Lebendige Bibel
Zu einem neuen Buch von Erich Brock
Erich Brock: «Die Grundlagen des Christentums» (Francke-Verlag, Bern/
München).
Von Hans F. Geyer
Zürichsee-Zeitung, 29. April 1971
Erich Brocks Buch «Die Grundlagen„ des Christentums» hat eine Architektonik, wie
man sie selten findet. Gleich zu Beginn ein «Doppelgipfel», der - einem
Wagnerschen Leitmotiv zu vergleichen - den ganzen Gang dieser höchst
eindrücklichen Bibelexegese begleite. Es ist die Unterscheidung zwischen zwei
möglichen und wirklichen Gottesbegriffen, die in mannigfachen Abwandlungen im
Alten und im Neuen Testament auftreten, die Unterscheidung nämlich zwischen
einem mehr voluntaristisch-abstrakten und einem mehr natürlich-konkreten Gott,
zwischen einem Gott, der über seine unerforschlichen Ratschläge niemandem
Rechenschaft ablegt und den Menschen mit seiner erschreckenden, oft aber auch
heilsamen Gegenwart gleichsam überfällt, und einem andern Gott, der in die
menschliche Vernunft eingeht, mit dem Menschen spricht, mit ihm argumentiert,
der Unterschied also zwischen einem fernen, durchaus übernatürlichen Gott und
einem Gott, der mehr aus natürlicher Nähe wirkt. Keine Vielgötterei ist damit
gemeint, sondern zwei Aspekte desselben einen Gottes.
Entscheidend für das Urteil über dieses ungewöhnliche Buch ist sicherlich auch
die Höhe, in welcher Erich Brock die Dialektik der beiden Gottesbegriffe
nicht nur lässt und belässt, sondern zu welcher er sie geradezu hinaufträgt,
denn wer sollte diese Höhe menschlich, für uns Menschen leisten, wenn nicht der
Autor selbst? Die Höhe, die die Höhe Gottes ist, muss ja noch gefühlt und
verstanden werden, erst dann hat der Mensch Zugang zu ihr.
Wir haben oben von einem Leitmotiv gesprochen. Machen wir auch gleich, zusammen
mit dem Leser dieser Kritik, die Probe aufs Exempel. Das Buch zerfällt in drei
Teile, betitelt «Das Alte Testament», «Jesus» und «Paulus». In was für einem
Verhältnis steht die geschilderte Dialektik der Gottesbegriffe zu diesen drei
Teilen? Der Gott des Alten Testaments ist wohl am meisten der «Verborgene Gott»,
der Gott, der seine Motive verbirgt, der den Menschen immer wieder überrascht,
erschreckt, ihn aber auch aus der Not, oft der äussersten, rettet. Und doch wäre
es nicht richtig, im Alten Testament nur den «Verborgenen Gott» zu suchen und zu
finden, es gibt dort auch den «Offenbaren Gott», den Gott nämlich, der es
göttlich-menschlich, menschlich-göttlich mit dem Menschen hält und sich mit ihm
unterhält.
Und damit kommen wir zu einem weiteren Gipfel, zu einem weiteren Höhepunkt des
Werkes, nämlich zu dem Abschnitt über das «Buch Hiob». Hier muss, unter
menschlicher Nötigung, der Gott des Alten Testaments «Farbe bekennen», so wie
Hiob, unter göttlicher Nötigung, Farbe bekennt. Es ist ein wundersames, ein echt
dramatisches Wechselspiel von Nachgeben und Vorprellen, Vorprellen und
Nachgeben, wundersam und wunderbar vor allem in der Darstellung Erich Brocks.
Der Autor sagt über das «Buch Hiob»: «Es ist fast ein Wunder, dass uns dieses
Buch überhaupt überliefert worden Ist. Denn es bedeutet eine schneidende
Verurteilung der durchschnittlichen Frömmigkeitsübung und ihres
Gedankengehaltes, wie er zu allen Zeiten von Theologen und vom Volk vorwiegend
angenommen worden ist - und in welchem infolgedessen Lebensinteressen breiter
Massen investiert sind. Dieses Wunder mag am ehesten natürlich erklärt werden
dadurch, dass wir annehmen müssen; die Redaktoren des endgültigen Kanons hätten
sich doch in der Tiefe anrühren lassen durch die unvergleichliche Inständigkeit
des religiösen Fühlens und der ebenso starken Schärfe und Gewalt des religiösen
Denkens in diesem Buch.» (Seite 77).
Es tritt ein Mensch auf, Hiob, dem es gelingt, im Sinn des
natürlich-vernünftigen Gottesbegriffs Gott ins Gespräch zu ziehen, der ihn
befragt, einmal über sein eigenes, existentiell-erfahrenes Elend, dann aber auch
über den Sinn des menschlichen Elends überhaupt, das er, als «Gottesknecht»
stellvertretend erlebt.
Auf dieses Buch des Alten Testaments fällt helles Licht. Aber auch die
Schattenseiten sollen nicht verborgen bleiben. Es ist das uns heute oft
unverständliche Wüten des «Verborgenen Gottes», der sich in seinen Willen
einschliesst, der die Menschen verblendet - so den Pharao Ägyptens -, um die
Macht seiner Wundertaten zu beweisen. Er ist es auch, der, gewissermassen als
«Stammesgott», die Israeliten in Kriege verstrickt, die durchschnittlich mit der
Grausamkeit ausgetragen werden wie überhaupt die Fehden jener Zeit, die aber,
wie der Autor zu Recht hervorhebt, durch den religiösen Fanatismus eine
«theologische Verschärfung» erfahren. Andererseits: wäre ein Gott noch Geist,
ein Geist noch Gott, wenn er ein Geist wäre, wie ihn der Mensch begreift? Auch
dieses Fragezeichen lässt der Autor noch gelten, was für seine umfassende
Sicht des Gott-Mensch Verhältnisse Zeugnis ablegt.
Liegt der Akzent des Alten Testaments eindeutig auf dem «scotistischen»,.auf dem
voluntaristischen Gott, dem Gott des verborgenen Willens, dem Gott der
verborgenen Entschlüsse, der über den Menschen dahinfährt wie ein Unwetter, ein
Unwetter, das aber nicht nur Unheil bringt, sondern auch Heil - das Heil sogar
-, so ist der Gott des Neuen Testaments, durch die Vermittlung Jesu Christi, ein
menschgöttlicher Gott, dem der gottmenschliche Gott des Alten
Testaments seit dem «Buch Hiob» immer dringender ruft. Der Autor betont, dass
Jesus Christus selbst sich nicht als Gott bezeichnet. Die Vergöttlichung Christi
ist eine Folge späteren Dogmatisierens. Jesus Christus hat sich als Messias
gesehen und erlebt. Es war dem Juden jener Zeit durchaus erlaubt, sich einen
Messias zu nennen. Jesus Christus hat damit, auch nach altjüdischer Vorstellung,
seine menschliche Grenze nicht überschritten. Umso eindrücklicher sein Leben,
seine Lehre, seine Mission.
Mit Jesus Christus nehmen die Verheissungen des Alten Testaments, insbesondere
der «Gottesknecht» Jesaias, Gestalt an. Gott zeigt in seinem «Sohn», in Jesus
Christus, seine menschliche Seite, er wird in ihm und durch ihn gewissermassen
erreichbar, im menschlichen Gleichnis ausgedrückt, «vernünftig», «natürlich».
Vieles, was Jesus Christus über die Einhaltung oder Nichteinhaltung der
religiösen Gebote sagt, tönt in unsern Ohren geradezu «modern». War Jesus
Christus ein «Aufklärer»? Das hiesse wohl, in der Rationalisierung und
Verweltlichung der Lehre Christi zu weit gehen. Denn die Dialektik, der
fruchtbare «Streit» der beiden Gottesbegriffe, von denen wir sprachen, bleibt
auch im Neuen Testament durchaus in der Schwebe, wie wir an dem folgenden
Beispiel sehen werden.
Es ist das Beispiel der «Ehebrecherin», in dessen Darstellung und gedanklicher
Durchdringung wir einen dritten Höhepunkt des Werkes erblicken. Der Bruch der
Ehe durch die Frau war für die alten Juden ein todeswürdiges Verbrechen.
Angesichts der Schriftgelehrten und Pharisäer sollte Jesus die Ehebrecherin
verurteilen. «Da bückte sich Jesus nieder und schrieb mit dem Finger auf die
Erde.» (Joh. 8,6). Und er sagte: «Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den
ersten Stein.» (Joh. 8,7). Hier wird offenbar zugleich die menschliche und die
göttliche Seite des einen Gottes, mit dem Akzent allerdings auf dem menschlichen
Aspekt. Jesus verurteilte die Ehebrecherin nicht: der menschliche Aspekt - aber
gerade, weil es dem Menschen nicht zukommt, zu urteilen: der göttliche Aspekt.
So wird deutlich, wie die eine Seite Gottes die andere nicht nur ergänzt,
sondern wie die menschliche Natur die göttliche, die göttliche die menschliche
vertieft, was an einen glänzenden Aphorismus Hegels in dessen «Grosser Logik»
erinnert: der Widerspruch sei es, der in die Tiefe treibe.
Mit Paulus findet, trotz und in aller Christologie, eine
Akzentverschiebung in der Richtung der alttestamentarischen Gottestranszendenz
statt. Paulus war weniger interessiert am menschgöttlichen Leben Jesu,
mehr an seiner gottmenschlichen Existenz. Mit Paulus setzt denn auch der
eigentliche Dogmatisierungsprozess ein - die Vergöttlichung Jesu.
Dieses Werk ist weit mehr als eine blosse Exegese, es ist, in nuce, bereits eine
Religionsphilosophie, die wir, wie wir annehmen, von Erich Brock noch erwarten
dürfen. Dass es dazu komme, gehört zum «Prinzip Hoffnung» des
philosophisch-theologischen Schrifttums unserer Tage.