Philosophie - Ende? Anfang?
Hans F. Geyer
Wieder ein Anfang der Philosophie
(Aus dem Nachlass)
1. In diesen Dingen muss man so philosophieren, wie wenn noch keiner vor uns
philosophiert hätte.
2. Wie wenn
die Sonne des Denkens gerade jetzt am Horizont aufgegangen wäre (Jakob Böhmes
«Aurora»).
3. Es ist die Stimmung des Heureka.
4. So wie wir sie bei den Vorsokratikern finden und später am reinsten wohl bei
Descartes.
5. Die Beziehungen zur denkerischen Tradition stellen sich nachher ein.
6. Ihre
Zahl ist Legion.
7. Denn die Wahrheit kann nicht verborgen bleiben.
8. Sie wird immer, so oder so, gesehen.
9. Aber eben nicht von diesem
Standpunkte aus, den es zu erarbeiten gilt.
10. Es ist der Standpunkt des menschlichen Körpers und der Ungebrochenheit
seiner Triebe und Antriebe.
11. Neue Begriffe zu erarbeiten: es ist, wie wenn man durch härtestes Urgestein
durchbrechen müsste.
12. Die Vorstellung der Gespaltenheit des menschlichen Körpers.
13. Sie war schon sehr früh wirksam. 14. Ihr religiöser Ursprung.
15. In der religiösen Sicht war der Mensch kein Tier mehr, sondern ein
besonderes Wesen mit besonderm Ursprung.
16. Diese Sicht hatte philosophische und wissenschaftliche Konsequenzen.
17. Es entstand einerseits der Mythos von der «reinen Erkenntnis».
18. Es entstand andererseits der Mythos von den tierischen Trieben des
menschlichen Körpers, denen die geistige Verzichtaskese gegenüberstehen sollte.
19. Die Gespaltenheit des menschlichen Körpers in Körper und Geist führte auch
zu einer Gespaltenheit seiner Psychomotorik.
20. Diese ihrerseits bewirkte die Trennung von Tierleib und Kulturleib des
Menschen.
21. Der Kulturleib wurde für sich begriffen, «enthoben» dem Tierleib.
22. Der Tierleib wurde für sich begriffen, abgesetzt vom Kulturleib.
23. Das bewegende Prinzip der menschlichen Seele, die Psychomotorik, trat
auseinander als Psychomotorik des Tierleibs und des Kulturleibs.
24. Der Schöpfungsakt Gottes.
25. Wie wirkte er sich aus?
26. Die Welt wurde getrennt von ihrem schöpferischen Prinzip.
27. Die Welt wurde immanent, das schöpferische Prinzip transzendent begriffen.
28. Ebenso wurde und wird der Tierleib immanent. der Kulturleib transzendent
begriffen.
29. Dasselbe gilt für die tierleibliche und kulturleibliche Psychomotorik.
30. Der kulturleiblichen Psychomotorik wurde die tierleibliche Basis entzogen.
31. Ebenso die Motivation der tierleiblichen Lust.
32. Die zuerst religiöse, dann philosophische, endlich wissenschaftliche
Entstellung brachte es zuwege: die Lust des Kulturleibs war keine ursprüngliche
Lust mehr.
33. Sie
war nicht mehr die Lust des in den Kulturleib verwandelten Tierleibs.
34. Sie
wurde degradiert zu einer Art «himmlischen», zu einer Art Anti-Lust der Lust des
Tierleibs. Es ist etwa die Lust des Freudschen «Über-Ich», das der Bibel und dem
Schöpfungsakt Jahwes recht viel verdankt.
35. Man verfolge die Säkularisierungen der religiösen Spaltung.
36. Für die philosophische wurde die Anti-Lust des Kulturleibs zum abgetrennten
Wahren. Guten und Schönen.
37. Für die Wissenschaft wurde sie zur abgetrennten Objektivität.
38. Eine Objektivität des «Lehrbuchs» (Thomas S. Kuhn). Eine Objektivität
entzogen sowohl der tierleiblichen wie der kulturleiblichen Evolution.
39. Eine Objektivität entzogen sowohl der tierleiblichen wie der
kulturleiblichen Empfindung.
40. Eine Objektivität entzogen sowohl der tierleiblichen wie der
kulturleiblichen Lust.
41. Schön
ist, was ohne Interesse gefällt.
42. Wahr ist, was ohne Interesse gefällt.
43. Gut ist, was ohne Interesse gefällt.
44. Wo bleibt die Empfindung, wo die Lust?
45. Sie werden geleugnet oder gleichsam in den Himmel hinauf oder ins Jenseits
hinüber «geschossen».
46. Die Unschuld der Schöpfung.
47. Die nicht kontaminierte Kreation.
48. Die Engelsgestalt des Wahren.
49. Die Engelsgestalt des Guten.
50. Die Engelsgestalt des Schönen.
51. Der rote Faden der Säkularisierung beginnend mit der Religion, sich
hindurchziehend durch Philosophie und Wissenschaft.
52. Das Wahre. Gute und Schöne wurde der Evolution «enthoben» (verabsolutiert).
53. Es
wurde von der Geisteswissenschaft in die «Geschichte» katapultiert.
54. Als
das «Ganz Andere».
55. Und die Naturwissenschaft liess es zu.
56. Denn was brauchte sie die Geisteswissenschaft zu kümmern?
57. Lust und Empfindung des Tierleibes wurden perhorresziert.
58. Die Psychomotorik des Wahren, Guten und Schönen?
59. Sie geschah durch die Bastardisierung von Lust und Empfindung.
60. Durch eine Anti-Lust und Anti-Empfindung.
61. Man könnte es auch eine Pervertierung von Lust und Empfindung nennen.
62. Eine Lust und eine Empfindung, die sich selbst nicht wahr haben wollten.
63. Eine Lust, eine Empfindung, ein Trieb.
64. Der Trieb als platonischer Eros mit
Einsicht verbunden.
65. Die spekulativen
Konsequenzen. Aber Spekulationen nun zum erstenmal auf den Körper
gegründet, der den Geist umgreift. Und auf die Empfindung. Und auf die Lust. Und
auf den Trieb. Den Trieb des Geistes.
66. Der Geisttrieb wurde geleugnet, weil man die Art der Hemmung
missverstand, die dem Geist innewohnt. Es ist nicht die Hemmung des Geistes,
sondern die Hemmung der übrigen Triebe und Antriebe. Die Hemmung auf der Seite
des Geistes ist selbst positiver
Trieb, negativer Trieb nur gegen die andern Triebe.
67. Das richtige Denken des Geistes? Es wird gesteuert durch Empfindung. Durch
Lust. Und durch den Trieb. Sie alle stehen der Wahrheit nicht im Wege. Denn die
dargestellte Wahrheit ist nie einfach Wahrheit. Sie ist die Wahrheit dieses
Geistes. Von dessen Individualität. Von dessen Endlichkeit. Das gilt auch
für das Gute und Schöne.
68. Empfindung, Lust, Trieb sind die hegenden Mauern, die den Weg eingrenzen,
der hinführt zur Objektivierung dieses
Wahren, dieses Guten, dieses Schönen.
69. Die Endlichkeit, die Individualität, sie haben je ihre Empfindung, ihre
Lust, ihren Trieb und Antrieb.
70. Der Vorstellung von wissenschaftlicher Objektivität liegt die andere
Vorstellung der die Individualität sprengenden Unendlichkeit Gottes zugrunde.
71. Die theologisch unterwanderte Erkenntnistheorie.
72. Auch dann noch, wenn, wie bei Popper, der Ansatz bescheiden ist.
73. Denn die Erkenntnis als Tätigkeit wird nicht eingeordnet in den
tierleiblich-kulturleiblichen Prozess der Evolution.
74. Erkenntnis als die sich über sich selbst beugende Evolution, die Evolution
bleibt.
75. So wie der menschliche Körper. der, empfindend und fühlend. sich selbst
erfährt und doch durchaus menschlicher Körper bleibt.
76. Der sich also nicht, weil ihm das Auge der Erkenntnis aufgegangen
ist, in einen himmlischen Körper verwandelt.
77. Was halten wir von der Religion?
78. Die Religion, nicht als historische Realität, wohl aber als Potenz,
umfasst alles, was den Menschen vom Tier unterscheidet.
79. Sie ist der Ursprung von Philosophie, Wissenschaft und Kunst und ebenfalls
der praktischen Disziplinen. Sie erhält sich durchaus in ihnen.
80. Die Bedeutung der Religion wurde bisher nicht begriffen.
81. Vor allem nicht von den Theologen.
82. Die Religion erkannt als das sehende Auge der Evolution, das sich über den
menschlichen Körper beugt.
83. Die Religion als der Trieb und der Geisttrieb, die Lust und die Empfindung,
die sich als solche in diesem
Blick und Augenblick über den menschlichen Körper beugt und ihn erotisch
erkennt.
84. «Erkennen» biblisch zugleich als Zeugungs- und Schöpfungsakt verstanden.
85. Der tiefste Sinn des Schöpfungsmythos: Gott «erkannte» sich in dem, was er
schuf, in der Welt und im Menschen.
86. Die Evolution erkennt die Evolution.
87. So begriffen ist Religionsphilosophie Evolutionsphilosophie.
88. Die Religionsphilosophie als Evolutionsphilosophie ist die am meisten
spekulative Philosophie.
89. Sie ist auch die am meisten rationale Philosophie.
90. Warum?
91. Weil sie und nur sie die Partialgebiete der Rationalität, wie sie die
Wissenschaften eröffnen, umgreifen kann.
92. Die Rationalität des Ganzen wie auch die Rationalität
der Partialgebiete hat die Funktion der Endlichkeit, der Individualität und des
Prozesses. Der Prozesse verstanden als Trieb, als suchender, erkennender,
einsichtiger Trieb, als Geisttrieb, dessen Einsicht den Charakter des
platonischen Eros hat.
93. Das Fundament des Geisttriebs?
94. Die Liebe.
95. Am schwersten wohl fällt die Erkenntnis, dass es der Trieb, der Geisttrieb
ist, der die Einsicht überhaupt möglich macht.
96. Warum ist das so?
97. Der Trieb. verstanden als Prozess. wird selbst zum Sehen, wird sehend.
98. So wie der Trieb, als Prozess der Evolution, zuerst das körperliche Auge
hervorgebracht hat, so bringt seine Fortsetzung, seine schöpferische
Metamorphose, der Geisttrieb, das geistige Auge hervor - eben die Einsicht («la
fonction crée l'organe»).
99. Das Sehen ist Sehen des Wahren, unbeschadet seines Triebcharakters.
100. Jede mögliche Erkenntnis ist vorläufig.
101. Denn sowohl die spekulative wie die partiale Vernunft unterliegen den
Gesetzen der Endlichkeit und Individualität.
102. Ihre Erkenntnisse können nur pragmatisch verstanden und interpretiert
werden.
103. Sie werden an ihren Früchten erkannt.
104. Die absolute Vernunft und das Absolute sind nur deshalb absolut, weil sie
auch relativ sind.
105. Die
Vernunft ist Prozess.
106. Das bedeutet, dass sie Lust, Trieb, Empfindung und progressive Einsicht
ist.
107. Einsicht auf der Spitze der Liebe.
108. Wissenschaft ist das getragene, vom Körper getragene Auge.
109. Und nun will das Auge nichts mehr von seinem Körper - von seinem aus der
Evolution hervorgegangenen «wissenschaftlichen Körper» - wissen.
110. Einsicht ist nicht der sehende, aber gelähmte Intellekt Schopenhauers, der
von einem kräftigen, aber blinden Willen getragen wird. Der Intellekt ist
vielmehr wollender Intellekt, der Wille einsichtiger Wille, so wie das
Sehen sehender Trieb, der Trieb triebhaftes Sehen ist.
111. Religion ist Prozess («Kontinuum der Offenbarung»).
112. So wie Philosophie, Wissenschaft, Kunst und die praktischen Disziplinen
Prozess sind.
113. In einem bestimmten Sinne ist alles Religion.
114. Warum?
115. Weil alles Trieb ist, sehender Trieb.
116. Trieb des «getragenen Auges».
117. Drei Grundtriebe lassen sich beim Menschen noch deutlich feststellen: der
Nahrungstrieb, der Geschlechtstrieb, der Geisttrieb.
118. Es verbindet sie die platonische Methexis.
119. Der Geisttrieb hat an den beiden andern Trieben teil, sie an ihm.
120. So
entstand der platonische Eros, zugleich irdisch und himmlisch strebend, zugleich
auf Venus Anadyomene und Venus Urania hin geordnet, die Seele des aufrechten
Ganges, des Menschen, der, das Haupt zu den Sternen erhoben, auf der Erde
schreitet, dort immer wieder festen Tritt fassend.
121. Wer aber das Himmlische will, der darf auch das Irdische nicht leugnen.
122. Warum die Angst vor den Organen?
123. Es ist auch die Angst des Wissenschaftlers, der sich im
organismischen Denken nicht genug tun kann, der aber doch vor dem letzten
Schluss zurückschreckt.
124. Er möchte gleichsam nur Sehen sein, nicht auch Auge.
125. Und so wehrt er sich gegen den Schluss vom Geisttrieb auf dessen Organ.
126. Was ist ein Trieb?
127. Ein
Unfassbares.
128. Aber er hat eine «Erde», aus der er spriesst wie eine Pflanze.
129. Die «Erde» der ersten beiden Grundtriebe sind die Verdauungs- und die
Geschlechtsorgane.
130. Welches nun ist die «Erde» des Geisttriebs?
131. Das Grosshirn.
132. Von diesem Schluss könnte ich, mit Nietzsche, sagen: Ich zog ihn. Nun zieht
er mich.
133. Es ist natürlich, dass die elementare Wirklichkeit, die
Triebwirklichkeit des Geistes und sein organismisches Fundament, zuletzt
erkannt werden.
134. Dass man in den Sternen nach ihm suchte.
135. Und
nicht auf der Erde.
136. Die Triebe, diese unfassbaren Wesen, sie sind die «Satelliten» des
menschlichen Körpers.
137. Seele und Geist?
138. Sie sind Satelliten des Körpers.
139. Sie umkreisen ihr Muttergestirn bald näher, bald ferner.
140. Aber mag das Fernweh sie noch so weit mit fortreissen, mag Venus Urania in
ihnen noch so mächtig sein, die intellektuelle Redlichkeit fordert die
Erkenntnis: es gibt diese Anziehungskraft.
141. Es gibt deren Gravitationszentrum.
142. Es gibt das Organ.
143. Geleugnet bis heute auch von der Organwissenschaft.
144. In deren Materialismus steckt mehr Idealismus, als sie sich träumen lässt.
145. Ihr Materialismus und ihr Idealismus stehen in einem höchst komplexen
Zusammenhang.
146. Es gibt deren nicht nur einen, sondern mehrere.
147. Ihr Materialismus will die Himmelsträchtigkeit der Erde nicht.
148. Ihr Idealismus nicht die Erdenträchtigkeit des Himmels.
149. Himmel und Erde vereint: wir finden sie im tierleiblichen und
kulturleiblichen menschlichen Körper.
150. Den es noch zu erobern gilt.
151. In der Theorie und in der Praxis.
152. Im Sehen und im Tun.
153. Zuletzt wendet sich das Auge des Geistes auf den Geist selbst zurück.
154. Und er erkennt sich als Erde.
155. Und er erkennt sich als Himmel.
156. Und er erkennt sich als Organ.
157. Und er erkennt sich als Trieb.
158. Um der wahren Theologie willen muss die falsche ausgetrieben werden.
159. Aus Religion, Philosophie, Wissenschaft, Kunst und der ganzen Praxis, die
der Mensch, als Wille und Vorstellung, lebt und webt.
Erschienen in: Einspruch, Nr. 24/ Dezember 1990, 13-15