Überlegung des Grosshirns mit anwesend, denn auch diesem geht es um das Überleben. Beispielsweise um den Einfluss in der Aussenwelt, aber auch um logische Folgerichtigkeit. Dasselbe gilt für die Einflüsse des Zwischenhirns, das etwa durch den Sexual- oder den Gemeinschaftstrieb die Verhaltensformen der Gesellschaft mitgestaltet - auch diese Sorgen und Aufgaben werden in den Gedanken des Grosshirns mit anwesend sein. Aber auch dem Grosshirn kommt sein Anteil zu. Seine grosse Bedeutung besteht gerade darin, die Erkenntnis der «reinen Wahrheit» zu retten gegen die Einflüsse des Stämmhirns (Selbsterhaltungstrieb) und des Zwischenhirns (sexuelle, gesellschaftliche, politische, staatliche Bindungen, Bindungen des Gemeinschaftstriebs ganz allgemein). Dieser Kampf wurde mit beträchtlichen Folgen in der Geschichte durchgeführt. Aber als «Dialektik» in dem Sinne, dass sich die «reine Wahrheit» insofern als bedingt erweist, als sie den Einflüssen der stammhirnlichen und zwischenhirnlichen Einwirkung nicht ganz entgeht. Man könnte sogar sagen, sie wäre ohne diese Einflüsse eine Illusion, eben die Illusion der «reinen Wahrheit», denn Wahrheit auf der Basis der neuralen Wirksphäre ist nur denkbar als gemeinsame Schöpfung, an welcher...

 

(bricht ab)

 

Erschienen in: Einspruch, Nr. 6/ Dezember 1987, 49-53.

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